hatten sie eine Beschaftigung. Die Jagd auf Broadbent und seine Sohne war die Aufgabe eines einsamen Jagers, der ungesehen durch den Urwald pirschte. Fur derlei Dinge konnte man einen larmenden Trupp von schwachsinnigen Soldaten nicht gebrauchen. Hauser war im Vorteil. Er wusste, dass die Broadbents unbewaffnet waren und die Brucke uberqueren mussten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sie einholen wurde.
Sobald sie ins Gras gebissen hatten, konnte er die Gruft in aller Ruhe plundern, den Codex und die tragbaren Kunstwerke mitnehmen und den Rest spater abholen. Nun, da er Skiba weich geklopft hatte, wusste er ziemlich genau, dass er mehr als nur funfzig Millionen aus ihm herauspressen konnte. Vielleicht sogar viel mehr. Die Schweiz war eine gute Basis. Von diesem Land aus lie? es sich operieren. So hatte Broadbent es ja auch gemacht: Er hatte Antiquitaten fragwurdiger Herkunft uber die Schweiz verschoben und behauptet, sie entstammten einer
Zwar lie?en sich seine Meisterwerke nicht auf dem freien Markt verkaufen, da sie schlichtweg zu beruhmt waren und jeder wusste, dass sie ihm gehorten, aber unter der Hand waren sie bestimmt da und dort zu verscherbeln. Es gab immer einen saudischen Scheich, einen japanischen Indus-triellen oder einen amerikanischen Milliardar, der ein schones Gemalde besitzen wollte und sich nicht gro? fur seine Herkunft interessierte.
Hauser gebot diesen angenehmen Phantasien Einhalt und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Boden. Auch da war der Tau von einem Blatt gewischt. Und dort befand sich ein Blutfleck auf dem Boden. Er folgte der Fahrte in einen verfallenen Gang und schaltete seine Lampe ein. Von einem Stein gekratztes Moos. Ein Fu?abdruck auf dem weichen Boden. Jeder Idiot konnte diese Spuren lesen.
Hauser folgte den Markierungen, so schnell er nur konnte. Er fuhlte sich wie ein Bluthund. Als er in ein riesiges Geholz eintauchte, erblickte er eine besonders deutliche Fahrte: Die Broadbents hatten auf ihrer kopflosen Flucht einen Haufen verfaultes Laub aufgeruhrt.
Ein Knacken. Der junge Baum schoss in die Hohe, die Schlinge zog sich zusammen. Hauser spurte ein plotzliches Luftchen und ein Ziehen an seinem Hosenbein. Er schaute nach unten. In der losen Bugelfalte seiner Hose steckte ein kleiner Pfeil. Von seiner im Feuer geharteten Spitze tropfte eine dunkle Flussigkeit.
Der Giftpfeil hatte ihn um knapp zweieinhalb Zentimeter verfehlt.
Hauser verharrte eine ganze Weile. Er musterte jeden Quadratzentimeter des ihn umgebenden Bodens, jeden Baum und jeden Ast. Als er befriedigt feststellte, dass hier keine weitere Falle auf ihn lauerte, beugte er sich vor, um den Pfeil aus der Khakihose zu ziehen. Dann hielt er erneut inne - gerade noch rechtzeitig. Aus dem Pfeilkorper ragten zwei fast unsichtbare Stacheln hervor. Auch sie waren nass vom Gift. Bei dem Versuch, sie zu packen, hatten sie sich in seine Finger gebohrt.
Hauser griff sich einen Zweig und schnippte den Pfeil von seinem Hosenbein.
Au?erst gerissen. Drei Fallen in einer. Einfach und effek-tiv. Das hatte er zweifellos dem Indianer zu verdanken.
Hauser bewegte sich nun etwas langsamer voran - und mit mehr Respekt.
75
Tom trabte durch den Wald. Tempo war ihm nun wichtiger als Stille, aber er machte einen Umweg, um Hauser nicht in die Hande zu laufen. Sein Weg fuhrte ihn durch ein Labyrinth von unter dichten Schichten von Kletterpflanzen be-grabenen Tempelruinen. Er hatte keine Lampe, deswegen musste er sich manchmal durch finstere Gange tasten oder unter umgefallenen Steinen hindurchkriechen.
Bald erreichte er den ostlichen Rand des Plateaus. Er legte eine Pause ein, um wieder zu Atem zu kommen, dann pirschte er zum Klippenrand und schaute in die Tiefe, um sich zu orientieren. Seinem Gefuhl nach musste die Totenstadt irgendwo sudlich liegen, also wandte er sich nach rechts und folgte dem Pfad am Rand der Klippen entlang.
Zehn Minuten spater erkannte er die Terrasse sowie die uber der Totenstadt aufragende Felswand und stie? auf den versteckten Pfad. Er huschte hinab und lauschte an jeder Ecke - fur den Fall, dass Hauser noch hier weilte. Aber er war offenbar langst weg. Dann erreichte er die dunkle Offnung der Grabkammer seines Vaters.
