»Ja. Meine Mutter sehr schon singen.«

»Du Gluckspilz«, sagte Vernon. »Wir haben unsere Mutter kaum gekannt.«

»Ihr nicht haben gleiche Mutter?«

»Nein. Jeder hat eine andere. Vater hat uns fast allein aufgezogen.«

Borabay machte gro?e Augen. »Ich nicht verstehen.«

»Wenn es zu einer Scheidung kommt ...« Tom hielt inne.

»Na ja, manchmal kriegt ein Elternteil die Kinder, und dann macht der andere sich davon.«

Borabay schuttelte den Kopf. »Das sehr eigenartig. Ich hatte gern gehabt Vater.« Er wendete die Fleischspie?e. »Ihr mir erzahlen, wie war, bei Vater aufwachsen.«

Philip lachte heiser. »Mein Gott, wo soll man da anfangen? Als ich ein Kind war, hat er mir schreckliche Angst eingejagt.«

»Er hat Schonheit geliebt«, warf Vernon ein. »Und zwar so sehr, dass er manchmal vor einem schonen Gemalde oder einer Statue geweint hat.«

Philip stie? ein ironisches Schnauben aus. »Yeah, er hat geheult, weil er was nicht haben konnte. Er wollte Schonheit besitzen. Er wollte sie fur sich allein haben. Frauen, Gemalde, alles Mogliche. Wenn etwas schon war, wollte er es haben.« »Das ist aber sehr vereinfacht ausgedruckt«, sagte Tom. »Es ist doch nichts Falsches, Schonheit zu lieben.

Die Welt kann ein so gemeiner Ort sein. Er hat die Kunst um ihrer selbst willen geliebt, nicht weil sie gerade schick war oder ihm Geld eingebracht hat.«

»Er hat sein Leben nicht nach den Regeln anderer Menschen gefuhrt«, fuhr Vernon fort. »Er war ein Skeptiker. Er ist nach einem anderen Trommler marschiert.«

Philip winkte ab. »Nach einem anderen Trommler? Nein, Vernon, er hat dem anderen Trommler eins uber den Schadel gezogen, sich dessen Trommel angeeignet und die Pa-rade personlich angefuhrt. So ist er ans Leben herangegan-gen.«

»Was ihr mit ihm getan?«

»Er hat uns gern zum Zelten mitgenommen«, sagte Vernon.

Philip lehnte sich zuruck und lachte bellend. »Abscheuli-che Zelttouren mit Regen und Moskitos, auf denen er uns mit Lagerarbeiten maltratiert hat.«

»Auf einem dieser Ausfluge habe ich meinen ersten Fisch geangelt«, erzahlte Vernon.

»Ich auch«, sagte Tom.

»Zelten? Was sein Zelten?«

Doch die Diskussion ging uber Borabay hinweg. »Um sein Leben zu vereinfachen, musste Vater fort von der Zivilisation. Weil er selbst so schwierig war, musste er um sich herum Einfachheit schaffen, und das hat er getan, indem er angeln ging. Er ging gern zum Fliegenfischen.«

Philip setzte eine finstere Miene auf. »Angeln ist neben der heiligen Kommunion moglicherweise die damlichste Beschaftigung des Menschen.«

»Diese Bemerkung ist beleidigend, Philip«, sagte Tom.

»Selbst fur dich.«

»Also wirklich, Tom! Willst du mir etwa auf deine alten Tage erzahlen, du hast diesen Quatsch verinnerlicht? Diesen Unfug und Vernons buddhistischen achtfachen Pfad der Tugend durchs Leben? Wo kam denn die ganze Reli-giositat her? Immerhin war Vater Atheist. Da hast du was zu verarbeiten, Borabay: Vater war ursprunglich katholisch, aber er wandelte sich zu einem bewusst nuchternen, bein-harten Atheisten.«

»Die Welt besteht aus mehr als nur deinen Armani-Anzu-gen, Philip«, sagte Vernon.

»Stimmt«, erwiderte Philip. »Ralph Lauren gibt's schlie?lich auch noch.«

»Wartet!«, rief Borabay. »Ihr alle reden gleichzeitig. Ich nicht verstehen.«

»Mit der Frage hast du uns erst richtig in Fahrt gebracht«, sagte Philip, noch immer lachend. »Hast du noch andere?«

»Ja. Wie ihr als Sohne sein?«

Philips Lachen erstarb. Der Dschungel raschelte hinter dem Feuerschein.

»Ich wei? nicht genau, was du meinst«, sagte Tom.

