68
Die vier Bruder standen wie angewurzelt da und starrten das finstere Rechteck an. Sie konnten sich weder ruhren noch etwas sagen. Die Sekunden tickten dahin und wurden zu Minuten. Der faulig riechende Luftstrom ebbte ab. Keiner wagte sich einen Schritt nach vorn, um die Grabkammer zu betreten. Keiner wollte sehen, welches Grauen sich darin befand.
Dann horten sie ein Gerausch. Ein Husten. Dann ein anderes: schlurfende Schritte.
Alle waren wie gelahmt. Keiner brachte einen Ton heraus.
Wieder das Schlurfen. Tom wurde klar: Ihr Vater lebte noch. Er kam aus der Gruft heraus. Tom konnte sich noch immer nicht ruhren. Den anderen erging es ebenso. Als die Spannung schier unertraglich wurde, tauchte in der Mitte des schwarzen Rechtecks ein geisterhaftes Gesicht auf. Ein weiterer schlurfender Schritt, dann wurde in der Finsternis eine Erscheinung sichtbar. Noch ein Schritt brachte die Gestalt in die Wirklichkeit.
Er wirkte grauenhafter als eine Leiche, als er leicht wankend vor ihnen stehen blieb und blinzelte. Er war splitternackt, verschrumpelt, gebuckt, schmutzig, klapperdurr und roch wie der personifizierte Tod. Rotz lief ihm aus der Nase. Sein Kiefer hing wie der eines Irren herunter. Er blinzelte, zog den Rotz hoch und blinzelte erneut ins Licht der Morgendammerung. Sein Blick war farblos, leer, nicht begreifend.
Maxwell Broadbent.
Die Zeit verging. Sie standen noch immer sprachlos und wie angewurzelt da.
Broadbent schaute sie an. Eines seiner Augen zuckte. Er blinzelte erneut, dann richtete er sich auf. Der Blick seiner tief in den Hohlen liegenden Augen huschte von einem zum anderen. Er holte lange und rasselnd Luft.
So gern Tom es auch getan hatte - er konnte sich weder bewegen noch etwas von sich geben. Er musterte seinen Vater, dessen Gestalt sich nun etwas weiter aufrichtete.
Wieder huschte sein Blick uber ihre Gesichter, eingehender diesmal. Er hustete. Seine Lippen bewegten sich kurz, doch er sprach kein Wort. Dann hob er eine zittrige Hand und stie? ein Krachzen aus. Tom und die anderen beugten sich vor in dem Bemuhen, ihn zu verstehen.
Broadbent rausperte sich, knurrte, kam einen Schritt naher. Er holte noch einmal Luft und sagte endlich etwas:
Es brullte aus ihm heraus, hallte uber die Klippen hinweg und warf in der Grabkammer Echos. Der Bann war gebrochen. Es war ihr Vater, wie er leibte und lebte. Tom und die anderen eilten herbei, um den alten Mann zu umarmen.
Maxwell Broadbent druckte sie heftig an sich - alle zugleich und dann noch einmal jeden Einzelnen. Seine Arme waren uberraschend kraftig.
Nach einer ganzen Weile machte er einen Schritt zuruck.
Er wirkte nun so, als habe er seine alte Gro?e wiedererlangt.
»Herrgott«, sagte er und wischte sich ubers Gesicht.
»Herrgott. «
Alle schauten ihn an. Keiner wusste, wie er reagieren sollte.
Der alte Mann schuttelte seinen wuchtigen grauen Schadel.
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Philip. »Hier, nimm das.« Er zog sein Hemd aus.
»Danke, Philip.« Maxwell streifte sich das Hemd uber und knopfte es zu, wobei seine Finger schwerfallig herum-hantierten. »Wer kummert sich eigentlich um deine Wasche? Das Hemd sieht ja schauerlich aus.« Sein Versuch zu lachen endete in einem Hustenanfall.
