den Rest seines Lebens dort zu verbringen.

Die Dunstschwaden losten sich auf. Von unten kamen weitere Windsto?e. Sie waren nun wirklich gewaltig. Die Brucke schaukelte. Sie bewegte sich aber nicht wie sonst, sondern ihr Schaukeln endete stets mit einer ruckenden Drehung, die sie jedes Mal in die unter ihnen herrschende Dusternis zu schleudern drohte.

Dann flaute das Beben ab.

»Philip, steh auf.«

»Nein.«

»Du musst. Und zwar sofort.« Eines hatten sie namlich sicher nicht: Zeit. Der Nebel hatte sich aufgelost. Die Jupiterlampe leuchtete hell. Die Soldaten brauchten sich nur umzudrehen, dann mussten sie die beiden Manner sehen. Tom streckte eine Hand aus. »Halt dich fest. Ich hiev dich hoch.«

Philip hob zitternd eine Hand. Tom packte sie und zog ihn langsam hoch. Die Brucke schaukelte. Philip klammerte sich an die senkrechten Seile. Nun kam eine ganze Reihe von Windsto?en. Die Brucke vollfuhrte ein abscheuliches Geschaukle. Philip stohnte vor Entsetzen. Tom hielt sich in Todesangst fest. Er wurde von einer Seite zur anderen geworfen. Funf Minuten vergingen, in denen die Brucke bebte. Es waren die langsten funf Minuten in Toms Leben. Er spurte, wie seine Arme von der Anstrengung schmerzten.

Schlie?lich lie? das Wackeln nach.

» Gehen wir.«

Philip bewegte einen Fu? und setzte ihn vorsichtig auf das Tau. Dann den anderen. Schlie?lich bewegte er auch die Hande, wahrend er sich vortastete. Funf Minuten spater hatten sie die andere Seite erreicht. Borabay und Vernon warteten schon in der Dunkelheit auf sie. Zusammen schlugen sie sich in den Nebelwald. Sie liefen, so schnell sie konnten.

64

Borabay geleitete sie durch den Wald. Seine Bruder folgten ihm einer hinter dem andern. Der Weg, den sie nahmen, wurde von der eigenartigen Phosphoreszenz erhellt, die Tom schon fruher gesehen hatte. Jeder verfaulende Strunk, jedes Stuck Holz war in dieses mattgrune Licht getaucht, das den Wald so gespenstisch erhellte. Doch nun wirkte es nicht mehr schon - es war nur noch bedrohlich.

Zwanzig Minuten spater ragte eine beschadigte Steinmauer vor ihnen auf. Borabay hielt an und hockte sich hin.

Plotzlich flammte ein Licht auf. Als er sich aufrichtete, hatte er ein brennendes Riedgrasbundel in der Hand. Die Mauer war nun besser erkennbar: Sie bestand aus gigantischen Kalksteinblocken und wurde von einer dichten Matte aus Kletterpflanzen fast verhullt. Toms Blick fiel kurz auf ein Basrelief: Es zeigte Gesichter im Profil, hohlaugige Schadel, fantastisch anmutende Jaguare und glotzaugige Vogel mit langen Krallen.

»Die Stadtmauer.«

Sie marschierten eine Weile an der Mauer entlang und stie?en dann auf einen schmalen Turrahmen, vor dem Kletterpflanzen wie ein Perlenvorhang herabhingen. Sie schoben sie beiseite, duckten sich und bahnten sich ihren Weg.

Borabay streckte im matten Licht eine Hand aus, packte Philip am Arm und zog ihn an sich. »Bruderchen Philip, du mutig.«

»Nein, Borabay. Ich bin ein absoluter Feigling und eine Last fur euch.«

Borabay klopfte ihm liebevoll auf den Arm. »Stimmt nicht. Ich Hose machen vor Angst.«

»In Hose machen.«

»Danki.« Borabay schirmte die Fackel mit der Hand ab und blies in das Flammchen, damit es heller gluhte. Sein Gesicht leuchtete im Schein des Feuers auf und lie? seine grunen Augen goldfarben schimmern. Es betonte sein Broadbent-Kinn und seine fein geschwungenen Lippen.

»Wir gehen jetzt zu Grabkammern. Wir Vater suchen.«

Durch den Turrahmen gelangten sie in die Ruine eines In-nenhofes. An einer Seite fuhrte eine Treppe nach oben. Borabay flitzte uber den Hof und stieg die Stufen hinauf. Die anderen schlossen sich ihm an. Sie bogen rechts ab und marschierten uber eine Mauer. Borabay schirmte die Fackel ab, damit man das Licht nicht sah. An der anderen Seite fuhrte eine Treppe hinab. In den Baumen war plotzlich Bewegung und Geschrei. Die Wipfel ruckten und knackten.

Tom fuhr zusammen.

