Ursula K. Le Guin

Die Gei?el des Himmels

1

Konfuzius und du, ihr seid beide Traume; und da? ich dich einen Traum nenne, ist auch ein Traum. Worte wie diese mag man groteske und absurde Worte nennen. Doch vielleicht wird nach zehntausend Generationen ein Berufener auftreten, der dies alles versteht.

Dschuang-Dsi, II

Von der Stromung getragen, von Wellen herumgewirbelt, im Sog der geballten Macht des Ozeans treibt die Qualle im Abgrund der Gezeiten. Licht scheint durch sie hindurch, das Dunkel dringt in sie ein. Getragen, herumgewirbelt, im Sog von Irgendwo nach Irgendwo, denn in Meerestiefen gibt es keine Himmelsrichtungen, nur naher und ferner, hoher und tiefer, schwebt und schwankt die Qualle; ein leichtes, schnelles Pulsieren durchstromt sie so, wie das gewaltige, taglich wiederkehrende Pulsieren des mondbeeinflu?ten Meeres. Schwebend, schwankend, pulsierend, das verwundbarste und substanzloseste aller Geschopfe, aber zu seiner Verteidigung gebietet es uber Gewalt und Kraft des ganzen Ozeans, dem es sein Wesen, seinen Weg und seinen Willen anvertraut hat.

Doch hier erheben sich die storrischen Kontinente. Schelfe aus Kies und Klippen aus Fels bohren sich kahl aus dem Wasser in die Luft, dieses trockene, schreckliche Weltall voller Strahlung und Instabilitat, wo das Leben keine Unterstutzung findet. Und jetzt, jetzt fuhrt die Stromung in die Irre, die Wellen sind verraterisch, durchbrechen den ewigen Kreis, springen mit tosender Gischt gegen Felsen und Luft, brechen …

Was wird das Geschopf aus reiner Meeresdrift auf dem trockenen Sand des hellen Tageslichts anfangen; was wird der Verstand anfangen, wenn er jeden Morgen erwacht?

Man hatte ihm die Lider weggebrannt, damit er die Augen nicht schlie?en und das Licht sengend in sein Gehirn stromen konnte. Er konnte das Gesicht nicht drehen, da herabgesturzte Betonquader ihn niederdruckten und die Stahlstangen, die aus ihren Kernen ragten, seinen Kopf wie in einem Schraubstock festhielten. Als sie verschwunden waren, konnte er sich wieder bewegen; er setzte sich auf. Er befand sich auf den Betonstufen; ein Lowenzahn, der aus einem kleinen Spalt im Beton wuchs, bluhte neben seiner Hand. Nach einer Weile erhob er sich, aber kaum stand er auf den Beinen, wurde ihm sterbensubel und er wu?te, das lag an der Strahlenkrankheit. Die Tur war nur zwei Schritte von ihm entfernt, denn aufgeblasen beanspruchte die Luftmatratze das halbe Zimmer. Er ging zur Tur, offnete sie, trat hinaus. Da erstreckte sich der endlose Linoleumkorridor, der leicht uneben meilenweit verlief, und weit entfernt, sehr weit, lag die Herrentoilette. Er ging darauf zu und versuchte, sich an der Wand abzustutzen, aber es gab nichts zum Abstutzen, und die Wand verwandelte sich in einen Fu?boden.

»Ruhig. Ganz ruhig.«

Das Gesicht des Aufzugfuhrers schwebte wie ein Papierlampion, bleich, von ergrautem Haar eingerahmt, uber ihm.

»Es liegt an der Strahlung«, sagte er, aber Mannie schien ihn nicht zu verstehen, er sagte nur: »Beruhigen Sie sich.«

Er lag wieder auf der Luftmatratze in seinem Zimmer.

»Sind Sie betrunken?«

»Nein.«

»Von etwas high?«

»Ubelkeit.«

»Was haben Sie genommen?«

»Konnte den passenden nicht finden«, antwortete er und wollte damit sagen, da? er versucht hatte, die Tur zu schlie?en, durch die die Traume kamen, aber keiner der Schlussel ins Schlo? pa?te.

»Der Arzt vom funfzehnten Stock kommt rauf«, sagte Mannie leise durch das Rauschen der Brandung.

Er zappelte und versuchte, zu atmen. Ein Fremder mit einer Spritze in der Hand sa? auf seinem Bett und betrachtete ihn.

