Tom leerte einen der herumliegenden Rucksacke und schob das Buch hinein. Dann hangte er ihn sich uber die Schulter und machte sich auf den Ruckweg. Er beschloss, nach Sudwesten und Hauser moglichst aus dem Weg zu gehen.

Er betrat die Ruinenstadt.

76

Hauser folgte der Fahrte nun vorsichtiger. Er war au?erst wachsam und spurte ein Kribbeln der Erregung und Furcht. Dem Indianer war es in einer knappen Viertelstunde gelungen, eine Falle zu basteln. Erstaunlich. Er musste also noch irgendwo hier drau?en sein. Zweifellos bereitete er schon den nachsten Hinterhalt vor. Hauser verstand nicht so recht, weshalb der indianische Fuhrer den Broadbents so viel Loyalitat entgegenbrachte. Die Fahigkeiten der Einheimischen, im Urwald zu uberleben, Hinterhalte zu legen oder Gegner auszuschalten, unterschatzte er jedoch nie. Der Vietcong hatte ihm Respekt eingeflo?t. Deswegen lie? er nun bei der Verfolgung der Fahrte der Broadbents keine Vorsichtsma?nahme aus, um sich vor einem eventu-ellen Hinterhalt zu wappnen: Er ging standig im Zickzack und hielt alle paar Minuten an, um den Boden und das Unterholz abzusuchen. Er hob sogar witternd die Nase in den Wind, um nach menschlichen Ausdunstungen zu fahnden.

Kein in einem Baum hockender Indianer wurde ihn mit seinem Giftpfeil uberraschen.

Die Broadbents waren zur Plateaumitte unterwegs, wo der Urwald am dichtesten war. Zweifellos wollten sie sich dort irgendwo verkriechen und den Einbruch der Dunkelheit abwarten. Doch das wurde ihnen keinen Erfolg bringen: Hauser war im Grunde auf noch keine Fahrte gesto-

?en, der er nicht hatte folgen konnen - und schon gar nicht der von ein paar panischen Leuten mit einem stark blutenden Verletzten. Au?erdem hatten er und seine Manner das gesamte Plateau langst grundlich erkundet.

Der vor ihm liegende Regenwald war von einem wilden Gewoge aus Kletterpflanzen und Lianen uberwuchert. Auf den ersten Blick wirkte er undurchdringlich. Hauser ging vorsichtig naher heran, wobei er den Boden im Auge behielt. Er sah die Fahrten kleinerer Tiere, die in alle moglichen Richtungen verliefen - hauptsachlich Spuren von Coatis. Die dicken Wassertropfen an Blattern, Ranken und Bluten fielen schon bei der geringsten Erschutterung zu Boden.

Niemand konnte ein solches Minenfeld durchqueren, ohne an den Blattern Spuren zu hinterlassen. Hauser sah genau, in welche Richtung die Broadbents gegangen waren. Er folgte der Fahrte in ein dichtes Vegetationsgewirr, in dem sie sich zunachst allerdings zu verlieren schien.

Er untersuchte penibel die Erde. Dort, im klammen Gekrose des Waldbodens, befanden sich zwei fast unsichtbare Abdrucke. Menschliche Knie hatten sie geformt. Interessant. Sie waren also uber einen Wildwechsel mitten ins Herz dieser Kolonie aus Kletterpflanzen gekrochen. Hauser hockte sich hin, lugte in die grune Dunkelheit hinein, hob die Nase in den Wind und prufte den Boden. Welchen Weg hatten sie genommen? Knapp ein Meter vor ihm wuchs ein winziger zertretener Pilz, der kaum gro?er als eine Zehn-Cent-Munze war. Und dort war ein angekratztes Blatt. Sie waren uber den Boden ins Pflanzendickicht gekrochen und warteten auf den Einbruch der Nacht. Zweifellos, dachte Hauser, hat der Indianer mir da drin eine Falle gestellt. Das Ge-

lande bot sich perfekt an.

Er stand auf und nahm die einzelnen Ebenen des Regenwaldes in Augenschein. Ja, der Indianer wurde sich irgendwo oberhalb des Pfadlabyrinths auf einem Ast verstecken, seinen Giftpfeil bereithalten und darauf warten, dass er unterhalb herankroch.

Ihm blieb nur eine Moglichkeit: Er musste den Mann von hinten aufs Korn nehmen.

Hauser dachte kurz nach. Der Indianer war schlau. Er rechnete vermutlich mit einem solchen Vorgehen. Er hatte bestimmt eingeplant, dass sein Gegner auf diesem Pfad einen Hinterhalt erwartete. Deswegen lag er vermutlich nicht hier auf der Lauer. Nein, er vermutete bestimmt, dass Hauser um ihn herumgehen und sich ihm von der anderen Seite nahern wurde. Er wurde folglich auf der anderen Seite der gigantischen Gewachsmasse warten, um ihn von hinten zu packen.

