einen halben Meter vor seinen Fu?en die Bambusbrucke und lie? ein paar Splitter in sein Gesicht spritzen. Der Knall war einen Tick spater zu horen. Er rollte uber den Abgrund hinweg.

Hauser senkte eilig den Lauf seines Gewehrs.

»Nun, da wir festgestellt haben, dass ich keinen Schei? rede, konnen Sie Ihren Soldaten sagen, sie sollen uns passieren lassen.«

»Und dann?«, fragte Hauser.

»Dann konnen Sie die Brucke, die Gruft und den Codex haben. Wir wollen nur unser Leben.«

Hauser hangte sich seine Waffe uber die Schulter. »Gluck-wunsch«, sagte er. »Sie haben gewonnen.«

Tom band mit langsamen Bewegungen ein loses Stuck Bruckenschnur um den Gasbehalter und befestigte ihn an einem der Haupttaue.

»Sagen Sie Ihren Mannern, sie sollen uns ziehen lassen.

Wenn uns irgendetwas zusto?t, schie?t unsere Scharfschutzin auf den Behalter. Dann geht Ihre kostbare Brucke in Flammen auf. Haben Sie verstanden?«

Hauser nickte.

»Ich hab Ihren Befehl noch nicht gehort, Hauser.«

Hauser legte die Hande an den Mund: »Leute!«, schrie er auf Spanisch. »Lasst sie gehen! Tut ihnen nichts, wenn sie kommen! Ich lasse sie frei!«

Schweigen.

»Bestatigt den Befehl!«, rief Hauser.

»Si, Senor«, kam die Antwort.

Die Broadbents nahmen ihren Weg auf die andere Seite wieder auf.

81

Hauser stand in der Mitte der Brucke. Sein Verstand hatte die Tatsache akzeptiert, dass die Scharfschutzin - es handelte sich zweifellos um die blonde Frau, die Tom Broadbent mitgebracht hatte - ihn im Fadenkreuz hatte. Eine unbrauchbare alte Jagdflinte, hatte der Soldat gesagt. Ja, klar. Sie hatte ihm aus einer Entfernung von fast dreihundertfunfzig Metern eine Kugel genau vor die Fu?e geknallt. Dass sie ihn jetzt im Zielfernrohr sah, war ein unerfreuliches, aber auch eigenartig aufregendes Gefuhl. Es jagte Hauser Angst ein, aber es erregte ihn auch.

Er musterte den an das Tau gebundenen Behalter. Er war knapp drei?ig Meter von ihm entfernt. Die Scharfschutzin feuerte aus einer Entfernung von uber dreihundert Metern.

Die Brucke schaukelte im Aufwind. Es wurde nicht leicht sein, ein Ziel zu treffen, das sich in drei Dimensionen bewegte. Genau genommen war es fast unmoglich, ihn zu erwischen. Er konnte den Behalter in zehn Sekunden erreichen, vom Tau abrei?en und in den Abgrund schleudern.

Wenn er dann kehrtmachte und zurucklief, war er ein bewegtes Ziel, das rasch au?er Schussweite geriet. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn traf? Er wurde nicht nur rennen, sondern sich auch uber eine schaukelnde Brucke bewegen -in Bezug zu ihrem Standort also ebenfalls in drei Dimensionen. Es wurde ihr nicht gelingen, einen Treffer zu landen. Au?erdem war sie eine Frau. Auch wenn es keine Frage war, dass sie schie?en konnte: So gut schoss keine Frau.

Ja, es war zu schaffen, bevor die Broadbents entwischten.

Die Frau wurde weder ihn noch den Behalter treffen. Niemals.

Hauser duckte sich und hechtete auf den Gaskanister zu.

Fast im gleichen Augenblick horte er das Pitsch einer vor ihm einschlagenden Kugel. Dann den Knall. Er blieb nicht stehen. Er erreichte den Behalter in dem Augenblick, in dem der zweite Knall an sein Gehor drang. Schon wieder daneben. Wie einfach es war. Hauser hatte gerade die Hand auf den Kanister gelegt, als er ein lautes Ploppen vernahm und vor ihm zischend eine helle Lichtflut erstrahlte. Ihr folgte sengende Hitze. Hauser taumelte zuruck und fuchtelte herum, denn es uberraschte ihn, plotzlich uberall blaue Flammen uber sich hinwegkriechen zu sehen - uber seine Atme, seinen Brustkorb, seine Beine. Er fiel hin und uberschlug sich. Er trat um sich und drosch auf seinen Arm ein, doch er war wie ein brennender Midas: Jede Stelle, die er traf, schien in Flammen aufzugehen. Hauser trat schreiend um sich und rollte sich uber die Brucke. Dann war er plotzlich wie ein auf luftigen Schwingen schwebender Engel. Er schloss die Augen und wehrte sich nicht mehr gegen den langen, kuhlenden, herrlichen Absturz.

