Wo er auch aufkreuzte, sturzten die Menschen sich auf ihn, zerquetschten ihm fast die Hand, lobten und bewun-derten ihn. Alle Reichen von New Haven wollten seine Be-kanntschaft machen, ihn zum Abendessen einladen, ihn einsacken und mit ihm angeben, als sei er das Gemalde eines alten Meisters oder ein antikes Stuck Silber. Es war nicht nur abscheulich, es war auch demutigend und teuer. Fast jeder, den er kannte, hatte mehr Geld als er. Welche Ehrungen er auch einheimste, welche Preise man ihm fur seine Monographien verlieh: Er konnte noch immer nicht in einem halbwegs guten Restaurant von New Haven die Puppen tanzen lassen. Andere lie?en die Puppen tanzen. Sie luden ihn zu sich ein. Man lud ihn zu Wohltatigkeitsessen ein, bei denen schwarze Krawatten Pflicht waren und man fur den Tisch bezahlte, an dem man sa?. Man wehrte seine heuchlerisch vorgebrachten Angebote ab, seine Spesen selbst zu tragen. Und wenn alles vorbei war, musste er sich in sein emporend mickriges kleines Eigenheim im Akade-mikergetto verziehen, wahrend sie in ihre Landhauser auf den Heights heimfuhren.

Nun hatte er endlich ein Mittel, dies zu verandern. Clyve warf einen Blick auf den Kalender. Es war der 31. Mai. Morgen war die erste Rate der zwei Millionen fallig, die der Schweizer Pharmakonzern Hartz ihm zahlen wollte. Die kodierte Bestatigung musste bald per E-Mail von den Cay-man-Inseln eintreffen. Naturlich musste er das Geld au?erhalb der Vereinigten Staaten ausgeben. Eine schnieke Villa an der Costiera Amalfitana war bestimmt ein schoner Ort, um es zu deponieren. Eine Million fur die Villa, die zweite Million fur die Spesen. Ravello sollte angeblich sehr reizvoll sein. Er und Sally konnten dort ihre Flitterwochen verbringen.

Er dachte an die Besprechung mit dem Geschaftsfuhrer und dem Hartz-Vorstand. Wie serios alles abgelaufen war.

Wie typisch schweizerisch. Sie waren naturlich skeptisch gewesen, doch nachdem er ihnen die ubersetzte Musterseite vorgelegt hatte, war ihnen das Wasser buchstablich im Mund zusammengelaufen. Der Codex wurde ihnen viele Milliarden einbringen. Die meisten Pharmaunternehmen hatten Forschungsabteilungen, die sich um Eingeborenen-medizin kummerten -aber der Codex war das medizinische Kochbuch, das alles enthielt, und er, Julian Clyve war - von Sally abgesehen - der einzige Mensch auf dieser Welt, der es absolut exakt ubersetzen konnte. Der Hartz-Konzern musste zwar mit den Broadbents eine Vereinbarung treffen, doch als gro?tes Pharmaunternehmen der Welt konnte er naturlich ordentlich was springen lassen. Welchen Nutzen hatte der Codex fur die Broadbents ohne seine sprachlichen Fahigkeiten? Es wurde alles korrekt ablaufen, darauf hatte man bei Hartz naturlich bestanden. So waren die Schweizer nun mal.

Clyve fragte sich, wie Sally wohl reagieren wurde, wenn sie erfuhr, dass der Codex im Maul eines gigantischen mul-tinationalen Konzerns verschwinden sollte. So wie er sie kannte, war sie bestimmt nicht erfreut daruber. Aber wenn sie anfingen, die zwei Millionen Dollar zu genie?en, die Hartz ihm als Finderlohn zugesagt hatte - ganz zu schweigen von der gro?zugigen Vergutung, die er fur die Ubersetzung zu erhalten hoffte -, wurde sie sicher daruber hin-wegkommen. Er wurde ihr zeigen, dass diese Handlungs-weise absolut richtig war, denn Hartz befand sich in der besten Position, um neue Medikamente zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Es war wirklich richtig. Die Entwicklung neuer Medikamente kostete Geld. Niemand entwickelte sie gratis. Profit hielt die Welt in Gang.

Und was ihn selbst betraf: Ein paar Jahre Armut waren ja ganz nett, wenn man jung und idealistisch war, aber sobald man die drei?ig uberschritten hatte, wurde sie unertraglich.

Und Professor Julian Clyve naherte sich rapide seinem drei?igsten Lebensjahr.

58

Nach einem zehnstundigen Marsch in die Berge erreichten Tom und seine Bruder einen kahlen, windigen Kamm. Sie hatten einen atemberaubenden Ausblick auf ein gewaltiges Meer aus Gipfeln und Talern, die sich in abgestuften Vio-letttonen dem Horizont entgegenschraubten.

