»Nun verrate es uns mal, Tante Jane«, scherzte Raymond.

»Wird es einen Mord geben oder nicht? Was ist deine Ansicht?«

»Meine Ansicht ist«, erwiderte Miss Marple, wahrend sie mit ziemlich strenger Miene ihr Wollknauel wickelte, »da? du nicht dauernd uber solche Dinge spotteln solltest, Raymond. Arsen ist naturlich durchaus moglich. Wahrscheinlich schon in Form eines Unkrautvertilgungsmittels im Gerateschuppen vorhanden.«

»Aber liebste Tante«, sagte Joan West zartlich, »wurde man nicht etwas zu leicht dahinterkommen?«

»Es ist ja ganz schon, wenn man ein Testament macht«, warf Raymond ein, »aber ich glaube nicht, da? das arme alte Geschopf irgend etwas zu hinterlassen hat au?er dem gro?en Kasten. Und wer hatte schon fur dieses mehr kostspielige als eintragliche Haus Verwendung?«

»Womoglich eine Filmgesellschaft«, meinte Horace. »Vielleicht konnte auch ein Hotel oder ein Heim daraus gemacht werden.«

»Solche Interessenten wollen es fur ein Ei und ein Butterbrot haben«, behauptete Raymond. Doch Miss Marple schuttelte den Kopf.

»Wei?t du, lieber Raymond, ich kann deine Ansicht nicht teilen. Hinsichtlich des Geldes, meine ich. Der Gro?vater war offenbar einer jener Verschwender, die rasch zu Geld kommen, es aber nicht halten konnen. Er hat vielleicht, wie du sagst, kein Geld mehr gehabt, aber er war wohl kaum bankrott. Sonst hatte sein Sohn das Haus nicht behalten konnen. Der Sohn war aber nun, wie es so oft der Fall ist, ganz anders veranlagt als sein Vater. Er war ein Geizhals. Ein Mann, der jeden Pfennig zehnmal umdrehte, ehe er ihn ausgab. Ich mochte wohl annehmen, da? er im Laufe seines Lebens eine ganz betrachtliche Summe beiseite gelegt hat. Diese Miss Greenshaw ist offenbar genauso geartet wie ihr Vater. Auch sie gibt nicht gern etwas aus. Ich halte es daher fur sehr wahrscheinlich, da? sie eine ziemliche Summe auf die hohe Kante gelegt hat.«

»Wenn die Sache so liegt«, sagte Joan West, »wie war's dann mit Lou?«

Sie blickten alle zu Lou hinuber, die schweigsam am Feuer sa?.

Lou war Joan Wests Nichte. Ihre Ehe war kurzlich, wie sie sich selbst ausdruckte, in die Bruche gegangen, und sie sa? daher mit zwei kleinen Kindern und sehr wenig Geld fur ihren Unterhalt da.

»Ich meine«, fuhr Joan fort, »wenn diese Miss Greenshaw wirklich jemanden sucht, der sich dieser Tagebucher annimmt und sie zur Veroffentlichung vorbereitet ...«

»Keine schlechte Idee«, meinte Raymond.

Lou sagte mit leiser Stimme: »Das ist eine Arbeit, die ich ubernehmen konnte, und ich hatte Spa? daran.«

»Ich werde ihr schreiben«, erbot sich Raymond.

»Ich mochte ganz gern wissen«, au?erte sich Miss Marple nachdenklich, »was die alte Dame wohl mit der Bemerkung von dem Polizisten meinte.«

»Oh, das war sicher nur ein Scherz.«

»Diese Au?erung«, erklarte Miss Marple, wahrend sie nachdrucklich mit dem Kopf nickte, »erinnert mich lebhaft an Mr. Naysmith.«

»Und wer war Mr. Naysmith?« erkundigte sich Raymond neugierig.

»Ein Bienenzuchter«, antwortete Miss Marple. »Auch verstand er sich sehr gut auf die Akrostichen in den Sonntagsblattern und hatte gro?en Spa? daran, seinen Mitmenschen aus Ulk falsche Eindrucke zu hinterlassen.«

Alle schwiegen eine Weile und dachten uber Mr. Naysmith nach. Da jedoch zwischen ihm und Miss Greenshaw kein Zusammenhang zu bestehen schien, kam man zu dem Schlu?, da? die liebe Tante Jane in ihrem Alter vielleicht ein ganz klein wenig faselig wurde. Horace Bindler kehrte nach London zuruck, ohne weitere Monstrositaten gesammelt zu haben, und Raymond West schrieb einen Brief an Miss Greenshaw, in dem er ihr mitteilte, da? er eine Mrs. Louisa Oxley kenne, die befahigt sei, die Arbeit an den Tagebuchern aufzunehmen. Nach Ablauf einiger Tage kam ein Brief in zittriger altmodischer Handschrift, in dem Miss Greenshaw ihre Bereitwilligkeit erklarte, Mrs. Oxleys Dienste in Anspruch zu nehmen, und einen Tag festsetzte, an dem sie sich vorstellen sollte.

Lou prasentierte sich pflichtschuldigst zur angegebenen Zeit. Es wurde ein gro?zugiges Honorar vereinbart, und sie begann gleich am nachsten Tage mit ihrer Arbeit.

