Sally beobachtete sie weiter durch das Zielfernrohr. Sie war bereit, Tom und den anderen Deckung zu geben.
Ein Soldat stand auf und drehte sich um, um neue Granaten zu holen. Sally zielte auf seinen Brustkorb und legte den Finger auf den Abzug. Der Mann lief los, wich dem Pfeil-hagel aus, entnahm einem Behalter zwei Granaten und kehrte zuruck - er hatte nicht einmal aufgeschaut.
Sally lie? ihren Finger locker. Die Broadbents erreichten nun die Brucke. Sie uberspannte eine zweihundert Meter breite Kluft. Vier geflochtene Hanftaue - zwei oberhalb, zwei unterhalb des Bodens - hielten sie in der Luft und trugen ihr Gewicht. Auf halber Hohe senkrecht zwischen den Tauen verlaufende Seile verliehen dem aus zusammenge-bundenen Bambusstaben bestehenden Boden Stabilitat. Ein Bruder nach dem anderen schwang sich nun unter die Brucke. Sie bahnten sich, seitlich gehend, auf einem der unterhalb verlaufenden Taue einen Weg uber die Schlucht, wobei sie die oberen Seile als Halt verwendeten. Sie waren genau zur richtigen Zeit losgegangen: Aus der Schlucht stiegen starke Dunstschwaden auf, die die Bruder nach funfzig Metern unsichtbar machten. Der Angriff wurde mit Geschrei und Pfeilsalven zehn Minuten lang fortgesetzt, dann kam er allmahlich zur Ruhe. Es war ein Wunder. Sie waren auf die andere Seite gekommen. Der verruckte Plan hatte funktioniert.
Jetzt mussten sie nur noch zuruckkehren.
63
Die wackelige, sich vor Tom erstreckende Bambusbrucke schaukelte scheppernd im Aufwind und lie? Kletterpflanzen und Blattwerk in die riesige, unter ihm gahnende Schlucht hinabbaumeln. Der Nebel war so dicht, dass er kaum sieben Meter weit sah. Der laute Wasserfall hallte wie das dumpfe, ferne Brullen einer wutenden Bestie aus der Tiefe zu ihm herauf. Die Brucke bebte bei jedem Schritt.
Borabay war als Erster losgegangen. Vernon und Philip waren ihm gefolgt. Tom bildete den Abschluss.
Sie gingen seitlich uber das untere Tau, und zwar unterhalb des Bruckenbodens, damit niemand sie sah. Tom folgte seinen Brudern so schnell wie moglich, ohne dabei seine Sicherheit aufs Spiel zu setzen. Der aufsteigende Dunst hatte das Haupttau feucht und schlupfrig gemacht. Der geflochtene Hanf war poros und angefault. Viele der senkrecht verlaufenden Seile waren gerissen, sodass Lucken zwischen ihnen klafften. Bei jedem Windsto? von unten schwankte die Brucke hin und her. In solchen Fallen hielt Tom inne und klammerte sich fest, bis es vorbei war. Er versuchte, nur an den Schritt zu denken, der als nachster kam.
Ein Seil - es war vergammelter als die anderen - loste sich unter seiner Hand auf. Uber dem Abgrund erfasste ihn ein kurzes, grauenhaftes Schaudern, dann bekam er ein anderes Seil zu fassen. Tom hielt an, bis sein Herz wieder nor-
mal schlug, dann ging er vorsichtig weiter. Er uberprufte die Seile, indem er an ihnen ruckte, bevor er ihrer Festigkeit vertraute. Er schaute nach vorn. Seine Bruder waren kaum mehr als im Dunst huschende, ins wechselnde Halblicht des hinter ihnen leuchtenden Scheinwerfers getauchte Schemen.
Je weiter sie sich vorwagten, desto mehr schaukelte und schwankte die Brucke. Der Bambus knackte, die Taue achz-ten und seufzten, als waren sie lebendig. In der Mitte nahmen die Windstromungen zu, wehten nach oben und schuttelten sie durch. Hin und wieder lie? eine heftige Bo die Brucke erzittern und auf beangstigende Weise rucken.
