machen — kommt Ihnen das bekannt vor? Das lag nicht nur an dem Dexedrin! — Neigung zu Tagtraumen, unregelma?ige Reaktionszeiten, Verge?lichkeit, Verantwortungslosigkeit und eine Tendenz zu paranoiden Wahnvorstellungen. Und zuletzt wird es Sie zwingen, zu traumen — ganz gleich, wie. Kein uns bekanntes Medikament kann Sie am Traumen hindern, es sei denn, es bringt Sie um. Extremer Alkoholismus kann beispielsweise zu einem Zustand fuhren, der zentrale varolische Myelinolyse genannt wird und todlich ist; Ursache dafur ist eine Schadigung des Hirnstamms, die durch fehlende Traume ausgelost wird. Nicht durch Schlafmangel! Durch das Fehlen eben jenes bestimmten Stadiums, das im Schlaf eintritt, das Traumstadium, REM-Schlaf, sogenannter paradoxer Schlaf. Sie sind jedenfalls kein Alkoholiker und nicht tot, darum wei? ich, was immer Sie genommen haben, um Ihre Traume zu unterdrucken, hat nur teilweise funktioniert. Aus diesem Grund sind Sie a) durch teilweisen Traumentzug in einer recht schlechten korperlichen Verfassung, und b) haben Sie versucht, in eine Sackgasse zu gehen. Gut. Warum wollten Sie in diese Sackgasse gehen? Angst vor Traumen, vor Alptraumen, nehme ich an, oder was Sie als Alptraume betrachten. Konnen Sie mir irgend etwas uber diese Traume erzahlen?«

Orr zogerte.

Haber machte den Mund auf und wieder zu. Er wu?te so oft, was seine Patienten sagen wollten, und konnte es besser fur sie sagen als sie selbst. Aber es war wichtig, da? sie den ersten Schritt machten. Das konnte er ihnen nicht abnehmen. Und letztendlich stellte dieses Gesprach auch nur eine Art Auftakt dar, ein verkummertes Ritual aus den Kindertagen der Psychoanalyse; seine einzige Funktion bestand aus einer Entscheidungshilfe fur ihn selbst, wie er dem Patienten helfen konnte, ob eine positive oder eine negative Konditionierung angebracht war, wie er vorgehen sollte.

»Ich habe nicht mehr Alptraume als die meisten anderen Menschen auch, glaube ich«, sagte Orr und sah auf seine Hande hinab. »Keine besonderen. Ich… ich furchte mich davor, zu traumen.«

»Alptraume zu traumen.«

»Alle Traume.«

»Ich verstehe. Haben Sie eine Ahnung, wie diese Angst ihren Anfang nahm? Oder wovor Sie sich furchten, was Sie vermeiden mochten?«

Da Orr nicht gleich antwortete, sondern nur dasa? und seine Hande betrachtete, derbe, rotliche Hande, die zu reglos auf seinen Knien lagen, bohrte Haber ein wenig nach. »Liegt es am Irrationalen, Gesetzlosen, manchmal Unmoralischen der Traume, erfullt Sie etwas Derartiges mit Unbehagen?«

»Ja, in gewisser Weise. Aber aus einem bestimmten Grund. Sehen Sie, hier … hier bin ich …«

Das ist der springende Punkt, die Blockierung, dachte Haber, der ebenfalls diese verkrampften Hande betrachtete. Armer Kerl. Er hat feuchte Traume und Schuldkomplexe deswegen. Als Kind Bettnasser, eine zwanghafte Mutter —

»Sie werden mir nicht glauben.«

Der kleine Kerl war gestorter, als er aussah.

»Ein Mann, der sich mit Traumen im Schlaf und mit Tagtraumen befa?t, schert sich nicht ubertrieben um Begriffe wie glauben oder nicht glauben, Mr. Orr. Das sind Kategorien, in denen ich nicht denke. Sie haben keine Gultigkeit. Also ignorieren Sie sie und fahren Sie fort. Ich bin interessiert.« Horte sich das vaterlich an? Er schaute zu Orr, um festzustellen, ob die Bemerkung falsch aufgenommen worden war, und sah dem Mann einen Moment in die Augen. Au?ergewohnlich schone Augen, dachte Haber, und reagierte selbst erstaunt auf dieses Wort, denn Schonheit war ebenfalls eine Kategorie, die er nicht haufig benutzte. Die Pupillen waren blau oder grau, sehr klar, fast wie durchsichtig. Einen Moment blickte Haber selbstvergessen in diese klaren, trugerischen Augen; aber nur einen Moment, so da? das seltsame Erlebnis kaum einen Eindruck in seinem Bewu?tsein hinterlie?.

»Also gut«, sagte Orr mit einer gewissen Entschlossenheit, »ich hatte Traume, die … die die Welt … au?erhalb der Traume beeinflu?ten. Die reale Welt.«

»Die haben wir alle, Mr. Orr.«

Orr sah ihn an. Der perfekte, normale Mensch.

