eingebildet, wenn ich noch mal einen Blick auf die Madonna werfe, kommt alles wieder in Ordnung.«

Sie verbrachten die Nacht in der Hutte und wachten uber ihren im Sterben liegenden Vater. Er war nervos, aber die Antibiotika hielten die Infektion - jedenfalls im Moment - weitgehend in Schach. Als der Morgen graute, war der alte Mann noch immer bei klarem Bewusstsein.

»Ich brauch was zu trinken«, sagte er mit heiserer Stimme.

Tom nahm einen Krug, verlie? die Hutte und eilte zu einem Bach in der Nahe. Das Tara-Dorf erwachte gerade erst zum Leben. Feuer wurden entzundet. Die formschonen franzosischen Kupfer- und Nickeltopfe, Pfannen und Terri-

nen waren uberall in Gebrauch. Rauch stieg in den mor-gendlichen Himmel auf. Auf dem Dorfplatz scharrten die Huhner. Magere Hunde schlichen auf der Suche nach Abfallen herum. Ein Kleinkind mit einem Harry-Potter-T- Shirt kam auf wackligen Beinen aus einer Hutte und strullte irgendwo hin. Selbst bei so entlegenen Stammen hielt die Zivilisation allmahlich Einzug. Wie lange wurde es wohl noch dauern, bis die Wei?e Stadt ihre Schatze und Geheimnisse der Allgemeinheit zuganglich machte?

Als Tom mit dem Wasser zuruckkam, horte er eine schrille Stimme. Cahs alte Ehefrau trat aus ihrer Hutte und winkte ihm mit einer verschrumpelten Hand zu. »Wahka«, sagte sie gestikulierend.

Tom blieb vorsichtig stehen.

Wahka!

Als er einen argwohnischen Schritt auf sie zu machte, erwartete er irgendwie, dass sie ihn an den Haaren ziehen oder ihm an die Nusse greifen wurde.

Doch die Frau nahm seine Hand und zog ihn zu ihrer Hutte.

Wahka!

Tom folgte ihrer gebuckten Gestalt zogernd in den ver-qualmten Raum.

Und dort, im schwachen Licht, lehnte Filippo Lippis Madonna der Trauben an einem Pfosten. Tom schaute sich das Renaissance-Meisterwerk an, dann ging er unsicheren Schritts darauf zu. Er war wie vom Donner geruhrt und konnte kaum glauben, dass es echt war. Der Kontrast zwi-

schen der schabigen Hutte und dem Gemalde war zu gro?.

Sogar im Dunkeln schien es aus sich selbst heraus zu leuchten: Die blonde Madonna - sie war kaum mehr als ein junges Madchen - mit dem Kind auf dem Arm, das sich mit zwei rosafarbenen Fingern eine Traube in den Mund schob.

Uber den beiden flatterte, in Blattgold erstrahlend, eine Taube dahin.

Tom schaute die Alte verdutzt an. Ihr faltiges Gesicht musterte ihn mit einem breiten Lacheln. Ihr rosiges Zahnfleisch leuchtete. Dann ging sie auf das Gemalde zu, hob es auf und hielt es ihm hin.

Wahka!

Ihre Gesten besagten, er solle es seinem Vater in die Hutte bringen. Dann trat sie hinter ihn und schubste ihn sanft mit der Hand. »Teh! Teh!«

Tom trat mit dem Gemalde auf den Dorfplatz hinaus. Cah hatte es offenbar zuruckbehalten. Es war ein Wunder. Als Tom die Hutte betrat, hob er das Bild hoch. Philip musterte es fluchtig, dann stie? er einen Schrei aus und wich zuruck.

Maxwell Broadbent stierte es mit gro?en Augen an. Zuerst sagte er kein Wort, dann legte er sich in die Hangematte zuruck. Seine Miene wirkte angstlich.

»Verdammt noch mal, Tom. Jetzt fangen die Halluzinationen an.«

»Nein, Vater, nein.« Tom hielt ihm das Gemalde hin. »Es ist echt. Fass es an.«

»Nein«, schrie Philip. »Fass es nicht an!«

Broadbent streckte eine zitternde Hand aus und beruhrte die bemalte Oberflache.

»Hallo«, murmelte er. Er schaute Tom an. »Ich traume also doch nicht.«

»Du traumst nicht.«

»Wo, um alles in der Welt, hast du das Bild her?«

»Sie hatte es.« Tom drehte sich zu der Greisin um, die zahnlos grinsend im Turrahmen stand. Borabay stellte ihr einige Fragen, die sie ausfuhrlich beantwortete. Er horte ihr zu und nickte. Dann drehte er sich zu seinem Vater um.