Hauser bahnte sich langsam einen Weg um die Kletterpflanzen. Er bewegte sich so leise und verstohlen, als sei er selbst ein Indianer. Wenn seine Annahme zutraf, musste er am anderen Ende auf den Indianer sto?en, der wahrscheinlich irgendwo hoch oben abwartete, bis er unter ihm aufkreuzte. Da der Indianer die weitaus gro?ere Gefahr darstellte, musste er zuerst ihn kaltmachen. Dann wurde er die Broadbents aus dem Urwald zur Brucke treiben, wo man sie leicht in eine Falle locken und toten konnte.

Hauser pirschte in einiger Entfernung um das Gewoge herum, blieb alle paar Minuten stehen und suchte die mittleren Hohen des Urwaldes mit den Augen ab. Wenn der Indianer sich so verhielt, wie er meinte, musste er irgendwo rechts von ihm sein. Hauser bewegte sich mit gro?ter Vorsicht voran. Es kostete ihn zwar Zeit, aber davon hatte er ja genug. Ihm blieben mindestens noch sieben Stunden, bis es dunkel wurde.

Und weiter. Hausers Augen waren in standiger Bewegung. Da war etwas auf einem Baum. Hauser verharrte, glitt ein Stuck weiter, schaute erneut nach oben. Er sah nur einen Fetzen vom roten Hemd des Indianers - auf einem Ast, etwa funfzig Meter rechts von ihm. Au?erdem - er konnte es gerade eben erkennen - zielte dort die Spitze eines kleinen Blasrohrs nach unten. Er wollte Hauser fertig machen, wenn er unter ihm auftauchte.

Hauser ging zur Seite, bis er das Hemd des Indianers gut genug sah, um es als Ziel zu markieren. Er hob das Gewehr, legte sorgfaltig an und gab einen einzelnen Schuss ab.

Nichts. Trotzdem wusste er, dass er getroffen hatte. Plotzliche packte ihn Panik. Schon wieder eine Falle. Als der Indianer mit einem angespitzten Stock in der Hand wie eine Katze auf ihn herunterfiel, rollte Hauser sich zur Seite. Mit einer Jiu-Jitsu-Bewegung warf er sich seitlich nach vorn, richtete die Schwungkraft des Angreifers gegen ihn selbst und schuttelte ihn sauber ab. Schon war er wieder auf den Beinen und lie? eine Salve aus dem Automatikgewehr in die Richtung krachen, wo der Indianer gerade noch gewesen war.

Doch er war weg. Verschwunden.

Hauser schaute sich um. Der Indianer war ihm trotz allem einen Schritt voraus gewesen. Als er aufschaute, sah er den Baum mit dem kleinen roten Stofffetzen und die Spitze des Blasrohrpfeils. Alles war genau da, wo der Indianer es plat-ziert hatte. Hauser schluckte. Er hatte jetzt keine Zeit, um sich zu furchten oder zu argern. Er musste seinen Auftrag erledigen. Er wollte das Katz-und-Maus-Spiel des Indianers nicht mehr mitmachen, denn er lief Gefahr, es womoglich zu verlieren. Nun war es an der Zeit, die Broadbents mit brachialer Gewalt aus dem Busch ins Freie zu treiben.

Hauser drehte sich um, ging an der Kolonie von Kletterpflanzen vorbei, blieb stehen und hob die Steyr AUG. Er gab ein, zwei Salven ab, dann marschierte er weiter und nahm die dichte Vegetation noch einmal unter Beschuss.

Sein Vorgehen hatte den gewunschten Erfolg: Die Broadbents ergriffen die Flucht. Er horte ihr panisches Getose, denn sie machten Larm wie ein Schwarm Rebhuhner. Jetzt wusste er, wo sie waren. Er rannte an dem Pflanzendickicht vorbei, um den Fluchtenden den Weg abzuschneiden, sobald sie ins Freie kamen. Er wollte sie in Richtung Brucke jagen.

Hinter ihm war plotzlich ein Gerausch zu vernehmen. Er wirbelte zu der weit gro?eren Gefahr herum, betatigte den Abzug und feuerte in die Vegetation, aus der dieser Krach kam. Blatter, Ranken und Zweige wurden von den Baumen gerissen und spritzten in alle Richtungen. Hauser horte das Klicken und Klacken der uberall einschlagenden Kugeln, sah noch eine Bewegung und nahm die Vegetation erneut unter Beschuss. Dann horte er ein Kreischen und Krachen.

Ein Coati, verdammt noch mall Er hatte auf einen Waschbaren geschossen!

Hauser wandte sich um, konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf das Terrain vor sich, senkte das Gewehr und feuerte in die Richtung der fliehenden Broadbents. Er horte den Coat; hinter sich vor Schmerzen heulen. Dann das Knacken von Zweigen. Ihm wurde gerade noch rechtzeitig bewusst, dass es nicht der verletzte Waschbar war, sondern schon wieder der Indianer.

Hauser lie? sich fallen und schoss - nicht um zu toten, denn der Indianer war schon langst im Dickicht des Urwalds verschwunden -, sondern um ihn nach rechts in Richtung auf das freie Gelande vor der Brucke zu dirigie- ren. Er wollte, dass er in die gleiche Richtung lief wie die Broadbents. Nun hatte er auch den Indianer in die Flucht

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