»Oder ... Gibt's vielleicht noch mehr?«, fragte Vernon mit gerunzelter Stirn.

Broadbent schuttelte den Kopf. »Meines Wissens nicht.

Hatte ich doch nur genug Grips gehabt, um zu erkennen, was fur Prachtkerle ihr seid.« Seine blauen Augen richteten sich auf Vernon. »Abgesehen von dem Bart, Vernon. Herrgott, wann rasierst du das Gekrose endlich ab? Du siehst doch aus wie ein Mullah.«

»Du bist auch nicht gerade gut rasiert«, erwiderte Vernon.

Broadbent winkte lachend ab. »Na, dann lass es eben. Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ausrotten. Dann behaltst du deinen verdammten Bart eben.«

Ein verlegenes Schweigen breitete sich aus. Die Sonne stieg hoher uber die Berge, das goldene Licht wurde wei?.

Ein Vogelschwarm flog trillernd uber sie hinweg, stie? in die Tiefe hinab, schwang sich hoch hinauf und wechselte wie eine militarische Formation die Richtung.

Tom wandte sich an Borabay. »Wir mussen unseren Fluchtplan uberdenken.«

»Ja, Bruder. Ich schon daruber nachgedacht. Wir hier war-

ten bis dunkel ist. Dann wir gehen zuruck.« Borabay blickte zum klaren Himmel hinauf. »Heute Nacht Regen, gibt uns Deckung.«

»Was ist mit Hauser?«, fragte Broadbent.

»Er suchen Gruft in Wei?e Stadt. Er noch nicht daran denken, auf Klippen zu suchen. Ich glaube, wir an ihm vorbei-kommen. Er nicht wissen, dass wir hier.«

Broadbent warf einen Blick in die Runde. »Ihr habt nicht zufallig was zum Futtern dabei? Das Zeug, das sie mir in die Gruft gelegt haben, war als Henkersmahlzeit nicht viel wert.«

Borabay entnahm seinem Palmwedelrucksack etwas Proviant und breitete ihn aus. Broadbent schlurfte schwerfallig zu ihm hinuber. »Frisches Obst. Mein Gott.« Er nahm eine Mango und biss hinein. Der Saft lief ihm aus dem Mund und tropfte auf sein Hemd. »Himmlisch.« Er stopfte sich die Mango in den Mund, a? eine zweite und verputzte dann einige Curwas und ein paar geraucherte Eidechsenfi-lets.

»Borabay, du konntest ein Restaurant eroffnen.«

Tom beobachtete seinen Vater beim Essen. Er konnte es kaum fassen, dass sein alter Herr noch lebte. Die Sache hatte etwas Unwirkliches. Alles hatte sich verandert - und nichts.

Broadbent beendete die Mahlzeit, dann lehnte er sich an die Steinwand und betrachtete die Berge.

»Kannst du uns vielleicht erzahlen, wie es in der Grabkammer war, Vater?«, erkundigte sich Philip.

»Ich erzahle euch, wie es war, Philip. Wir haben meine Bestattung ausgiebig gefeiert. Borabay hat euch zweifellos davon erzahlt. Ich habe Cahs Hollentrunk geschluckt. Dann kam ich wieder zu mir. Um mich herum war es pech-schwarz. Als wackerer Atheist habe ich immer geglaubt, der Tod sei das Ende des Bewusstseins. Und damit ware es das dann. Aber obwohl ich genau wusste, dass ich tot war, war ich noch immer bei Bewusstsein. Ich hatte noch nie solche Angst. Als ich mich in absoluter Panik durch die Finsternis tastete, kam mir plotzlich eine Idee: Du bist nicht nur tot, du bist in der Holle.«

»Das hast du ja wohl nicht wirklich geglaubt«, meinte Philip.

Broadbent nickte. »Doch. Ihr konnt euch nicht vorstellen, wie entsetzt ich war. Ich hab blo? noch gejammert und geheult wie eine verirrte Seele. Ich habe zu Gott gebetet - auf den Knien. Ich habe bereut und ihm geschworen, dass ich immer ein guter Mensch sein wurde, wenn er mir noch eine zweite Chance einraumte. Ich kam mir vor wie einer der armen Saufer in Michelangelos Jungstem Tag, die um Vergebung winseln, wahrend sie von Teufeln in den Feuersee gezerrt werden.

Als ich vom Wehklagen und vom Selbstmitleid erschopft war, kehrte meine geistige Gesundheit zum Teil zuruck. Ich bin herumgekrochen und hab festgestellt, dass ich in der Grabkammer war. Dann dammerte mir allmahlich, dass ich nicht tot war; dass Cah mich lebendig begraben hatte. Er hat mir nie verziehen, was ich seinem Vater angetan hatte.

Ich hatte es wissen mussen. Cah hatte was von einem ver-schlagenen alten Fuchs. Als ich die Nahrung und das Wasser fand, wusste ich, dass mir eine lange Prufung bevorstand. Ich hatte alles als unbeschwerte Aufgabe fur euch drei geplant. Jetzt hing plotzlich mein Leben von eurem Erfolg ab.«

»Eine unbeschwerte Aufgabe«, wiederholte Philip skeptisch.

