Rohan furchtete sich fast vor der Begegnung mit dem Astrogator, weil er nicht wu?te, was er ihm eigentlich sagen sollte. Eine der schrecklichsten, vollig zusammenhanglosen, ja irrsinnigen Entdeckungen hatte er fur sich behalten. Im Badezimmer des achten Stocks hatte er Seifenstucke gefunden, die eindeutig Spuren menschlicher Zahne trugen. Aber dort konnte es noch keine Hungersnot gegeben haben. Die Lager waren von unangeruhrten Lebensmittelvorraten uberfullt. Sogar die Milch in den Kuhlraumen war noch einwandfrei.

Auf halbem Wege empfingen sie Funksignale von einem kleinen Fahrzeug mit Steuerautomat, das, eine Staubwand hinter sich, auf sie zurollte. Sie bremsten, die andere Maschine hielt ebenfalls an. Zwei Manner sa?en darin: der nicht mehr ganz junge Techniker Magdow und der Neurophysiologe Sax. Rohan schaltete das Feld aus, und so konnten sie sich durch Rufe verstandigen.

Nach Rohans Aufbruch war im Hibernator des „Kondors“ der eingefrorene Korper eines Menschen entdeckt worden. Dieser Mann konnte vielleicht wieder zum Leben erweckt werden. Sax brachte deshalb die erforderliche Apparatur vom „Unbesiegbaren“. Rohan entschlo? sich, Sax zu folgen mit der Begrundung, das Fahrzeug des Wissenschaftlers habe kein Schutzfeld. In Wahrheit aber war er froh, das Gesprach mit Horpach hinausschieben zu konnen.

Sie wendeten an Ort und Stelle und jagten, Sand aufwirbelnd, zuruck.

Beim „Kondor“ war reges Treiben. Noch immer wurden die unterschiedlichsten Dinge aus den Dunen zu Tage gefordert. Abseits lagen unter wei?en Tuchern in einer Reihe die Leichen. Es waren inzwischen mehr als zwanzig geworden.

Die Rampe funktionierte, sogar der Reaktor fur Bodenbetrieb lieferte bereits Strom.

Von weitem hatte man sie an der Staubwolke erkannt und ihnen den Durchgang in das Kraftfeld geoffnet. Ein Arzt, der kleine Dr. Nygren, war schon zur Stelle, aber ohne Assistenten wollte er den Mann aus dem Hibernator nicht untersuchen.

Rohan machte von seinem Recht Gebrauch — er vertrat hier immerhin den Kommandanten — und ging mit den beiden Arzten an Bord. Die zertrummerten Apparaturen, die beim erstenmal die Tur des Hibernators versperrt hatten, waren beiseite geraumt worden. Die Zeiger standen auf siebzehn Grad unter Null. Die beiden Arzte verstandigten sich mit Blicken, aber Rohan wu?te von der Hibernation, um zu verstehen, da? die Temperatur fur einen reversiblen Tod zu hoch, fur einen hypothermischen Schlaf hingegen zu niedrig war. Es sah nicht aus, als ware der Mann im Hibernator fur ein Oberdauern unter geeigneten Bedingungen vorgesehen gewesen. Er war wohl vielmehr durch Zufall dort hineingeraten, ebenso unbegreiflich und widersinnig, wie alles andere, das an Bord des „Kondors“ geschehen war.

'Und wirklich, als sie, bereits in den thermostatischen Skaphandern, das Handrad aufgedreht und die schwere Klappe angehoben hatten, sahen sie auf dem Fu?boden ausgestreckt, mit dem Gesicht nach unten, den Korper eines nur mit Unterwasche bekleideten Mannes. Rohan half den Arzten, ihn zu einem kleinen, gepolsterten Tisch hinuberzutragen, uber dem drei Leuchten hingen, die schattenfreies Licht gaben. Es war kein Operationstisch, sondern eine Art Liege fur kleine Eingriffe, wie sie bisweilen im Hibernator vorgenommen wurden.

Rohan hatte Angst, das Gesicht des Mannes zu erblicken, denn er hatte viele Besatzungsmitglieder des „Kondors“ gekannt.

Aber dieser Mann war ihm fremd. Waren die Glieder nicht eiskalt und steif gewesen, so hatte man meinen konnen, der Gefundene schlafe. Die Lider waren geschlossen. In dem trockenen, hermetisch abgedichteten Raum hatte die Haut nicht einmal die naturliche Farbe eingebu?t, sondern war lediglich bleich. Aber das Gewebe darunter wimmelte von mikroskopisch kleinen Eiskristallen. Wieder verstandigten sich die beiden Arzte wortlos, durch Blicke. Dann machten sie ihre Instrumente fertig.

Rohan lie? sich auf einer der leeren, frisch bezogenen Ruhestatten nieder, die zwei lange Reihen bildeten. Im Hibernator war die ursprungliche, tadellose Ordnung erhalten.

Ein paarmal klirrten die Instrumente, die Arzte flusterten, schlie?lich trat Sax von dem Tisch zuruck und sagte: „Nichts mehr zu machen.“

„Also tot“, stie? Rohan hervor. Es war weniger eine Frage als eine Schlu?folgerung, die einzig mogliche, die er aus den Worten des Arztes ziehen konnte.

Nygren hatte unterdessen die Klimaanlage eingeschaltet.