»Die Wirkung der Traume des paradoxen Schlafs, kurz vor dem Erwachen, auf die generelle emotionale Stufe der Psyche kann dergestalt sein —«

Aber der normale Mensch unterbrach ihn. »Nein, das meine ich nicht.« Und ein wenig stotternd: »Ich meine, ich habe etwas getraumt und es ist wahr geworden.«

»Das ist nicht so schwer zu glauben, Mr. Orr. Und das meine ich im vollen Ernst. Seit dem Aufkommen naturwissenschaftlichen Denkens ist niemand mehr geneigt, eine derartige Behauptung in Frage zu stellen, geschweige denn, als Hirngespinst abzutun. Prophetische —«

»Ich habe keine prophetischen Traume. Ich kann nichts vorhersehen. Ich verandere einfach etwas.« Die Hande waren zu Fausten geballt. Kein Wunder, da? die hohen Tiere der Uniklinik den Kerl zu ihm geschickt hatten. Sie schickten die Irren, mit denen sie nicht fertig wurden, immer zu Haber.

»Konnen Sie mir ein Beispiel geben? Konnen Sie sich zum Beispiel an das allererste Mal erinnern, als Sie so einen Traum hatten? Wie alt waren Sie da?«

Der Patient zogerte eine ziemlich lange Zeit. »Sechzehn, glaube ich«, sagte er schlie?lich. Sein Verhalten blieb nach wie vor friedfertig; er lie? eine erhebliche Angst vor dem Thema erkennen, aber keine Abwehrreaktion oder Feindseligkeit gegenuber Haber. »Ich bin nicht sicher.«

»Erzahlen Sie mir von dem ersten Traum, bei dem Sie sicher sind.«

»Ich war siebzehn. Ich wohnte noch zu Hause, ebenso wie die Schwester meiner Mutter. Sie lebte in Scheidung, arbeitete nicht und bekam nur die Wohlfahrt. Sie war uns immer irgendwie im Weg. Wir hatten die Dreizimmer-Standardwohnung, und sie ging nie aus. Sie trieb meine Mutter die Wande hoch. Besonders rucksichtsvoll war sie nicht, ich meine Tante Ethel. Belegte das Badezimmer — in dieser Wohnung hatten wir noch ein eigenes Bad.

Und mir hat sie im Spa? Avancen gemacht. Halb im Spa?. Kam in ihrem Schlafanzug oben ohne in mein Zimmer, und so weiter. Sie war erst Anfang drei?ig. Das machte mich irgendwie nervos. Ich hatte noch keine Freundin und … Sie wissen schon. Die Pubertat. Da bringt man einen Jungen rasch aus der Fassung. Mir mi?fiel das. Ich meine, sie war meine Tante.«

Er sah zu Haber um sich zu vergewissern, da? der Arzt wu?te, was ihm mi?fallen hatte, und dieses Mi?fallen nicht verurteilte. Die sexuelle Freizugigkeit in der zweiten Halfte des zwanzigsten Jahrhunderts hatte, was die Sexualitat betraf, zu genauso viel Angst- und Schuldkomplexen bei den Erben gefuhrt wie die hartnackige Unterdruckung im neunzehnten Jahrhundert. Orr furchtete, Haber konnte schockiert daruber sein, da? er nicht mit seiner Tante ins Bett gehen wollte. Doch Haber behielt den unverbindlichen, aber interessierten Ausdruck bei, und Orr fuhr fort.

»Also ich hatte damals jede Menge solcher Angsttraume, und diese Tante kam immer darin vor. Meistens in einer Verkleidung, wie das mit Leuten in Traumen eben so ist; einmal kam sie als eine wei?e Katze, aber ich wu?te auch, da? es Ethel war. Jedenfalls brachte sie mich eines Abends dazu, sie ins Kino einzuladen und versuchte, sich von mir verfuhren zu lassen, und als wir nach Hause kamen, rakelte sie sich auf meinem Bett und sagte immer wieder, da? meine Eltern schliefen und so weiter, und als ich sie endlich aus meinem Zimmer geschafft hatte und einschlief, hatte ich diesen Traum. Einen ausgesprochen lebhaften. Ich konnte mich ganz deutlich daran erinnern, als ich aufwachte. Ich traumte, Ethel ware bei einem Autounfall in Los Angeles ums Leben gekommen und wir hatten eben das Telegramm erhalten. Meine Mutter weinte, wahrend sie versuchte, das Essen zuzubereiten, und sie tat mir leid und ich wunschte, ich hatte etwas fur sie tun konnen, aber ich wu?te nicht, was ich tun sollte. Das war alles … Aber als ich aufstand, ging ich ins Wohnzimmer. Keine Ethel auf der Couch. Es war niemand mehr in dem Apartment, nur meine Eltern und ich. Sie war nicht da. Sie war nie da gewesen. Ich mu?te nicht fragen. Ich erinnerte mich. Ich wu?te, da? Tante Ethel vor sechs Wochen in Los Angeles auf dem Freeway bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, als sie sich auf der Ruckfahrt vom Scheidungsanwalt befand. Man hatte uns die Nachricht in einem Telegramm mitgeteilt. Der ganze Traum war tatsachlich so, als hatte ich nur etwas noch einmal erlebt, das bereits geschehen war. Aber es war nicht geschehen. Bis zu dem Traum. Ich meine, ich wu?te auch, da? sie bei uns gewohnt und bis gestern Nacht auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen hatte.«

»Aber es gab nichts, das das untermauert, das es bewiesen hatte?«

»Nein. Nichts. Sie war nicht da gewesen. Niemand erinnerte sich daran, da? sie da gewesen war, au?er mir. Und ich hatte mich geirrt. Na also.«

Haber nickte verstandnisvoll und strich uber seinen Bart. Der leichte Fall von Medikamentenmi?brauch schien

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