Borabay machte eine Geste: »Sukia Tara, die Wei?e Stadt.«

Tom kniff angesichts der hellen Nachmittagssonne die Augen zusammen. Etwa sieben oder acht Kilometer vor ihnen, hinter einer Schlucht, ragten zwei Bergspitzen aus wei?em Gestein auf. Dazwischen lag ein flacher Sattel, der an beiden Seiten wegen der tiefen Schluchten unzuganglich und von gezackten Gipfeln umgeben war: Ein einsamer Grunsteifen, ein uppiges Stuck Nebelwald, das den Eindruck erweckte, als sei es irgendwo abgebrochen, erstreckte sich nun zwischen zwei Fangen aus wei?em Gestein am Rand eines Abgrundes schwankend. Tom hatte eine Ruinenstadt mit wei?en Turmen und Mauern erwartet. Doch er sah nichts als einen dichten, wuchtigen Teppich von Baumen.

Vernon hob sein Fernglas, nahm die Wei?e Stadt in Augenschein und gab das Fernglas dann an Tom weiter.

Durch die Vergro?erung wirkte das grune Vorgebirge massiver. Tom suchte es langsam ab. Das Plateau war dicht mit Baumen bestanden. Ein undurchdringliches Dickicht aus Lianen und Schlingpflanzen schien es zu bedecken.

Welche Ruinenstadt auch in diesem seltsamen terrassenar-tigen Tal liegen mochte, der Dschungel hatte sie ausgiebig vereinnahmt. Als er das Gewoge genauer untersuchte, erkannte er hier und da wei?liche Stellen, die sich von der Vegetation abhoben und eine Art Muster auspragten: Ek-ken, durchbrochene Mauerstucke, dunkle Vierecke, die wie Fenster aussahen. Und als er etwas begutachtete, das er fur einen steilen Hugel hielt, begriff er, dass es sich um die Ruine einer wild uberwucherten Pyramide handelte. An einer Seite klaffte ein Loch - eine wei?e Wunde im lebendi-gen Grun.

Die Mesa, auf der man die Stadt erbaut hatte, war tatsachlich eine Art Himmelsinsel. Sie hing, durch kahle Klippen von der ubrigen Sierra Azul getrennt, zwischen den beiden Gipfeln. Sie wirkte auf Tom wie abgeschnitten, bis er dann uber einer Schlucht etwas gekrummtes, gewundenes Gelbes sah: eine primitive Hangebrucke. Bei naherem Hinsehen stellte sich heraus, dass sie von Soldaten bewacht wurde.

Sie nutzten die Ruinen einer Steinfestung, die wohl von den Urbewohnern errichtet worden war, um die Wei?e Stadt zu schutzen. Hauser und seine Leute hatten vor der Brucke eine lange Grasnarbe gerodet, um ein ubersichtliches Schussfeld zu haben.

Der Wei?en Stadt gegenuber, nicht fern von der Brucke, stromte ein Bach aus den Bergen herab und sturzte sich in die Schlucht, wobei er sich in filigrane wei?e Faden verwandelte, um dann im Dunst darunter zu verschwinden.

Wahrend Tom den Fluss in Augenschein nahm, stiegen Schwaden aus der Schlucht empor, hullten die Hangebruk-ke ein und blockierten ihm schlie?lich auch die Aussicht auf die Wei?e Stadt. Der Dunst teilte sich, die nachste Woge wallte auf. Auch sie loste sich in einem sich standig wie-derholenden Ballett aus Finsternis und Licht auf.

Tom frostelte. Vermutlich hatte sein Vater vor vierzig Jahren ebenfalls an dieser Stelle gestanden. Zweifellos hatte auch er die schwachen Umrisse der Stadt in dieser chaoti-schen Vegetation erkennen konnen. Hier hatte er seine erste Entdeckung gemacht und sein Lebenswerk begonnen. Und hier hatte er geendet, lebendig eingeschlossen in eine finstere Grabkammer. Die Wei?e Stadt war das Alpha und Ome-ga seiner Laufbahn.

Tom reichte Sally das Fernglas. Sie betrachtete die Wei?e Stadt sehr lange. Dann lie? sie das Glas sinken und schaute Tom an. Ihr Gesicht war vor Aufregung gerotet. »Es ist eine Maya-Stadt«, sagte sie. »Es gibt einen zentralen Platz fur die Ballspiele, eine Pyramide und einige mehrstockige Gebaude. Absolut klassisch. Die Menschen, die sie gebaut haben, stammten - da bin ich mir sicher - aus Copan. Moglicherweise haben sie sich nach dem Untergang Copans im Jahr 900 hierher zuruckgezogen. Ein gro?es Ratsel ist gelost.«

Ihre Augen funkelten, ihr goldenes Haar leuchtete in der Sonne. Tom hatte sie noch nie von solcher Lebenskraft spruhen gesehen. Nach dem wenigen Schlaf, den sie gehabt hatten, erschien ihm das wirklich erstaunlich.

Sally drehte sich um und schaute ihm in die Augen. Tom hatte den Eindruck, dass sie seine Gedanken erriet. Ihre Wangen roteten sich leicht, dann schaute sie weg und lachelte vor sich hin.

Philip nahm das Fernglas an sich und unterzog die Stadt einer Prufung. Tom horte ihn uberrascht Luft holen. »Da unten sind Menschen«, sagte Philip. »Sie fallen vor der Pyramide Baume.«

Man horte das ferne Krachen von Dynamit. In der Stadt stieg eine Staubwolke auf, die wie eine kleine wei?e Blute aussah.

»Wir mussen Vaters Grabkammer vor ihnen finden«, sagte Tom. »Sonst ...« Er lie? den Satz

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