Er hatte es mit vernunftigen Menschen zu tun. Dann sagte er so leise und freundlich wie moglich: »Jemand soll dem Indianer sagen, er soll Pfeil und Bogen ablegen. Aber langsam und vorsichtig -und ohne plotzliche Bewegungen.«

Borabay nahm den Kocher und den Bogen ab und lie? beides vor sich auf den Boden fallen.

»Er versteht also Englisch. Gut. Nun bitte ich Sie alle, nacheinander die Macheten aus der Scheide zu ziehen und auf den Boden zu legen. Sie zuerst, Philip. Bleiben Sie sitzen.«

Philip zog seine Machete und lie? sie fallen.

»Vernon?«

Vernon tat es ihm gleich. Dann folgte Tom.

»Nun mochte ich, dass Sie zu Ihren abgelegten Rucksak-ken hinubergehen, Philip. Bringen Sie sie her. Aber schon langsam.« Hauser vollfuhrte eine Bewegung mit der Mundung seines Schie?eisens.

Philip sammelte die Rucksacke ein und legte sie Hauser zu Fu?en ab.

»Ausgezeichnet! Jetzt leeren wir unsere Hosentaschen.

Stulpt sie heraus und lasst sie drau?en. Lasst alles vor euch auf den Boden fallen.«

Alle gehorchten. Hauser war uberrascht, als er feststellte, dass sie - im Gegensatz zu seiner Annahme - auch nicht den kleinsten Gegenstand aus der Grabkammer eingesteckt hatten.

»Jetzt steht ihr auf. Alle zusammen, gleichzeitig, und zwar in Zeitlupe. Gut! Jetzt bewegt ihr die Beine von der Kniescheibe abwarts und macht klitzekleine Schrittchen.

Und wehe, ihr haltet die Arme nicht still. Geht da hinter.

Bleibt zusammen. Ja, so. Ein Schritt nach dem anderen.«

Als sie auf diese lacherliche Weise nach hinten schlurften, trat Hauser vor. Wie es fur Menschen in Gefahr - und speziell fur Angehorige einer aus nachster Nahe mit einer Schusswaffe bedrohten Familie - typisch war, zogen alle den Kopf ein. Hauser hatte dergleichen schon gesehen. Das machte es ihm erheblich leichter.

»Alles ist in bester Ordnung«, sagte er leise. »Ich habe nicht vor, jemanden zu verletzen. Ich bin nur auf Max'

Grabbeigaben aus. Ich bin Profi, und wie die meisten Profis halte ich nichts vom Toten.« Stimmt. Sein Finger liebkoste die glatte Kunststoffkrummung des Abzugs, fand den Druckpunkt und schob ihn langsam in Schnellfeuerposition. Jetzt hatte er die Broadbents, wo er sie haben wollte.

Jetzt konnten sie nichts mehr tun. Sie waren so gut wie tot.

»Keinem wird etwas zuleide getan.« Er konnte einfach nicht dagegen an - er musste es einfach hinzufugen: »Keiner wird auch nur das Geringste spuren.« Er ubte nun wirklich Druck aus, fuhlte das kaum wahrnehmbare Nachgeben des Abzugs, das er so gut kannte; die Millisekunde der Ent-spannung nach dem Ertasten des Widerstandes. Gleichzeitig sah er am Rand seines Blickfeldes eine rasche Bewegung. Vor seinen Augen zuckten Blitze auf, er fiel hin und feuerte im Sturz wild um sich. Die Kugeln prallten von den Felswanden ab. Bevor Hauser auf dem Steinboden landete, konnte er einen fluchtigen, erschreckenden Blick auf das werfen, was da uber ihn gekommen war.

Das Etwas war geradewegs aus der Gruft gefegt. Es war halb nackt, sein Gesicht so wei? wie eine Vampirfratze. Die Augen lagen tief in den Hohlen. Es stank nach Verwesung, seine knochigen Gliedma?en waren so grau und hohl wie der Tod. Es schwenkte eine brennende Fackel, mit der es ihn zu Boden geschlagen hatte, und drosch, den Mund voller brauner Zahne, erneut kreischend auf ihn ein.

Der Teufel sollte ihn holen, wenn das nicht Maxwell Broadbents Geist war!