82

Tom, der sich gerade noch rechtzeitig umdrehte, sah den brennenden menschlichen Meteor namens Hauser mit einem matten Aufflackern absolut still durch die Dunst-schichten segeln, bevor er schlie?lich verschwand und nur eine schwache Rauchfahne hinterlie?.

In der Mitte der Brucke, wo Hauser sich befunden hatte, stand alles in Flammen.

»Von der Brucke runter!«, schrie Tom. »Lauft!«

Sie rannten, so schnell sie konnten, stutzten ihren Vater und naherten sich den Soldaten, die sich zwar rasch auf festen Boden zuruckzogen, doch weiterhin das Ende der Brucke blockierten. Sie wirkten verwirrt und unsicher und hatten die Gewehre erhoben. Ihnen war alles zuzutrauen.

Zwar hatte Hausers letzter Befehl gelautet, sie passieren zu lassen, aber wurden sie sich daran halten?

Der Anfuhrer der Truppe, ein Leutnant, hob seine Waffe und schrie: »Halt!«

»Lasst uns vorbei!«, rief Tom auf Spanisch. Sie eilten weiterhin auf die Soldaten zu.

»Nein. Zuruck!«

»Hauser hat befohlen, uns passieren zu lassen!« Tom merkte, wie die Brucke bebte. Das brennende Tau wurde jede Sekunde rei?en.

»Hauser ist tot«, sagte der Leutnant. »Ich erteile jetzt die Befehle.«

»Die Brucke brennt, um Himmels willen!«

Ein Lacheln legte sich auf das Gesicht des Leutnants. »Ja.«

Wie aufs Stichwort fing die Brucke an zu schaukeln. Tom, sein Vater und seine Bruder wurden auf die Knie geschleudert. Ein Tau war gerissen und warf einen Funkenschauer in den Abgrund. Die Brucke wippte unter der plotzlich nachlassenden Spannung.

Tom rappelte sich auf und half seinen Brudern, ihren Vater wieder auf die Beine zu hieven.

»Ihr musst uns vorbeilassen!«

Der Leutnant antwortete mit einer dicht uber ihnen da-hinfliegenden Salve. »Ihr sterbt mit der Brucke. Das ist mein Befehl! Die Wei?e Stadt gehort jetzt uns!«

Tom schaute sich um. Rauch und Flammen stiegen vom Mittelteil der Brucke auf. Sie wurden vom Aufwind ge-speist. Dann sah er, dass das zweite Haltetau bereits im Begriff war, sich aufzudroseln. Schon spuckte es brennende Fasern in die Luft.

»Festhalten!«, schrie er und packte seinen Vater.

Das Tau riss mit einem gewaltigen Ruck, und der gesamte Bruckenboden sank wie ein herabgelassener Vorhang nach unten. Sie klammerten sich an die beiden verbliebenen Taue und gaben sich alle Muhe, ihren geschwachten Vater festzuhalten. Die Brucke peitschte wie eine Sprungfeder hin und her.

»Ob's nun Soldaten sind oder nicht«, sagte Tom. »Wir mussen von hier runter, verdammt noch mal.«

Mit den Fu?en auf dem unteren und den Handen am oberen Tau hangelten sie sich voran und halfen ihrem Vater, so gut sie nur konnten.

Der Leutnant und die Soldaten traten zwei Schritte vor.

»Fertig machen zum Feuern!« Die Manner knieten sich in eine stabile Schussposition und legten an.

Tom und seine Familie waren nun noch sieben oder acht Meter von festem Boden entfernt. Die Soldaten konnten sie eigentlich nicht verfehlen. Er wusste: Sie hatten keine andere Wahl. Sie mussten weitergehen, auf die Manner zu, die sie gleich toten wurden.

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