Wenig spater drang ein warmer Luftstrom in den Raum.

Rohan erhob sich, um hinauszugehen, da sah er, da? Sax an den Tisch zuruckkehrte. Der Arzt nahm eine kleine, schwarze Tasche vom Boden auf, offnete sie, und nun kam jener Apparat zum Vorschein, von dem Rohan schon so oft gehort hatte, der aber bisher in seinem Beisein nie benutzt worden war. Mit ruhigen, fast pedantischen Bewegungen entwirrte Sax die Leitungsstrange, an deren Ende flache Elektroden hingen. Er legte sechs Stuck an den Schadel des Toten und befestigte sie mit einem elastischen Band. Dann hockte er nieder und zog drei Paar Kopfhorer aus der Tasche. Er setzte selbst ein Paar auf und drehte, noch immer vornubergebeugt, an den Knopfen des Apparates, der in einer Hulle stak. Die Augen hatte er geschlossen, sein Gesicht wirkte nun vollig konzentriert. Plotzlich runzelte er die Stirn, beugte sich noch tiefer und hielt den Knopf an und ri? sich gleich darauf die Kopfhorer herunter.

„Kollege Nygren…“, sagte er mit sonderbarer Stimme.

Der kleine Doktor nahm ihm die Kopfhorer ab.

„Was ist?“ flusterte Rohan mit bebenden Lippen.

Der Apparat wurde, zumindest in der Bordsprache, „Graberabklopfer“ genannt. Bei einem Verstorbenen, bei dem der Tod erst kurz zuvor eingetreten oder der noch nicht verwest war, wie dieser Leichnam infolge der niedrigen Temperatur, konnte man „das Gehirn abhorchen“, oder genauer, den letzten Inhalt des Bewu?tseins ermitteln.

Der Apparat sandte elektrische Impulse ins Schadelinnere; sie suchten sich den Weg des geringsten Widerstandes, das hei?t, sie liefen an den Nervenfasern entlang, die in der praagonalen Phase eine funktionelle Einheit bildeten.

Die Ergebnisse waren nie sicher, aber es hie?, auf diese Weise sei es mehrmals gelungen, au?erordentlich bedeutsame Informationen zu erhalten. In solchen Fallen wie gerade jetzt, da soviel daran lag, zumindest ein wenig das Geheimnis um die Tragodie des „Kondors“ zu luften, war die Anwendung des „Graberabklopfers“ dringend geboten.

Rohan hatte schon geahnt, da? der Neurologe uberhaupt nicht mit der Wiederbelebung des Mannes gerechnet hatte, und war eigentlich nur gekommen, um zu horen, was ihnen dessen Gehirn entdecken wurde. Reglos stand er da und spurte Trockenheit im Mund und ein dumpfes Herzklopfen, als Sax ihm das zweite Kopfhorerpaar reichte. Ware diese Geste nicht so einfach und naturlich gewesen, er hatte nicht gewagt, die Horer aufzusetzen. Aber er tat es unter dem ruhigen Blick von Sax' dunklen Augen, der, auf ein Knie gestutzt, vor dem Apparat hockte und mit sparsamen Bewegungen den Verstarkerknopf drehte.

Anfangs horte er nichts, nur das Rauschen des Stroms, und er war im Grunde erleichtert, weil er nichts horen wollte.

Es ware ihm angenehmer gewesen — obwohl er sich dessen nicht bewu?t war —, wenn das Hirn des unbekannten Mannes stumm geblieben ware. Sax richtete sich auf und ruckte ihm die Horer an den Ohren zurecht. In dem Licht, das auf die wei?e Kajutenwand fiel, sah Rohan etwas hindurchschimmern: ein graues, wie von Asche verschleiertes und in unbestimmter Ferne schwebendes Bild. Unwillkurlich pre?te er die Lider aufeinander, und da war, was er eben erblickt hatte, fast deutlich zu erkennen. Es sah aus wie ein Gang im Schiffsinnern mit Rohren, die an der Decke entlangfuhrten.

Der Gang war in seiner ganzen Breite von menschlichen Leibern versperrt. Sie schienen sich zu bewegen, aber es war das Bild, das zitterte und hin und her wogte. Die Menschen waren halb nackt, Kleiderreste hingen in Fetzen an ihnen herab, und ihre unnaturlich wei?e Haut schien mit dunklen Sprenkeln oder einer Art Ausschlag bedeckt. Vielleicht war es auch nur eine zufallige Begleiterscheinung, denn von solchen schwarzen Punktchen wimmelte es ebenfalls auf dem Fu?boden und an den Wanden. Das ganze Bild schwankte wie eine unscharfe, durch eine starke Schicht flie?enden Wassers aufgenommene Fotografie, dehnte sich aus, zog sich wieder zusammen und wogte. Von Entsetzen geschuttelt, ri? Rohan die Augen auf. Das Bild verbla?te und verschwand fast ganz, nur ein Schatten war noch in dem hellerleuchteten Raum.

Sax drehte von neuem an dem Apparat, und Rohan vernahm wie aus seinem Innern ein schwaches Flustern: „… ala… ama… lala… ala… ma… mama…“ Sonst nichts. In dem Kopfhorer mauzte es plotzlich, fiepte und krahte in hohen Tonen, die sich wie ein irrsinniger Schluckauf oder ein wildes, entsetzliches Hohngelachter

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