»Das hat gewirkt«, sagte der Fremde. »Er kommt zu sich. Sie fuhlen sich beschissen? Bleiben Sie ruhig. Sie sollten sich auch beschissen fuhlen. Haben Sie das alles auf einmal genommen?« Er zeigte sieben der kleinen Plastiktuten aus dem Medikamentenautomaten. »Ganz schlechte Mischung, Barbiturate und Dexedrin. Was wollten Sie sich denn antun?«

Es fiel ihm schwer, zu atmen, aber die Ubelkeit war abgeklungen und hatte nur eine schreckliche Schwache hinterlassen.

»Haben alle das Datum dieser Woche«, fuhr der Arzt fort, ein junger Mann mit braunem Pferdeschwanz und schlechten Zahnen. »Was bedeutet, sie wurden nicht alle mit Ihrer Pharmaziekarte gekauft, daher mu? ich Sie wegen Kartenbetrug melden. Gefallt mir nicht, aber ich wurde gerufen und habe keine andere Wahl, verstehen Sie? Keine Sorge, bei diesen Medikamenten ist das kein Straftatbestand, Sie werden vermutlich nur eine Aufforderung erhalten, da? Sie sich bei der Polizei melden mussen, und die werden Sie zur Untersuchung in die Uniklinik oder ins Kreiskrankenhaus schicken, wo man Sie zur FTB — Freiwillige Therapeutische Behandlung — an einen Arzt oder Seelenklempner uberweisen wird. Ich habe das Formular schon anhand Ihres Ausweises ausgefullt; jetzt mu?te ich nur noch wissen, wie lange Sie diese Medikamente schon in hoherer als Ihrer eigenen Dosierung einnehmen.«

»Zwei Monate.«

Der Arzt kritzelte auf ein Blatt Papier auf seinen Knien.

»Und von wem haben Sie sich die Pharmaziekarten ausgeliehen?«

»Freunden.«

»Ich brauche die Namen.«

»Wenigstens einen Namen«, sagte der Arzt nach einer Weile. »Eine reine Formsache. Sie kriegen keinen Arger. Passen Sie auf, die bekommen lediglich eine Verwarnung von der Polizei, und das Gesundheitsamt uberpruft ein Jahr lang ihre Pharmaziekarten. Eine reine Formsache. Einen Namen.«

»Ich kann nicht. Sie haben versucht, mir zu helfen.«

»Horen Sie, wenn Sie die Namen nicht nennen, gilt das als Widerstand und Sie kommen entweder ins Gefangnis oder zur Zwangstherapie in eine geschlossene Anstalt. Au?erdem konnen Sie die Karten uber die gespeicherten Daten des Medikamentenautomaten zuruckverfolgen, wir wurden ihnen nur die Arbeit abnehmen. Kommen Sie, nennen Sie mir nur einen der Namen.«

Er bedeckte das Gesicht mit den Armen, um das unertragliche Licht abzuhalten. »Ich kann nicht«, sagte er. »Ich kann das nicht machen. Ich brauche Hilfe.«

»Er hat meine Karte geborgt«, sage der Fahrstuhlfuhrer. »Ja. Mannie Ahrens, 247-602-6023.« Der Kugelschreiber des Arztes machte kritzel-kritzel.

»Ich habe Ihre Karte nie benutzt.«

»Verwirren wir sie ein wenig. Die prufen das nicht nach. Es kommt andauernd vor, da? Leute die Pharmaziekarten anderer Leute benutzen, die konnen das nicht nachprufen. Ich verleihe meine andauernd oder benutze die von jemand anderem. Ich hab diese Verwarnungen haufenweise rumliegen. Ich hab Sachen genommen, von denen das Gesundheitsamt nicht mal gehort hat. Sie sind noch nie am Haken gewesen. Beruhigen Sie sich, George.«

»Ich kann nicht«, sagte er und meinte damit, er konnte Mannie nicht fur sich lugen lassen, konnte ihn nicht daran hindern, fur ihn zu lugen, konnte sich nicht beruhigen, konnte nicht weitermachen.

»In zwei oder drei Stunden geht es Ihnen besser«, sagte der Arzt. »Aber bleiben Sie daheim. In der Innenstadt ist die Lage sowieso katastrophal, die U-Bahn-Fahrer streiken mal wieder, die Nationalgarde versucht, die U-Bahnen am Laufen zu halten, und in den Nachrichten hei?t es, da? das vollige Chaos herrscht. Bleiben Sie

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