Borabay steckte einige Brandfackeln in die Felsspalten, dann nahmen sie eine grundliche Untersuchung der Tur vor, die zur Grabkammer fuhrte. Sie bestand aus massivem Fels und sa? in einem wei?en Kalksteinrahmen. Sie verfugte weder uber ein Schlusselloch noch uber Knopfe oder verborgene Hebel. Das die Grabkammer umgebende Gestein befand sich im Naturzustand, sah man einmal davon ab, dass zu beiden Seiten der Tur mehrere Locher in den Fels gebohrt waren. Als Tom sich zu so einem Loch hinab-beugte, spurte er eine kuhle Brise - die Gruft war offenbar mit Luftlochern versehen.
Als sie die nahere Umgebung der Grabkammer untersuchten, erhellte sich der Himmel im Osten mit dem ersten Licht der Morgendammerung. Sie klopften an die Tur, sie riefen, sie schlugen auf die Tur ein, stemmten sich gegen sie und lie?en nichts unversucht, um sie zu offnen. Nichts zeigte Wirkung. Eine Stunde verging, doch die Tur bewegte sich nicht.
»So geht's nicht«, sagte Tom schlie?lich. »Wir mussen ganz anders an die Sache rangehen.«
Alle zogen sich auf den nahe gelegenen Sims zuruck. Die Sterne waren verschwunden. Hinter den Bergen hellte sich der Himmel auf. Sie hatten eine atemberaubende Aussicht uber eine fantastische Wildnis aus gezackten wei?en Gipfeln, die wie Zahne aus dem weichen grunen Gaumen des Dschungels ragten.
»Wenn wir uns die zerstorten Turen anschauen, kriegen wir vielleicht raus, wie es geht«, meinte Tom.
Sie nahmen den Weg zuruck, den sie gekommen waren, und stie?en vier, funf Turen weiter auf eine aufgebrochene Gruft. Die Tur war in der Mitte gespalten; eine Halfte war nach au?en gefallen. Borabay zundete eine neue Fackel an und blieb unschlussig vor der Tur stehen.
Er drehte sich zu Philip um. »Ich Feigling«, sagte er und reichte ihm die Fackel. »Du mutiger als ich, Bruderchen. Du gehen.«
Philip klopfte Borabay kurz auf die Schulter, dann nahm er die Fackel und betrat die Gruft. Tom und Vernon schlos-sen sich ihm an.
Der Raum war nicht gro?. Er ma? etwa funf Quadrat-meter. In der Mitte ragte eine Steinplattform auf. Auf ihr hockte eine eingewickelte Mumie - noch immer aufrecht, die Knie bis zum Kinn hinaufgezogen, die Hande im Scho? gefaltet. Die langen schwarzen Haare des Toten waren im Nacken zu einem Zopf geflochten, seine vertrockneten Lippen lie?en die Zahne sehen. Der Unterkiefer hing herab; er schien einen Gegenstand ausgespuckt zu haben. Als Tom genauer hinsah, sah er, dass es sich um eine Insektenlarve aus Jade handelte. Die Mumie hielt einen glatten, etwa funf-undvierzig Zentimeter langen und mit Schriftzeichen verzierten Holzstab in der Hand und war von Grabbeigaben in Form von Terrakotta-Figurchen, zerbrochenen Topfen und beschrifteten Steintafeln umgeben.
Tom hockte sich hin, um in Erfahrung zu bringen, wie die Tur sich bewegen lie?. Eine Rille verlief uber den Steinboden. In sie waren glatte Steinwalzen eingesetzt, auf denen die Tur ruhte. Da die Walzen nicht befestigt waren, nahm Tom eine an sich und reichte sie Philip. Philip musterte sie von allen Seiten.
»Es ist ein einfacher Mechanismus«, erklarte er. »Man versetzt die Tur ins Rollen, dann geht sie von selbst auf. Die Frage ist nur:
Sie untersuchten die Tur von allen Seiten, fanden aber keine offensichtliche Antwort. Als sie die Gruft verlie?en, wartete Borabay auf sie. Seine Miene zeugte von Angst.
»Was finden?«
»Nichts«, sagte Philip.
Als Vernon aus der Gruft kam, hielt er den Holzstab in der Hand, den die Mumie umklammert hatte. »Was ist das, Borabay?«
»Schlussel zu Unterwelt.«
Vernon lachelte. »Interessant.« Als sie zur Grabkammer ihres Vaters zuruckkehrten, nahm er den Stab mit. »Komisch, dass er so perfekt in die Luftlocher passt«, sagte er.