Tom dachte spontan an Don Alfonsos Geschichte uber die bodenlose Schlucht, in der die Abgesturzten sich endlos um ihre Achse drehten, bis sich das Fleisch von ihnen loste und ihre Knochen zu Staub zerfielen. Es schuttelte ihn, und er versuchte, jeden Blick nach unten zu vermeiden, doch um die Fu?e an die richtige Stelle zu setzen, war er gezwungen, in die Schwindel erregende Tiefe zu schauen, aus deren bodenloser Finsternis die Dunstschwaden aufstiegen. Sie hatten die Mitte fast erreicht. Tom sah die Stelle, an der die Brucke den tiefsten Punkt ihrer Krummung erreichte; von da stieg sie langsam wieder an, um auf der anderen Seite der Schlucht zu enden.
Eine au?ergewohnlich heftige Bo wogte zu ihnen hoch und lie? die Brucke plotzlich schaukeln. Tom packte fester zu und ware beinahe abgerutscht. Dann horte er einen gedampften Schrei und sah zwei verfaulte Seilenden, die sich heftig im Aufwind drehten, vor ihm in die Schlucht sturzen. Philip baumelte plotzlich im Nichts; sein Ellbogen war um das Tau geschlungen. Seine Beine drehten sich in der Leere.
Tom ging in die Knie. Er schlang einen Arm um das senkrechte Seil und versuchte, den anderen unter Philips Arm zu schieben. Plotzlich rutschten ihm seine Fu?e davon, und auch er baumelte kurz uber dem Abgrund. Es gelang ihm, sich wieder aufzurichten. Sein Herz hammerte in seiner Brust. Sein Blick umwolkte sich vor Entsetzen. Er konnte kaum atmen.
»Tom«, wurgte Philip. Seine Stimme war so schrill wie die eines Kindes.
Tom machte sich uber Philip auf dem Tau klein. »Schwing dich nach oben«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Du musst mir helfen. Schwing dich hoch. Ich pack dich dann.« Er griff mit einem Arm nach unten und machte sich bereit, Philips Gurtel zu ergreifen.
Philip unternahm einen erneuten Versuch, sich nach oben zu schwingen und das Tau mit den Fu?en zu umklammern, aber er bekam nicht genug Schwungkraft, und sein Bemuhen fuhrte nur dazu, dass er weiter abrutschte. Er stie? einen kurzen Schrei aus, und Tom sah, wie die wei?en Handknochel seines Bruders das Tau eisenhart umklammert hielten. Ein schriller, von Entsetzen kundender Laut drang aus Philips Kehle.
»Probier's noch mal«, rief Tom. »Schwing dich hoch!
Hoch!«
Philips Gesicht verzerrte sich, als er der Anweisung folgte. Tom versuchte, seinen Gurtel zu fassen zu kriegen, doch sein Fu? rutschte erneut ab. Einen entsetzlichen Augenblick lang baumelte sein Bein in der Leere, und er klammerte sich an ein vergammeltes Seil. Dann zog er sich wieder hoch und versuchte, sein wild schlagendes Herz zu beruhigen.
Ein Bambusstuck, das sich durch ihre Aktionen gelost hatte, sturzte sich langsam drehend in die Tiefe, bis es aus seinem Blickfeld verschwunden war.
Philip schwang sich nach oben. Diesmal griff Tom zu. Er klammerte sich mit dem anderen Arm an das verrottete Seil, damit er sich weit genug vorbeugen konnte, um Philips Gurtel zu fassen zu kriegen. Einen Augenblick lang befanden sie sich beide in der Schwebe. Das Seil trug den Hauptteil ihres gemeinsamen Gewichts. Dann zog Tom Philip mit einer gewaltigen Anstrengung hinauf, sodass er auf das Tau sank und es wie einen Rettungsring umklammerte.
Sie verharrten, hielten sich an den Seilen fest. Beide waren zu entsetzt, um etwas zu sagen. Tom horte Philip rasselnd nach Luft schnappen.
»Philip?«, brachte er schlie?lich hervor. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Philips rasselnder Atem normalisierte sich.
»Du hast es geschafft.« Tom wollte den Satz so sachlich wie moglich klingen lassen. »Alles klar. Wir haben es hinter uns. Du bist in Sicherheit.«
Wieder kam eine Bo und lie? die Brucke schwanken. Philip stie? einen gurgelnden Laut aus. Er umklammerte das Seil mit aller Kraft.
Eine Minute verging. Sie dauerte sehr lange.
»Wir mussen weiter«, sagte Tom. »Du musst aufstehen.«
Wieder ein Windsto?. Die Brucke tanzte und wackelte.
»Ich kann nicht.«
Tom verstand, was er meinte. Auch er hatte das dringende Bedurfnis, sich am Haupttau festzuhalten und