Als Philip anfing, seine Hose auszuziehen, hob Broadbent Einhalt gebietend eine massive Hand. »Ich lass meine Sohne doch hier nicht strippen ...«
»Vater ...«
»Sie haben mich nackt bestattet. Ich bin dran gewohnt.«
Borabay griff in seinen Palmwedelrucksack und zog ein langes, gemustertes Stuck Leinen hervor. »Du das hier anziehen.«
»Dann mach ich mal auf Einheimisch, was?« Broadbent wickelte sich den Stoff schwerfallig um die Taille. »Wie wird das befestigt?«
Borabay half ihm, den Stoff mit einer geflochtenen Hanf-kordel an der Taille zu binden.
Der alte Mann knotete die Schnur fest und blieb wortlos stehen. Niemand wusste, was er sagen sollte.
»Gott sei Dank, dass du am Leben bist«, lie? Vernon verlauten.
»Zuerst war ich mir da gar nicht so sicher«, erwiderte Broadbent. »Als ich eine Weile da drin war, dachte ich, ich sei tot und zur Holle gefahren.«
»Ja, wie denn das?«, sagte Philip. »Der alte Atheist glaubt plotzlich an die Holle?«
Broadbent schaute zu ihm auf, lachelte und schuttelte den Kopf. »Es hat sich viel verandert.«
»Sag blo? nicht, du hast jetzt zu Gott gefunden.«
Broadbent wiegte den Kopf, klopfte Philip auf die Schulter und gab ihm einen liebevollen Klaps. »Freut mich, dich zu sehen, mein Sohn.«
Er wandte sich zu Vernon um. »Dich auch, Vernon.« Er begutachtete sie alle mit seinen faltigen blauen Augen.
»Tom, Vernon, Philip, Borabay - ich bin uberwaltigt.« Er legte einem nach dem anderen die Hand auf den Kopf. »Ihr habt es geschafft. Ihr habt mich gefunden. Mein Proviant und mein Wasser sind fast aufgebraucht. Ich hatte vielleicht noch ein, zwei Tage durchgehalten. Ihr habt mir eine zweite Chance gegeben. Ich habe sie zwar nicht verdient, aber ich will sie nutzen. Ich habe in dieser dunklen Gruft uber vieles nachgedacht ...«
Er schaute auf und warf einen Blick auf das violette Meer von Bergen und den goldenen Himmel. Dann reckte er sich und atmete ein.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Vernon.
»Falls du den Krebs meinst... Ich wei? genau, dass er noch da ist. Er hat mich nur noch nicht umgemaht. Ich hab noch ein paar Monate. Das Schei?zeug ist in meinem Gehirn - ich hab's euch nie erzahlt. Aber bisher ist es ganz gut gegangen. Ich fuhle mich gro?artig.« Er schaute sich um. »Lasst uns von hier verschwinden.«
»Leider wird das so einfach nicht gehen«, meinte Tom.
»Wieso nicht?«
Tom warf einen kurzen Blick auf seine Bruder. »Wir haben ein Problem - es hei?t Hauser.«
»Hauser?!« Broadbent war verdutzt.
Tom nickte. Dann berichtete er ihm alle Einzelheiten von ihrer anfangs ja getrennten Reise.
»Hauser!«, wiederholte Broadbent und schaute Philip an.
»Du hast dich mit diesem Schweinehund eingelassen?«
»Tut mir Leid«, sagte Philip. »Ich dachte ...«
»Du dachtest, er wusste vielleicht, wo ich stecke. Es war mein Fehler: Ich hatte diese Moglichkeit vorhersehen mussen. Hauser ist ein erbarmungsloser Sadist. Einmal hatte er fast ein Madchen umgebracht. Es war der gro?te Fehler meines Lebens, mich mit ihm zusammenzutun.« Broadbent lie? sich auf einem Felsen nieder und schuttelte seinen zer-zausten Kopf. »Ich kann es kaum fassen, welche Gefahren ihr auf euch genommen habt, um hierher zu kommen. Gott, was habe ich fur einen Fehler gemacht - der letzte von vielen gleichwohl.«
»Du unser Vater sein«, sagte Borabay.
Broadbent schnaubte. »Ja, aber was fur einer! Dass ich euch einer so verdammten Prufung unterzogen habe! Damals hat mir die Idee gefallen. Ich verstehe nicht, was in mich gefahren war. Was war ich doch fur ein damlicher, bescheuerter, alter Idiot.«
»Na ja, so wie in
»Vier Sohne«, sagte Borabay.