»Der Schock sollte euch dazu bringen, mit eurem Leben etwas Sinnvolleres anzufangen. Mir war uberhaupt nicht klar, dass ihr alle langst etwas Sinnvolles tut - beziehungsweise, dass ihr das Leben fuhrt, dass ihr eben fuhren wollt.

Wer bin ich, dass ich so etwas verurteile?« Er rausperte sich und schuttelte den Kopf. »Nun war ich mit dem eingeschlossen, was ich fur meinen Schatz hielt - meinem Lebenswerk. Aber es war nutzloser Schrott. Es bedeutet mir plotzlich nichts mehr. Ich konnte den Schatz in der Dunkelheit nicht mal erkennen. Es hat mich bis ins Mark erschuttert, dass ich lebendig begraben war. Ich habe uber mein ganzes Leben nachgedacht und fand es abscheulich. Ich war euch ein schlechter Vater. Ich war auch ein schlechter Ehemann. Ich war habgierig und egoistisch. Und dann habe ich mich beim Beten ertappt.«

»Nein«, sagte Philip.

Broadbent nickte. »Was hatte ich denn sonst tun sollen?

Und dann hab ich Stimmen, ein Klopfen und ein rumpeln-des Gerausch gehort. Licht fiel zu mir rein - und ihr wart alle da! Meine Gebete sind erhort worden.«

»Soll das etwa hei?en«, fragte Philip, »dass du zur Religi-

on gefunden hast? Dass du glaubig bist?«

»Ja, verdammt, du hast absolut Recht!« Broadbent verfiel in Schweigen. Er blickte auf die gewaltige Landschaft, die sich unter ihnen ausbreitete, die endlosen Berge und Urwal-der. Dann rutschte er hustelnd hin und her. »Komisch, mir ist, als ware ich gestorben und neu geboren.«

69

In seinem Versteck horte Hauser das Murmeln der vom Wind nach oben getragenen Stimmen. Er verstand zwar die einzelnen Worte nicht, hegte aber keinen Zweifel, was da unten vor sich ging: Sie freuten sich koniglich und plunder-ten die Grabkammer ihres Vaters. Bestimmt wollten sie die kleineren Gegenstande - den Codex eingeschlossen - mitnehmen. Die Frau, Sally Colorado, wusste um den Wert des Manuskripts. Der Codex wurde das Erste sein, was sie an sich nahmen.

Im Geist ging Hauser die Liste der restlichen in der Grabkammer liegenden Schatze durch. Ein Gro?teil von Maxwell Broadbents Sammlung - einschlie?lich der wertvoll-sten Stucke - lie? sich transportieren. Dazu gehorten einige seltene Edelsteine aus Vorderindien und eine gro?e Sammlung von Goldartefakten aus dem Besitz der Azteken und Mayas. Es handelte sich in der Regel um kleine Objekte, was auch fur die antiken griechischen Goldmunzen galt. Er wusste auch von zwei sehr wertvollen etruskischen Bronze-figurinen, die ungefahr funfundzwanzig Zentimeter gro? waren und knapp zwanzig Pfund wogen. All dies konnte ein einzelner Mann auf dem Rucken tragen. Wert: zwischen zehn und zwanzig Millionen.

Sie konnten auch den Lippi und den Monet mitnehmen.

Die Gemalde waren relativ klein - der Lippi ma? rund 70 mal 45 Zentimeter, der Monet 90 mal 65. Beide waren ungerahmt verpackt worden. Der auf gegipstes Holz gemalte Lippi wog zehn Pfund, der Monet acht. Die beiden Kisten, in denen sie verstaut waren, brachten einzeln hochstens drei?ig Pfund auf die Waage. Sie konnten zusammenge-bunden, auf einen Tragrahmen geschnallt auf dem Rucken abtransportiert werden. Wert: uber hundert Millionen.

Aber es gab da unten naturlich auch jede Menge Schatze, die sich nicht mitnehmen lie?en. Der Pontormo, dessen Wert zwischen drei?ig und vierzig Millionen lag, war zu gro?. Und das galt auch fur das Bronzino-Portrat. Die Maya-Saulen und die Soderini-Bronzen waren zu schwer.

Aber die beiden Braques konnte man tragen. Das kleinere Gemalde gehorte zu Braques fruhesten kubistischen Mei-sterwerken und wurde zwischen funf und zehn Millionen einbringen. Dann war da noch die altromische Bronzestatue eines Knaben im Ma?stab 1:2, die einen Zentner wog - moglicherweise zu viel, um sie fortzuschleppen. Und die kambodschanischen Tempelfigurinen aus Stein, ein paar alte chinesische Bronzeurnen, einige Maya-Mosaike, Gedenkta-feln ... Max hatte gute Augen. Er hatte stets auf Qualitat geachtet. Quantitat galt

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