»Sie sagen, ihr Gatte gierig. Halten zuruck viele Dinge von Gruft. Er alles verstecken in Hohle hinter Dorf.«

»Was fur Dinge?«, fragte Broadbent schnell.

Borabay redete wieder auf Cahs Gattin ein.

»Sie nicht wissen. Sie sagen, Cah fast ganzen Schatz von Gruft gestohlen. Er hat Kisten mit Steine gefullt. Er sagen, er nicht wollen Schatze von wei?e Mann in Tara-Grabkammer bringen.«

»Ich hab's fast geahnt«, sagte Broadbent. »Als ich in der Gruft war, sind mir ein paar Kisten aufgefallen, die hohler klangen, als sie es hatten sein durfen: fast leer. Ich konnte sie aber im Dunkeln nicht offnen. Deswegen bin ich kurz vor Hausers Auftauchen noch mal in die Kammer gegangen, um zu sehen, ob ich das Ratsel losen kann. Cah war ein verdammt schrager Vogel. Ich hatte es ahnen sollen. Er hatte es von Anfang an so geplant. Gott, er war ebenso gierig wie ich!«

Seine Blicke tasteten das Gemalde ab. Das Bild reflektierte das Licht des Feuers. Der flackernde Schein spielte auf dem Gesicht der heiligen Jungfrau. Wahrend er es anschaute, schwieg er. Dann schloss er die Augen und sagte: »Holt mir Schreibzeug. Nun, da ich euch etwas hinterlassen kann, werde ich ein neues Testament aufsetzen.«

84

Sie brachten Maxwell Broadbent einen Stift und eine Rolle Borkenpapier.

»Sollen wir dich allein lassen?«, fragte Vernon.

»Nein. Ich brauche euch hier. Dich auch, Sally. Kommt her. Stellt euch auf.«

Sie kamen und bauten sich um die Hangematte auf. Maxwell Broadbent rausperte sich. »Nun, meine Sohne. Und ...«

Er schaute Sally an. »Meine kunftige Schwiegertochter. Jetzt geht's los.«

Er hielt inne.

»Was fur tolle Sohne ich doch habe. Es ist 'ne Schande, dass ich so lange gebraucht habe, um das zu begreifen.« Er rausperte sich erneut. »Ich hab nicht mehr viel Kraft, und mein Kopf fuhlt sich an wie ein Kurbis, also werde ich's kurz machen.«

Sein noch immer klarer Blick wanderte durch den Raum.

»Herzlichen Gluckwunsch. Ihr habt's geschafft. Ihr habt euch euer Erbe verdient und mir das Leben gerettet. Ihr habt mir gezeigt, was fur ein absoluter Blodian ich als Vater war ...«

»Vater ...«

»Unterbrecht mich nicht! Bevor ich gehe, hab ich noch einen Ratschlag fur euch.« Er rang nach Luft. »Jetzt, da ich auf dem Totenbett liege, wie kann ich da widerstehen?« Er atmete tief durch: »Philip, du bist mir am ahnlichsten. Ich habe in den letzten Jahren gesehen, dass die Erwartung ei-

nes gro?en Erbes einen Schatten auf dein Leben geworfen hat. Zwar bist du nicht von Natur aus gierig, aber wenn einem eine halbe Milliarde ins Haus steht, wirkt das zerset-zend. Ich wei?, dass du uber deine Verhaltnisse lebst und in deinen New Yorker Kreisen versucht hast, den reichen und kultivierten Genie?er zu spielen. Du leidest an der gleichen Krankheit wie ich fruher auch: Du willst das Schone an sich besitzen. Hor damit auf. Dafur sind Museen da.

Fuhre ein einfacheres Leben. Du schatzt die Kunst. Das ist schon Lohn genug, nicht Anerkennung und Ruhm. Au?erdem habe ich gehort, dass du ein verdammt guter Lehrer sein sollst.«

Philip nickte kurz. Er wirkte insgesamt nicht sehr erfreut.

Broadbent holte mehrmals hektisch Luft. Dann nahm er Vernon ins Visier: »Vernon, du bist ein Suchender. Jetzt wird mir endlich klar, wie wichtig es fur dich ist, so zu sein.

Dein Problem ist, dass du dich ausnutzen lasst. Du bist arg-los. Doch es gibt eine alte Faustregel, Vernon:

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