»Ich bin dir au?erst dankbar«, sagte sie zu Raymond. »Es pa?t alles wunderschon. Ich kann die Kinder erst zur Schule bringen, anschlie?end nach Greenshaws Monstrum gehen und sie auf dem Heimweg wieder abholen. Wie phantastisch das ganze Etablissement doch ist! Die alte Dame spottet jeder Beschreibung.«

Am Abend ihres ersten Arbeitstages berichtete Lou von ihren Erlebnissen.

»Die Haushalterin habe ich kaum gesehen. Sie erschien um halb zwolf mit verachtlich gespitztem Munde und brachte mir Kaffee und Kekse, wobei sie kaum ein Wort mit mir wechselte. Ich glaube, es pa?t ihr ganz und gar nicht, da? ich engagiert worden bin. Zwischen ihr und Alfred, dem Gartner, scheint eine gro?e Fehde zu bestehen. Er stammt aus dem Dorf und ist offenbar ziemlich faul. Die beiden reden nicht miteinander. Miss Greenshaw bemerkte in ihrer etwas erhabenen Art: >Solange ich mich entsinnen kann, bestand immer eine Fehde zwischen dem Garten- und dem Hauspersonal. Schon zu meines Gro?vaters Zeiten. Damals hatten wir drei Gartner und einen Burschen im Garten und acht Madchen im Haus, aber es gab immer Reibereien.««

Am folgenden Tage kehrte Lou mit einer anderen Neuigkeit zuruck. »Stellt euch blo? vor«, sagte sie. »Heute morgen wurde ich gebeten, den Neffen anzurufen.«

»Miss Greenshaws Neffen?«

»Ja. Er ist anscheinend Schauspieler und wirkt bei einer Theatergesellschaft mit, die Sommervorstellungen in Boreham on Sea gibt. Ich rief das Theater an und lie? ihm bestellen, da? er morgen zum Lunch kommen mochte. Es war ziemlich spa?ig. Die Alte wollte nicht, da? die Haushalterin etwas davon erfuhr. Ich glaube, Mrs. Cresswell hat etwas getan, woruber sie sich geargert hat.«

»Morgen die nachste Fortsetzung dieses spannenden Romans«, murmelte Raymond.

»Ja, es ist genau wie in einem Zeitungsroman, nicht wahr? Versohnung mit dem Neffen - Blut ist dicker als Wasser -ein neues Testament - das alte, zerstort.«

»Tante Jane, du siehst ja so ernst aus.«

»Meinst du, liebes Kind? Hast du noch etwas von dem Polizisten gehort?«

»Von einem Polizisten wei? ich nichts.«

»Jene Au?erung, die Miss Greenshaw machte, liebes Kind, mu? irgendeine Bedeutung gehabt haben.«

Lou kam am nachsten Tag in heiterer Verfassung an ihrer Arbeitsstatte an. Sie schritt durch die offene Haustur - die Turen und Fenster des Hauses standen immer offen. Angst vor Einbrechern schien Miss Greenshaw nicht zu haben, und da die meisten Sachen im Hause mehrere Tonnen wogen und unverkauflich waren, schien diese Einstellung durchaus berechtigt zu sein.

In der Einfahrt war Lou dem jungen Alfred begegnet. Als sie ihn zuerst erblickte, lehnte er an einem Baum und rauchte eine Zigarette. Doch sobald er sie sah, hatte er einen Besen ergriffen und eifrig Blatter zusammengekehrt. Ein fauler junger Mann, dachte sie, aber gut aussehend. Seine Zuge erinnerten sie an jemanden. Als sie auf dem Wege nach oben zur Bibliothek durch die Halle ging, fiel ihr Blick auf das gro?e Bild von Nathaniel Greenshaw, das uber dem Kaminsims hing und ihn auf dem Gipfel viktorianischen Wohlstandes darstellte: zuruckgelehnt in einem tiefen Sessel, die Hande auf der goldenen Uhrkette ruhend, die sich quer uber seinen geraumigen Bauch erstreckte. Als ihr Blick hinauf zum Gesicht mit seinen feisten Wangen, den buschigen Augenbrauen und dem schwungvollen Schnurrbart wanderte, kam ihr der Gedanke, da? Nathaniel Greenshaw fruher einmal ein hubscher Mann war. Vielleicht hatte er ein wenig wie Alfred ausgesehen ...

Sie ging in die Bibliothek und schlo? die Tur hinter sich. Dann nahm sie die Hulle von der Schreibmaschine und holte die Tagebucher aus einer der Seitenschubladen des Schreibtisches. Durch das geoffnete Fenster sah sie Miss Greenshaw, die sich in einem gelb und braun geblumten Kattunkleid uber das Steinbeet beugte und eifrig Unkraut zupfte. Wahrend der letzten beiden Tage hatte es viel geregnet, und da war das Unkraut in die Hohe geschossen.

Lou, die in der Stadt aufgewachsen war, beschlo?, da? ihr Garten - falls sie je einen haben sollte - niemals ein Steinbeet enthalten wurde, das mit der Hand gejatet werden mu?te. Dann machte sie sich an ihre Arbeit.

Als Mrs. Cresswell um halb zwolf mit dem Kaffee in die Bibliothek kam, war sie offenbar in sehr schlechter Laune. Sie knallte das Tablett auf den Tisch und bemerkte zu der Welt im allgemeinen:

»Gaste zum Lunch - und nichts im Hause! Ich mochte blo? wissen, wie ich das schaffen soll. Und Alfred nirgends zu sehen!«

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