Die Rucksacke lagen noch dort in einem Stapel auf dem Boden, wo sie sie abgelegt hatten. Tom nahm seine Machete wieder an sich und schob sie in die Scheide. Dann hockte er sich hin, kramte in den Rucksacken und entnahm ihnen einige Riedgrasbundel sowie eine Schachtel Zundholzer.
Eines der Bundel steckte er in Brand und betrat dann die Grabkammer.
Sie stank bestialisch. Tom atmete durch die Nase ein und wagte sich weiter nach innen. Es lief ihm vor Grauen kalt uber den Rucken, als ihm einfiel, dass sein Vater den letzten Monat hier verbracht hatte. Eingeschlossen in pechschwar-ze Dunkelheit. Das flackernde Licht erhellte eine erhohte Bestattungsplattform aus dunklem Gestein. Sie war mit Schadeln, Ungeheuern und anderen eigenartigen Motiven verziert. Stapel von mit Stahlbandern verschlossenen Kisten und Kasten umgaben sie. Es war nicht gerade die Gruft von Konig Tutenchamun. Sie glich eher einem schmutzigen, voll gestopften Lagerhaus.
Tom uberwand sein Ekelgefuhl und trat einen Schritt heran. Hinter den Kisten hatte sein Vater sich einen primiti-ven Wohnbereich geschaffen. Offenbar hatte er ein wenig Stroh und Staub zusammengekratzt, um eine Art Bett zu formen. An der Ruckwand standen mehrere irdene Topfe, die wohl Nahrung und Wasser enthielten. Modriger Gestank stieg aus ihnen auf. Ratten sprangen aus den Topfen und flohen vor dem Licht der Fackel. Tom, dem vor Faszi-nation und Mitleid ubel war, lugte in einen Topf hinein und entdeckte einige getrocknete Bananen. Sie wimmelten von glitschigen schwarzen Kakerlaken, die in Panik vor dem Licht davonstoben. In den Wasserkrugen waberten tote Ratten und Mause. Vor einer Wand lag ein ganzer Haufen verwesender Ratten. Sein Vater hatte sie allem Anschein nach bei seinem taglichen Konkurrenzkampf um die Nahrung erlegt. Im hinteren Teil der Gruft sah Tom die Augen lebendiger Ratten leuchten, die nur darauf warteten, dass er wieder verschwand.
Was sein Vater wahrend des Wartens auf ihn und seine womoglich nie eintreffenden Bruder in dieser absoluten Schwarze durchlitten hatte ... Es war zu grauenhaft, um es sich vorzustellen. Dass er es ausgehalten und uberlebt hatte, ohne die Hoffnung zu verlieren, sagte Tom etwas uber ihn, das ihm bisher unbekannt gewesen war.
Er wischte sich ubers Gesicht. Er musste den Codex finden. Und dann nichts wie weg.
Da die Transportbehalter noch beschriftet und etikettiert waren, brauchte er nur wenige Minuten, bis er die Kiste vor sich hatte, die den Codex enthielt.
Er zerrte das schwere Ding ans Tageslicht, legte eine Pause ein und genoss die frische Gebirgsluft. Die Kiste wog etwa achtzig Pfund und enthielt au?er dem Codex noch andere Bucher. Tom nahm die Schrauben und Flugelmuttern der Stahlbander in Augenschein; sie hielten die in Fiberglas eingeschlagene Holzkiste zusammen. Die Flugelmuttern sa?en knallhart. Er brauchte einen Schraubenschlussel, um sie zu losen.
Tom suchte sich einen Stein und versetzte einer der Muttern einen festen Schlag, der sie loste. Dieses Verfahren wiederholte er dann mehrere Male. Wenige Minuten spater hatte er alle Flugelmuttern abgeschraubt. Er loste die Stahlbander. Ein paar gezielte Hiebe lie?en die Fiberglashulle brechen. Tom riss sie ab. Ein halbes Dutzend wertvolle Bucher rutschten heraus. Alle waren gewissenhaft in saure-freies Papier eingeschlagen: eine Gutenberg-Bibel, festlich gestaltete Manuskripte, ein Stundenbuch. Er schob alles beiseite, griff in die Kiste hinein, packte den in Rindsleder gebundenen Codex und zog ihn heraus.
Er begutachtete ihn kurz. Ihm fiel ein, dass er fruher in einer kleinen Glasvitrine im Wohnzimmer gelegen hatte. Sein Vater hatte sie etwa einmal im Monat aufgeschlossen und dann in dem Buch geblattert. Auf den Seiten befanden sich schone kleine Zeichnungen von Pflanzen, Blumen und Insekten, die von Schriftzeichen umgeben waren. Tom erinnerte sich, dass er sich diese merkwurdigen Maya-Schriftzeichen angeschaut hatte: Punkte, dicke Striche und lachende Gesichter, alle in einem wirren Knauel umeinan-der gewickelt. Er hatte nicht mal geahnt, dass es sich um eine Schrift handelte.