»Kleine Affen«, sagte Borabay leise. Er verharrte und setzte eine besorgte Miene auf. Schlie?lich schuttelte er den Kopf, und sie setzten den Weg fort. Sie kletterten uber zahlreiche umgefallene Saulen und gelangten in einen Innenhof voller umgesturzter Steinblocke. Einige wiesen drei Meter Lange auf. Es waren Bestandteile eines riesigen Kopfes.

Tom entdeckte eine Nase und ein, zwei stierende Augen, die aus dem Vegetationsgewirr und den sich dahinschlangelnden Baumwurzeln aufragten. Sie kletterten uber die Blocke hinweg und gingen durch einen von steinernen Jaguaren bewachten Torbogen in eine Art Durchgang. Die ihnen dort entgegenschlagende Luft war kuhl und roch nach Schimmel. Die Fackel flackerte. Die Flamme lie? die steinernen Wande eines Tunnels sehen. Die Wande waren von Kalk verkrustet, die Decke war voller Stalaktiten. Insekten flitzten raschelnd uber feuchte Wande, um Deckung vor dem Licht zu suchen. Eine dicke Viper rollte sich zusammen und hob den Kopf, als wolle sie angreifen. Sie schaukelte zischend hin und her, ihre Schlitzaugen reflektierten das gelbrote Licht der Flamme. Sie wichen ihr aus und gingen weiter. Durch die eingesturzte Decke sah Tom zwischen den sich leise im Wind wiegenden Baumwipfeln zahlreiche Sterne. Sie kamen an einem alten Steinaltar vorbei, auf dem Gebeine lagen, verlie?en den Tunnel und erreichten eine Plattform voller zerbrochener Statuen. Kopfe und Gliedma?en ragten wie eine in einem Meer von Kletterpflanzen ertrunkene Schar von Ungeheuern aus dem Lianengewirr.

Dann standen sie am Rand eines tiefen Abgrundes. Sie hatten die andere Seite des Plateaus erreicht. Hinter dem Abgrund breitete sich ein Meer gezackter Berggipfel aus.

Das Licht der Sterne erhellte sie nur schwach. Borabay hielt an, um eine neue Fackel anzuzunden. Er warf die abgebrannte uber den Klippenrand, und sie flackerte kurz auf, um dann in der schwarzen Tiefe zu verschwinden. Dann geleitete er sie uber einen am Abgrund entlangfuhrenden Pfad und durch eine gut getarnte Lucke im Gestein. Sie schien uber die kahle Klippe zu fuhren, doch als diese Luk-ke hinter ihnen lag, tauchte vor ihnen ein in den Fels gehauener Weg auf, der sich als Treppe entpuppte. Sie fuhrte serpentinenformig an der Klippe entlang nach unten und endete an einer wie gefliest wirkenden Terrasse - einer Art ins Gestein geschlagenem Balkon, der durch eine Unterhoh-lung entstanden und von oben nicht sichtbar war. Auf der einen Seite ragten die gezackten Felsen der Mesa der Wei?en Stadt auf. Auf der anderen Seite befand sich ein steiler, viele hundert Meter tiefer Abgrund. In den Felsen uber ihnen waren Hunderte von schwarzen Turen erkennbar, die durch steile Pfade und Treppen miteinander verbunden waren.

»Grabstatten«, sagte Borabay.

Leiser Wind umfachelte sie. Er brachte den su?sauren Duft irgendwelcher in der Nacht bluhender Blumen mit.

Hier waren die Gerausche des uber ihnen liegenden Dschungels nicht horbar - man vernahm nur das Auf und Ab des Windes. Welch ein unheimlicher, gespenstischer Ort.

Mein Gott, dachte Tom. Wenn ich mir vorstelle, dass Vater irgendwo da oben in den Klippen ist...

Borabay ging ihnen durch einen finsteren Eingang im Gestein voran, dann stiegen sie eine in die Felsen gehauene Wendeltreppe hinunter. Die Felswand war voller Grabkammern. Die Treppe fuhrte an offenen Nischen vorbei, in denen Gebeine, ein leicht behaarter Schadel, durre Hande mit blitzenden Ringen und mumifizierte Leichen lagen.

Vom Licht erschreckte Insekten, Mause und kleine Schlangen wichen in die Dunkelheit zuruck. In mehreren Nischen, an denen sie vorbeikamen, lagen frische, Verwesungsgeruch ausstromende Leichen. Dort war das Geraschel der Tiere und Insekten noch lauter. Sie kamen auch an einem Toten vorbei, auf dem einige fressende Ratten hockten.

»Wie viele dieser Graber hat Vater ausgeplundert?«, fragte Philip.

»Nur eines«, erwiderte Borabay, »aber voll mit Schatzen.«

Вы читаете Der Codex
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату