Sobald eine Religion an dein Geld ran will, ist sie einen Schei?dreck wert. Das Beten in Kirchen kostet nichts.«

Vernon nickte.

»Und jetzt zu dir, Tom. Von all meinen Sohnen hast du am wenigsten von mir. Ich habe dich eigentlich nie verstanden. Du bist auch am wenigsten materialistisch eingestellt. Du hast mich schon vor langer Zeit abgelehnt, moglicherweise aus guten Grunden.«

»Vater ...«

»Still! Im Gegensatz zu meinem Lebensstil ist der deine diszipliniert. Ich wei?, du warst eigentlich lieber Palaontologe geworden und hattest nach Dinosaurierfossilien gesucht. Ich habe dich, blod wie ich bin, in die Medizin gedrangt. Ich wei?, dass du ein guter Tierarzt bist, auch wenn ich nie verstanden habe, warum du dein bemerkenswertes Talent damit vergeudest, irgendwelche abgehalfterten Gaule in Navajo-Reservaten zu verarzten. Aber eines habe ich endlich kapiert: dass ich jede Wahl, die du in deinem Leben triffst, ehren und respektieren muss - egal ob es um Dinosaurier oder um Pferde geht. Tu, was du willst - du hast meinen Segen. Au?erdem ist mir deine Rechtschaffenheit aufgefallen. Das ist etwas, woran es mir immer gefehlt hat.

Deswegen hat es mich auch geargert, dergleichen so ausgepragt an einem meiner Sohne zu sehen. Ich wei? nicht, was du mit einem riesigen Erbe angefangen hattest. Ich nehme an, dass du es selbst auch nicht wei?t. Du brauchst das Geld nicht. Eigentlich willst du es auch gar nicht haben.«

»Ja, Vater.«

»Und jetzt Borabay ... Du bist zwar mein altester Sohn, aber ich habe dich erst seit kurzer Zeit. Obwohl wir uns erst vor einer Weile begegnet sind, habe ich irgendwie das Gefuhl, dich am besten zu kennen. Dir habe ich d eine Bewe-gungsfreiheit gelassen. Ich habe das Gefuhl, dass du - wie ich - ein wenig gierig bist. Du kannst es kaum erwarten, von hier zu verschwinden, nach Amerika zu ziehen und ein angenehmes Leben zu fuhren. Du passt eigentlich nicht zu den Tara. Nun, dagegen ist nichts einzuwenden. Du lernst schnell. Das ist ein Vorteil, denn du hattest eine gute Mutter, und ich war als dein Vater nicht hier, um dich zu verkorksen.«

Borabay wollte etwas sagen, doch Broadbent hob Einhalt gebietend die Hand. »Kann man denn nicht mal auf seinem Totenbett eine Rede halten, ohne dass man standig unterbrochen wird? Borabay, deine Bruder werden dir helfen, nach Amerika auszuwandern und die Staatsburgerschaft zu erlangen. Wenn du erst mal dort bist, wirst du zweifellos bald amerikanischer als unsere eigenen Eingeborenen sein.«

»Ja, Vater.«

Broadbent seufzte und schaute Sally an. »Tom, das ist die Frau, die mir leider nie begegnet ist. Wenn du sie von der Angel lasst, bist du ein Trottel.«

»Ich bin aber kein Fisch«, sagte Sally spitz.

»Ah! Genau das hab ich gemeint! Sie ist ja vielleicht ein bisschen widerborstig, aber sie ist eine bemerkenswerte Frau.«

»Da hast du Recht, Vater.«

Broadbent legte eine Pause ein. Er atmete schwer. Das Sprechen bereitete ihm Muhe. Schwei? stand ihm auf der Stirn.

»Ich schreibe jetzt mein Testament. Ich mochte, dass sich jeder von euch einen Gegenstand aus der Hohle aussucht.

Den Rest mochte ich, falls ihr ihn aus dem Land schaffen konnt, dem Museum oder den Museen stiften, die ihr bestimmt. Wir fangen beim Altesten an. - Borabay, du bist dran.«

»Ich suchen zuletzt aus«, sagte Borabay. »Was ich will, sein nicht in Hohle.«

Broadbent nickte. »Na schon. Philip? Aber das wei? ich auch so.« Sein Blick huschte zur Madonna. »Der Lippi gehort dir.«

Philip wollte etwas sagen, aber ihm fehlten die Worte.

»Und jetzt Vernon.«

Stille machte sich breit. »Ich hatte gern den Monet«, sagte Vernon schlie?lich.

