»Unerhort! Es ist unertraglich.«

»Da fallt mir gerade ein«, sagte Miss Greenshaw, »da? wir ein paar fremde Besucher eigentlich sehr gut gebrauchen konnen, nicht wahr, Mrs. Cresswell?«

Mrs. Cresswell blickte verdutzt drein.

»Ich verstehe nicht, Madam.«

»Sie wissen doch, wofur«, sagte Miss Greenshaw, heftig mit dem Kopfe nickend. »Der Erbe darf das Testament nicht als Zeuge unterschreiben. Das stimmt doch, nicht wahr?« Sie wandte sich an Raymond West.

»Ganz richtig«, bestatigte Raymond.

»So viel wei? ich namlich auch von der Rechtswissenschaft«, erklarte Miss Greenshaw. »Und Sie sind beide Manner von Rang.«

Sie warf ihren Pflanzenheber in den Unkrautkorb.

»Konnten Sie bitte mit in die Bibliothek kommen?«

»Mit Vergnugen«, erklarte Horace eifrig.

Miss Greenshaw fuhrte sie durch eine Glastur in einen riesigen in Gelb und Gold gehaltenen Salon mit verschossenem Brokat an den Wanden und Schutzhullen

uber den Mobeln, und dann durch eine gro?e dammerige Halle die Treppe hinauf und in ein Zimmer im ersten Stock.

»Die Bibliothek meines Gro?vaters«, verkundete sie stolz.

Horace blickte sich mit ausgesprochenem Vergnugen im Raume um. Von seinem Standpunkt aus gesehen, steckte er voller Monstrositaten. Die Kopfe von Sphinxen tauchten an den unwahrscheinlichsten Mobelstucken auf. Es existierte eine kolossale Bronze, die Paul und Virginia darstellte, ferner eine riesige Kaminuhr mit klassischen Motiven, die er brennend gern fotografiert hatte.

»Viele schone Bucher«, bemerkte Miss Greenshaw.

Raymond stand bereits vor den Bucherreihen. Ein fluchtiger Blick verriet ihm schon, da? kein Buch von wirklichem Interesse dabei war, ja uberhaupt kein Buch, das gelesen zu sein schien. Es waren alles prachtig gebundene Sammlungen von Klassikern, wie sie vor neunzig Jahren fur die Ausstattung der Bibliothek eines Gentlemans geliefert wurden. Es waren auch einige Romane einer vergangenen Zeit darunter. Aber auch sie erweckten den Eindruck, als ob sie nicht gelesen seien.

Miss Greenshaw fummelte in den Schubladen des Schreibtisches herum und holte schlie?lich eine Pergamenturkunde hervor.

»Mein Testament«, erlauterte sie. »Man mu? ja sein Geld irgend jemandem vermachen - so hei?t es wenigstens. Wenn ich ohne Testament sturbe, fiele es an den Sohn eines Pferdehandlers. Hubscher Bursche, dieser Harry Fletcher, aber ein ausgekochter Schurke. Ich sehe nicht ein, warum sein Sohn diesen Besitz erben soll. Nein«, fuhr sie fort, gleichsam in Erwiderung auf einen unausgesprochenen Einwand, »ich habe es mir uberlegt und hinterlasse Cresswell alles.«

»Ihrer Haushalterin?«

»Ja. Ich habe ihr alles auseinandergesetzt. Ich vermache ihr alles, was ich besitze, und dann brauche ich ihr keinen Lohn zu zahlen. Dadurch spare ich eine Menge laufender Ausgaben, und es spornt sie etwas an. Vor allen Dingen kann sie mir nicht kundigen und jeden Augenblick einfach davonlaufen. Sie ist sehr gro?spurig, nicht wahr? Aber ihr Vater war ein sehr kleiner Klempner. Sie hat also gar keine Veranlassung, sich etwas einzubilden.«

Mittlerweile hatte sie das Dokument auseinandergefaltet. Jetzt nahm sie einen Federhalter, tauchte ihn ins Tintenfa? und schrieb ihren Namen: Katherine Dorothy Greenshaw.

»So, und jetzt unterzeichnen Sie«, sagte sie, »damit es rechtskraftig wird.«

Sie reichte Raymond West den Federhalter. Raymond zogerte einen Augenblick, da er eine unerwartete Abneigung empfand, dieser Bitte zu entsprechen. Dann kritzelte er rasch den wohlbekannten Namenszug, wofur ihm der Postbote gewohnlich mindestens ein halbes Dutzend Bittbriefe am Tag brachte.

Horace nahm den Federhalter und fugte seine winzige Unterschrift hinzu.

»Das ware erledigt«, sagte Miss Greenshaw.

