»Er fegte Laub in der Einfahrt, als ich ankam«, wagte Lou zu bemerken.

»Das kann ich mir denken. Eine schone, bequeme Arbeit.«

Mrs. Cresswell rauschte aus dem Zimmer und schlug die Tur hinter sich zu. Lou schmunzelte vor sich hin und fragte sich im stillen, wie der »Neffe« wohl sein mochte.

Sie trank ihren Kaffee aus und sturzte sich wieder auf ihre Arbeit, die sie so fesselte, da? die Zeit rasch verging. Als Nathaniel Greenshaw ein Tagebuch zu fuhren begann, hatte er sich durchaus keine Zuruckhaltung auferlegt. Wahrend Lou eine Stelle tippte, die sich auf die personlichen Reize einer Bardame in der benachbarten Stadt bezog, kam sie zu der Ansicht, da? noch sehr viel Redaktionsarbeit geleistet werden musse.

Aus diesen Gedankengangen wurde sie plotzlich durch einen Schrei vom Garten her aufgeschreckt. Sie sprang auf und rannte ans offene Fenster. Miss Greenshaw kam gerade schwankend vom Steinbeet auf das Haus zu. Sie hatte die Hande an die Brust gepre?t, und zwischen ihnen ragte ein gefiederter Schaft hervor, den Lou voller Besturzung als den Schaft eines Pfeiles erkannte.

Miss Greenshaws Kopf, auf dem der mitgenommene Strohhut thronte, sank auf die Brust herab. Mit versagender Stimme rief sie zu Lous Fenster empor:

». getroffen . er hat auf mich geschossen . mit einem Pfeil ... holen Sie Hilfe ...«

Lou sturzte zur Tur. Sie drehte den Knopf, aber die Tur lie? sich nicht offnen. Nach einigen vergeblichen Bemuhungen merkte sie, da? sie eingeschlossen war. Sie lief wieder ans Fenster zuruck.

»Ich bin eingeschlossen!«

Miss Greenshaw, die Lou den Rucken zugewandt hatte, stand ein wenig schwankend auf den Fu?en und rief zu dem etwas weiter gelegenen Fenster der Haushalterin hinauf:

»Rufen Sie die Polizei . telefonieren Sie .«

Wie eine Trunkene von Seite zu Seite schaukelnd, verschwand sie dann aus Lous Gesichtskreis durch die Glastur, die in den Salon fuhrte. Einen Augenblick spater vernahm Lou das Krachen von Geschirr, einen schweren Fall, dann war es still. In ihrer Phantasie malte sie sich die Szene aus. Miss Greenshaw mu?te blindlings gegen einen kleinen Tisch mit einem Teeservice aus Sevresporzellan getaumelt und dann gefallen sein.

Verzweifelt hammerte Lou an die Tur und rief aus Leibeskraften. Au?en am Fenster gab es weder Ranken noch

Abflu?rohre, an denen sie hatte hinunterklettern konnen. Nachdem sie lange vergeblich an die Tur gehammert hatte, kehrte sie zum Fenster zuruck und sah, wie der Kopf der Haushalterin am Fenster ihres Wohnzimmers erschien.

»Kommen Sie doch bitte, Mrs. Oxley, und lassen Sie mich heraus. Ich bin eingeschlossen.«

»Ich auch.«

»Du liebe Gute, ist das nicht schrecklich? Ich habe die Polizei angerufen. In diesem Zimmer ist namlich ein Telefonanschlu?. Aber ich kann ganz und gar nicht verstehen, Mrs. Oxley, warum wir eingeschlossen sind. Ich habe uberhaupt nicht gehort, wie der Schlussel umgedreht wurde. Sie etwa?«

»Nein. Ich habe auch nichts gehort. Lieber Himmel, was sollen wir blo? machen? Vielleicht konnte Alfred uns horen.« Lou rief aus voller Kehle: »Alfred, Alfred!«

»Ist wahrscheinlich zum Essen gegangen. Wie spat ist es denn?«

Lou blickte auf ihre Uhr.

»Funfundzwanzig nach zwolf.«

»Er soll eigentlich erst um halb eins gehen. Aber sobald er kann, schleicht er sich fruher davon.«

»Glauben Sie - glauben Sie ...«

Lou wollte fragen: Glauben Sie, da? sie tot ist? Aber die Worte blieben ihr im Halse stecken.

Es blieb nichts anderes ubrig, als zu warten, und sie setzte sich auf die Fensterbank. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die behelmte Gestalt eines Schutzmannes um die Ecke des Hauses bog. Lou lehnte sich aus dem Fenster, und er blickte zu ihr auf, wobei er die Augen mit der Hand beschattete. Als er sprach, klang seine Stimme sehr vorwurfsvoll.