»Ihr mir erzahlen, was fur Vater er ist fur euch. Nun ich fragen, was fur Sohne ihr seid fur ihn.«

»Wir waren gute Sohne«, erwiderte Vernon. »Wir haben versucht, so zu sein, wie er uns haben wollte. Wir haben alles getan, was er wollte. Wir haben seine Vorschriften befolgt; wir haben ihm jeden verdammten Sonntag ein Konzert gegeben; wir sind immer brav zum Unterricht gegangen und haben uns angestrengt, die Wettbewerbe zu gewinnen, an denen wir teilgenommen haben. Auch wenn wir nicht sehr erfolgreich waren, wir haben uns bemuht.«

»Ihr getan, um was er gebeten. Doch was ihr getan, um was er nicht gebeten? Ihr ihm helfen, nach Sturm Dach wieder auf Haus tun? Ihr machen Einbaum mit ihm? Ihr ihm helfen, wenn krank?«

Tom hatte plotzlich das Gefuhl, dass Borabay ihnen Fang-fragen stellte. Er hatte es von Anfang an getan. Er fragte sich, woruber Maxwell Broadbent sich im letzten Monat seines Lebens mit seinem altesten Sohn wohl unterhalten hatte.

»Vater hat Leute eingestellt, die all das fur ihn erledigten.

Vater hatte einen Gartner, einen Koch, eine Dame, die das Haus sauber gemacht hat. Andere Menschen haben das Dach repariert. Er hatte auch eine Krankenschwester. In Amerika kauft man, was man braucht.«

»Das meint er nicht«, sagte Vernon. »Er mochte wissen, was wir fur Vater getan haben, als er krank war.« Tom merkte, wie er errotete.

»Was ihr tun, wenn er krank mit Krebs? Ihr gehen zu sein Haus? Wohnt bei ihm?«

»Borabay«, sagte Philip mit schriller Stimme, »es ware vollig sinnlos gewesen, uns dem alten Mann aufzudrangen. Er hatte uns nicht um sich haben wollen.«

»Ihr lassen Fremde Vater pflegen, wenn krank?«

»Ich lass mir weder von dir noch von jemand anderem vorschreiben, was die Pflichten eines Sohnes sind«, schrie Philip plotzlich.

»Ich nicht vorschreiben. Ich stellen einfache Frage.«

»Die Antwort ist: Ja. Wir haben Vater von einer Fremden pflegen lassen. Er hat uns, als wir klein waren, das Leben vermiest. Wir konnten es nicht erwarten, von ihm weg zu kommen. Das passiert, wenn man ein schlechter Vater ist - die Sohne verlassen einen. Sie laufen weg, sie fliehen. Sie konnen es nicht erwarten, fortzugehen.«

Borabay stand auf. »Er dein Vater, ob gut oder schlecht. Er dich ernahren, er dich beschutzen, er dich aufziehen. Er dich machen.«

Philip stand ebenfalls auf. Er war sichtlich wutend. »So nennst du das scheu?liche Verspritzen von Korperflussig-keit? Uns machen? Wir waren Unfalle - jeder Einzelne. Was ist das fur ein Vater, der den Muttern ihre Kinder weg-nimmt? Was ist das fur ein Vater, der uns aufzieht, als handle es sich um ein Experiment zur Erschaffung von Genies? Wer hat uns in den Dschungel verschleppt, damit wir hier sterben?«

Borabays Hand schoss auf Philip zu, und zwar so schnell, dass es den Anschein hatte, als verschwande Philip ruckwarts im Urwald. Borabay stand da, ein Meter sechzig be-

malte Wut. Er hatte die Fauste geballt. Philip setzte sich hinter dem Feuer im Staub aufrecht hin und hustete. »Ah

...« Er spuckte aus. Seine Lippe war blutig und schwoll rasch an.

Borabay musterte ihn schwer atmend.

Philip wischte sein Gesicht ab, dann verzog er es zu einem Lacheln. »Nun ja ... Der alteste Bruder hat seinen Platz in der Familie endlich geltend gemacht.«

»Du nicht so uber Vater sprechen!«

»Ich spreche uber ihn, wie ich will. Und kein gewalttati-ger, analphabetischer Wilder wird mich dazu bringen, meine Ansichten zu andern!«

Borabay ballte zwar die Fauste, machte aber keine Anstal-ten, noch einmal auf Philip loszugehen.

Vernon half Philip beim Aufstehen. Philip tupfte seine Lippe ab. Seine Miene wirkte triumphierend. Borabay stand nun unsicher da; offenbar wurde ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Indem er seinen Bruder

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