Er schob den Stab in mehrere Locher hinein, bis er in einem beinahe stecken blieb. »Man kann die aus den Lochern kommende Luft deutlich spuren.« Er ging von einem Loch zum anderen, prufte die Luftstrome mit der Hand und blieb dann stehen. »Hier ist eins, aus dem keine Luft dringt.«
Er schob den Stab hinein. Nach rund funfunddrei?ig Zentimetern ging es nicht mehr weiter. Zehn Zentimeter ragten ins Freie. Vernon hob einen schweren glatten Stein auf und reichte ihn Philip.
»Die Ehre gebuhrt dir. Hau drauf.«
Philip packte den Stein, spannte sich an, holte aus und lie? ihn mit aller Wucht auf den aus dem Loch ragenden Stab krachen. Es machte
Nichts passierte. Philip begutachtete das Loch. Der Holzstab war bis ans Ende hineingerutscht und steckte fest.
»Verdammt noch mal!«, schrie er aufgebracht. Er sturzte sich auf die Grufttur und versetzte ihr einen festen Tritt.
»Geh auf, du Mistding!«
Urplotzlich ertonte ein mahlendes Gerausch. Der Boden vibrierte. Die Steintur glitt langsam beiseite. Ein dunkler Spalt wurde sichtbar. Als die Tur auf den Steinwalzen in der Rille dahinglitt, wurde der Spalt nach und nach breiter.
Kurz darauf hielt sie mit einem dumpfen Schlag an.
Die Gruft war offen.
Alle standen da und starrten auf das gahnende schwarze Rechteck. Die Sonne ging gerade uber dem fernen Gebirge auf und badete die Felsen in goldenes Licht. Ihr Einfalls-winkel war jedoch zu schrag, um in das Gruftinnere zu dringen, und deswegen blieb auch weiterhin alles absolut schwarz. Niemand ruhrte sich. Sie waren wie gelahmt und zu angstlich, um etwas zu sagen oder auch nur uberrascht aufzuschreien. Eine pestilenzartige Wolke von Verwesungder Gestank des Todes - wehte ihnen aus dem Grab entgegen.
67
Marcus Aurelius Hauser wartete im angenehmen Licht der Morgendammerung. Sein Finger streichelte den schlichten Abzug der Steyr AUG. Abgesehen von seinem Korper war die Waffe vermutlich der Gegenstand, den er am besten kannte. Ohne sie fuhlte er sich nie ganz normal. Der von der standigen Beruhrung erwarmte Metalllauf fuhlte sich fast lebendig an, und der Kunststoffschaft, den seine Hande seit Jahren streichelten, war so glatt wie ein Frauenschenkel.
Hauser druckte sich auf dem zur Totenstadt hinabfuhren-den Pfad in eine bequeme Nische. Obwohl er die Broadbents von seinem erhohten Aussichtspunkt nicht sah, wusste er, dass sie sich unter ihm befanden und den gleichen Ruckweg nehmen mussten. Sie hatten seine Hoffnung exakt erfullt und ihn zur Gruft des alten Max gefuhrt. Und nicht nur zu
Nun hatten die Broadbents ihren Zweck erfullt. Aber er war nicht in Eile. Die Sonne stand noch nicht hoch genug.
Er wollte ihnen noch viel Zeit gonnen, damit sie es sich bequem machen konnten; damit sie sich entspannten und in Sicherheit wahnten. Au?erdem wollte er das Unternehmen noch einmal uberdenken. In Vietnam hatte er etwas sehr Wichtiges gelernt:
Hauser schaute sich erfreut um. Die Totenstadt war atemberaubend. Tausende mit Beigaben gefullte Graber. Ein mit Fruchten beladener Baum, reif zum Pflucken. Ganz zu schweigen von den ganzen wertvollen Antiquitaten, Saulen, Statuen und sonstigen Schatzen, die da in der Wei?en Stadt herumlagen. Obendrein enthielt Broadbents Gruft noch Kunstgegenstande im Wert von einer halben Milliarde Dollar. Er wurde den Codex und ein paar leichtere Objekte mitnehmen und mit dem Erlos seine Ruckkehr finanzieren.
Ja, er wurde ganz sicher hierher zuruckkehren. In der Wei?en Stadt lagen Milliarden herum. Milliarden.
Hauser schob eine Hand in seinen Brotbeutel, tatschelte eine Zigarre und erlaubte ihr mit Bedauern, weiterhin ihr Dasein zu fristen. Es war vielleicht keine gute Idee, sich mit Zigarrenrauch zu verraten.
Gewisse Opfer musste man eben bringen.