»Was geht denn hier vor sich?« fragte er.

Von ihren verschiedenen Fenstern aus uberschutteten ihn Lou und Mrs. Cresswell mit einer Flut aufgeregter Informationen.

Der Schutzmann holte ein Notizbuch und einen Bleistift hervor.

»Und Sie, meine Damen, rannten also nach oben und schlossen sich ein? Wollen Sie mir bitte Ihre Namen nennen?«

»Nein. Jemand anders hat uns eingeschlossen. Kommen Sie endlich, und lassen Sie uns hinaus.«

Tadelnd entgegnete der Schutzmann:

»Alles zu seiner Zeit.« Damit verschwand er durch die Glastur.

Wieder schien eine Ewigkeit zu vergehen. Dann horte Lou das Gerausch eines nahenden Wagens, und nach einem gewissen Zeitraum, der Lou wie eine Stunde vorkam, in Wirklichkeit aber nur drei Minuten umfa?te, wurden zuerst Mrs. Cresswell und dann Lou von einem Polizeiwachtmeister befreit, der etwas besser auf dem Posten zu sein schien als der ursprungliche Schutzmann.

»Miss Greenshaw?« Lous Stimme stockte. »Was - was ist eigentlich geschehen?«

Der Wachtmeister rausperte sich.

»Es tut mir leid«, sagte er, »Ihnen mitteilen zu mussen, Madam, Miss Greenshaw ist tot.«

»Ermordet«, fugte Mrs. Cresswell hinzu.

Der Wachtmeister bemerkte zweifelnd:

»Konnte auch ein Unglucksfall sein - vielleicht haben ein paar Buben mit Pfeil und Bogen geschossen.«

Wieder horte man, wie ein Wagen ankam..

»Das wird der Polizeiarzt sein«, meinte der Wachtmeister

195 und begab sich nach unten.

Aber es war nicht der Polizeiarzt. Als Lou und Mrs. Cresswell die Treppe hinunterstiegen, trat ein junger Mann zogernd durch die Haustur und blieb, mit etwas verwirrter Miene Umschau haltend, stehen.

Dann fragte er mit angenehmer Stimme, die Lou irgendwie bekannt vorkam - vielleicht ahnelte sie Miss Greenshaws Stimme -:

»Entschuldigen Sie bitte, wohnt hier - hm - Miss Greenshaw?«

»Durfte ich um Ihren Namen bitten«, sagte der Wachtmeister, der auf ihn zutrat.

»Fletcher«, erwiderte der junge Mann. »Nat Fletcher. Ich bin Miss Greenshaws Neffe.«

»Tja, Sir, es tut mir sehr leid -«

»Ist etwas passiert?« fragte Nat Fletcher.

»Es hat sich ein - Unglucksfall ereignet. Ihre Tante wurde von einem Pfeil getroffen - er hat die Schlagader durchdrungen ...«

Mrs. Cresswell sprach hysterisch und ohne ihre ubliche Affektiertheit: »Ihre Tante ist ermordet worden. Das ist es, was passiert ist. Ihre Tante ist ermordet.«

Inspektor Welch zog seinen Stuhl etwas naher an den Tisch und lie? seinen Blick der Reihe nach uber die vier Anwesenden im Zimmer wandern. Es war der Abend desselben Tages. Er hatte bei den Wests vorgesprochen, um sich noch einmal Lou Oxleys Aussage wiederholen zu lassen.

»Sind Sie ganz sicher, da? sie rief: >Getroffen - er hat auf mich geschossen - mit einem Pfeil - holen Sie Hilfe <?«

Lou nickte.

»Und die Zeit?«

»Ich sah ein paar Minuten spater auf meine Uhr, da war es zwolf Uhr funfundzwanzig.«

»Geht Ihre Uhr genau?«

»Ich habe auch auf die Kaminuhr gesehen.«

Der Inspektor wandte sich an Raymond West.

»Ungefahr vor einer Woche haben Sie, Sir, und ein gewisser Mr. Horace Bindler offenbar Miss Greenshaws Testament als Zeugen unterschrieben. Stimmt's?«

In kurzen Umrissen schilderte Raymond die Ereignisse jenes Nachmittags, an dem er und Horace Bindler Greenshaws Monstrum einen Besuch abgestattet hatten.

»Diese Aussage mag von gro?er Wichtigkeit sein«, sagte Welch.

»Miss Greenshaw hat Ihnen also deutlich gesagt, da? sie ein Testament zugunsten der Haushalterin, Mrs.

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