Dann ging sie zu den Bucherschranken und stand unschlussig davor. Schlie?lich offnete sie eine der Glasturen, nahm ein Buch heraus und schob das zusammengefaltete Dokument hinein.

»Ich habe meine besonderen Verstecke«, sagte sie.

»Lady Audleys Geheimnis«, bemerkte Raymond West, der den Titel sah, als sie das Buch wieder an seinen Platz stellte.

Miss Greenshaw brach erneut in Gelachter aus.

»Damals ein Bestseller«, sagte sie. »Im Gegensatz zu Ihren Buchern, wie?«

Sie gab Raymond plotzlich einen freundlichen Stups in die Rippen. Raymond war ziemlich uberrascht, da? sie uberhaupt wu?te, da? er Bucher schrieb.

»Durfte ich vielleicht«, fragte Horace aufgeregt, »eine Aufnahme von der Uhr machen?«

»Selbstverstandlich«, sagte Miss Greenshaw. »Sie stammt, glaube ich, von der Pariser Ausstellung.«

»Sehr wahrscheinlich«, meinte Horace und knipste.

»Dieser Raum ist seit meines Gro?vaters Lebzeiten nicht viel benutzt worden«, sagte Miss Greenshaw. »Dieser Schreibtisch ist angefullt mit seinen alten Tagebuchern. Sicherlich sehr interessant. Meine Augen sind leider so schlecht, da? ich sie nicht selbst lesen kann. Ich mochte sie gern veroffentlichen lassen, aber das erfordert gewi? allerlei Arbeit.«

»Dafur konnten Sie jemanden engagieren«, schlug Raymond West vor.

»Wirklich? Das ware eine Idee. Ich werde es mir uberlegen.«

Raymond West blickte auf seine Uhr.

»Wir durfen Ihre Zeit nicht langer in Anspruch nehmen«, sagte er.

»Ich habe mich, sehr uber Ihren Besuch gefreut«, sagte Miss Greenshaw huldvollst. »Zuerst hatte ich angenommen, Sie seien der Polizist, als Sie um die Ecke des Hauses kamen.«

»Weshalb gerade ein Polizist?« fragte Horace, der gern Fragen stellte.

Miss Greenshaw ging anders darauf ein, als sie erwartet hatten.

»Wenn Sie wissen wollen, was die Uhr geschlagen hat, fragen Sie einen Polizisten«, zwitscherte sie. Mit dieser Kostprobe viktorianischen Witzes stie? sie Horace in die Rippen und brach in schallendes Gelachter aus.

»Ein wunderbarer Nachmittag«, seufzte Horace auf dem Heimweg. »Das Haus besitzt wirklich alles. Das einzige, was in der Bibliothek noch fehlt, ist eine Leiche. Ich bin uberzeugt, da? den Verfassern dieser uralten Detektivgeschichten, wo der Mord immer in der Bibliothek stattfand, gerade eine solche Bibliothek vor Augen schwebte.«

»Wenn du dich gern uber Mord unterhalten willst«, sagte Raymond, »mu?t du dich an meine Tante Jane wenden.«

»Deine Tante Jane? Meinst du etwa Miss Marple?« Horace war ein wenig verdutzt.

Die bezaubernde, ehrwurdige Dame, der er gestern abend vorgestellt worden war, schien die letzte Person zu sein, die man irgendwie mit Mord in Verbindung brachte.

»O ja«, erwiderte Raymond. »Mord ist ihre Spezialitat.«

»Aber, mein lieber Junge, wie interessant! Doch was willst du eigentlich damit sagen?«

»Genau das«, entgegnete Raymond und fugte erlauternd hinzu:

»Manche begehen einen Mord, manche werden in eine Mordangelegenheit verwickelt, und anderen werden Morde aufgedrangt. Meine Tante Jane gehort zur dritten Kategorie.«

»Das soll wohl ein Scherz sein.«

»Durchaus nicht. Ich kann dich an einen fruheren Kommissar von Scotland Yard, mehrere hohe Polizeibeamte des Bezirks und einige vielbeschaftigte Inspektoren des C. I. D. verweisen.«

Horace erklarte gluckstrahlend, da? man aus dem Staunen uberhaupt nicht mehr herauskomme. Am Teetisch erstatteten sie Raymonds Frau, Joan West, ihrer Nichte Lou Oxley und der alten Miss Marple Bericht uber die Erlebnisse des Nachmittags, wobei sie alle von Miss Greenshaw gemachten Au?erungen wiederholten.

»Aber ich mu? sagen«, gestand Horace, »da? das ganze Etablissement einen etwas unheimlichen Eindruck auf mich gemacht hat. Diese furstliche Kreatur, die Haushalterin -vielleicht etwas Arsen in die Teekanne, jetzt, wo sie wei?, da? ihre Herrin ein Testament zu ihren Gunsten gemacht hat?«

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