72

Als Hauser zu Boden fiel, uberschlug er sich, ohne die Waffe loszulassen. Er fuhr herum, um wieder in Schussposition zu gelangen, doch es war zu spat: Maxwell Broadbents zerlumpter Geist hatte sich auf ihn gesturzt. Er brullte, schlug um sich und drosch Hauser die Fackel ins Gesicht. Funkenschauer stoben auf. Hauser roch versengtes Haar. Er versuchte, die Hiebe mit einer Hand abzuwehren, wahrend er das Gewehr mit der anderen umklammert hielt. Es war unmoglich, einen Schuss abzugeben, solange der Angreifer im Begriff war, ihm mit der brennenden Fackel die Augen aus-zustechen. Da gelang es Hauser, sich loszurei?en. Er lag auf dem Rucken, druckte blindlings ab und schlug in der Hoffnung, irgendetwas zu treffen, mit dem Lauf um sich. Doch das Gespenst schien verschwunden zu sein.

Hauser horte auf zu schie?en und setzte sich vorsichtig hin. Sein Gesicht und sein rechtes Auge fuhlten sich an, als stunden sie in Flammen. Er riss die Feldflasche aus seinem Rucksack und besprengte sich die Wangen mit Wasser.

Gott, tat das weh!

Er tupfte das Wasser ab. Hei?e Asche und Funken hatten sich in seine Nasenlocher, unter ein Augenlid, in sein Haar und die Backe gefressen. War das monstrose Etwas aus der Grabkammer wirklich ein Geist gewesen? Hauser offnete sein rechtes Auge. Es schmerzte. Als er es vorsichtig mit der Fingerkuppe betastete, bemerkte er, dass nur die Braue und das Lid verletzt waren. Die Hornhaut war intakt, er konnte noch sehen. Er schuttete etwas Wasser auf ein Taschentuch, wrang es aus und legte es sich aufs Gesicht. Was war passiert, verdammt? Obwohl er immer mit dem Unerwarteten rechnete, war er in seinem ganzen Leben noch nie so erschrocken. Er hatte das Gesicht sogar noch nach vierzig Jahren wiedererkannt. Er kannte jedes Detail, jeden Ausdruck, jedes Muskelzucken. Es gab keinen Zweifel: Maxwell Broadbent war hochstpersonlich wie ein kreischender Totengeist aus der Grabkammer gesturmt. Broadbent, den er tot und begraben gewahnt hatte: wei? wie ein Bettlaken, Haar und Bart gestraubt, ausgemergelt wie ein Skelett. Und au?er sich.

Hauser fluchte. Was hatte er sich da blo? gedacht? Broadbent lebte und befand sich in diesem Moment auf der Flucht. Um wieder klar denken zu konnen, schuttelte Hauser in plotzlicher Wut den Kopf. Was war los mit ihm, verdammt? Er hatte sich blenden lassen. Sein Herumgehocke hatte den Broadbents mindestens einen dreiminutigen Vorsprung verschafft.

Hauser schulterte rasch die Steyr AUG, machte einen Schritt nach vorn und blieb wieder stehen.

Auf dem Boden war Blut. Der Fleck war unubersehbar und so gro? wie ein halber Dollar. Nicht weit von ihm entfernt sah er einen ebenso gro?en zweiten. Hauser stellte fest, dass er langsam ruhiger wurde. Benotigte er womoglich eine Bestatigung, dass Broadbents angeblicher Geist echtes Blut verstromte? Er hatte ihn also doch getroffen.

Vielleicht auch einen der anderen? Streifschusse aus einer Steyr AUG waren nicht von Pappe. Hauser gonnte sich einen Augenblick, um das Spritzmuster zu analysieren, die Menge des Blutes, die Flugbahn. Die Wunde war keine Kleinigkeit. Insgesamt lag der Vorteil noch immer auf seiner Seite.

Er schaute zu der Steintreppe hinauf, dann lief er los, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Er wollte ihre Fahrte aufnehmen. Er wurde sie aufspuren und umbringen.

73

Wahrend die Schusse noch in den fernen Bergen wider-hallten, hetzten sie die Treppen durch die Felsen hinauf.

Als sie den Pfad auf dem Klippengipfel erreichten, liefen sie auf die grune Wand aus Lianen- und Kletterpflanzen zu, die die Ruinen der Brustwehr der Wei?en Stadt uberwucherten. In ihrem Deckung bietenden Schatten sah Tom seinen Vater straucheln. Ein dunner Blutfaden lief an seinem Bein herab.

»Wartet! Vater ist verletzt!«

»Es ist nichts.« Broadbent stolperte erneut und stohnte auf.

Vor der Mauer hielten sie kurz an.

»Lasst mich in Ruhe!«, brullte der alte Mann.

Tom scherte sich nicht um ihn. Er wischte ihm das Blut von der Wunde ab, untersuchte sie und lokalisierte die Stellen, wo die Kugel ein- und ausgetreten war. Sie war schrag durch die rechte Seite des Unterbauchs

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