»Das hab ich mir schon gedacht. Du konntest wohl funfzig Millionen oder mehr fur ihn kriegen. Ich hoffe, dass du ihn wirklich verkaufst. Aber um eines bitte ich dich, Vernon: Grunde keine Stiftungen. Verschenk kein Geld. Wenn du irgendwann gefunden hast, was du suchst, dann vielleicht bist du so klug, um ein wenig von deinem Geld zu verschenken. Ein wenig.«

»Danke, Vater.«

»Au?erdem gebe ich euch einen Sack voller Edelsteine mit, damit ihr die Erbschaftssteuer bezahlen konnt.«

»In Ordnung.«

»Jetzt bist du dran, Tom. Wie lautet deine Wahl?«

Tom schaute Sally an. »Wir hatten gern den Codex.«

Broadbent nickte. »Eine interessante Wahl. Er gehort euch. Und jetzt bist du dran, Borabay. Was fur eine geheimnisvolle Sache mochtest du haben, die sich nicht in der Hohle befindet?«

Borabay trat an sein Lager und flusterte ihm etwas ins Ohr.

Der alte Mann nickte. »Ausgezeichnet. Betrachte es als erledigt.« Er schwenkte den Kugelschreiber. Sein Gesicht war von Schwei?perlen bedeckt. Sein Atem ging schnell und flach. Tom erkannte, dass er nicht mehr lange bei klarem Verstand sein wurde. Er wusste, wie ein Tod durch Blutvergiftung aussah.

»Und jetzt«, sagte Maxwell Broadbent, »lasst mich zehn Minuten allein, damit ich meinen letzten Willen aufschreiben kann. Dann rufen wir Zeugen hinzu und bringen die Sache zu Ende.«

85

Tom stand mit seinen Brudern und Sally in einem kathedralenartigen Hain und beobachtete die lange Prozession, die soeben uber den gewundenen Weg zu der uber dem Dorf ins Kalkgestein geschlagenen Gruft marschierte. Der Anblick war beeindruckend. Der verstorbene Maxwell Broadbent nahm die Spitze der Prozession ein - er wurde von vier Kriegern auf einer Bahre getragen. Man hatte ihn nach einem uralten Maya-Verfahren einbalsamiert. Wahrend der Trauerfeier hatte der neue Tara-Hauptling ihn in El Dorado verwandelt, den Vergoldeten aus der Indianerlegende. Genau so hatten die Mayas ihre Herrscher bestattet. Er hatte den Toten mit Honig bestrichen und anschlie?end mit Goldstaub bespruht. Er hatte ihn vollig eingehullt, um ihm die unsterbliche Gestalt zu verleihen, die er im Jenseits annehmen wurde.

Der Bahre folgte eine lange Prozession von Indianern; sie trugen die Grabbeigaben: Korbe mit Trockenobst, Gemuse und Nussen sowie Kruge mit Wasser und Ol. Dann kamen zahllose traditionelle Maya-Artefakte: Jadestatuen, bemalte Gefa?e, Blattgoldteller, Kruge, Waffen, Kocher voller Pfeile, Netze, Speere - alles, was Maxwell Broadbent im jenseitigen Leben vielleicht gebrauchen konnte.

Schlie?lich hinkte ein Indianer mit einem Picasso-Gemalde um die Wegbiegung. Es stellte eine nackte gehornte Drei-augige mit einem viereckigen Kopf dar. Ihm folgte, von zwei schwitzenden Indianern getragen, der schwergewichtige Pontormo mit der Verkundigungsszene.

Dann kamen Bronzinos Portrat der Bia de Medici, zwei romische Statuen, noch ein paar Picassos, ein Braque, zwei Modiglianis, ein Cezanne und weitere Statuen: Grabbeigaben aus dem 20. Jahrhundert. Die bizarre Prozession schritt den Hugel hinauf und verschwand dann im Hain.

Ganz am Ende kam - wenn man es denn so bezeichnen wollte - das Orchester: eine Gruppe von Mannern, die Flote spielten, lange Holztrompeten bliesen und Stocke aneinander hauten. Den Abschluss bildete ein Junge, der mit aller Kraft auf eine schabige, vermutlich aus den USA stammende Basstrommel schlug.

Tom empfand eine starke Mischung aus Trauer und Lau-terung. Eine Ara war zu Ende gegangen. Sein Vater war tot.

Er musste sich nun endgultig von seiner Kindheit verab-schieden. Es wurden Gegenstande an ihm vorbeigetragen, die er kannte und gern hatte; Gegenstande, mit denen er aufgewachsen war. Auch sein Vater hatte sie geliebt. Als die Prozession die Gruft erreichte, wurde alles - die Menschen wie die Grabbeigaben - von der Dunkelheit verschluckt. Dann kehrten die Leute blinzelnd und mit leeren Handen ins Freie zuruck. Die Sammlung seines Vaters wurde bis zu dem Tag, an dem er und seine Bruder wiederkamen, um ihr Eigentum zu beanspruchen, sicher, trok-ken verwahrt und beschutzt sein. Die Maya-Schatze wurden naturlich fur immer in der Kammer bleiben, damit Maxwell Broadbent im Jenseits ein schones und gluckliches Leben fuhren konnte. Doch die

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