Aber im Augenblick sagte der Richter nichts weiter. Es schien unwahrscheinlich, da? Madame Daubreuil irgendwie mit dem Verbrechen zu tun hatte, und er furchtete, Madame Renauld mehr als notig aufzuregen.
Er gab dem Kommissar ein Zeichen, das dieser mit einem Kopfnicken beantwortete. Dann erhob er sich, verlie? den Raum und kehrte mit dem Glaskrug zuruck, den wir in dem Schuppen in seiner Hand gesehen hatten. Er nahm den Dolch heraus.
»Madame«, sagte er sanft, »erkennen Sie dies?«
Sie stie? einen leisen Schrei aus.
»Ja, das ist mein kleiner Dolch.« Dann sah sie die befleckte Spitze und fuhr zuruck, vor Entsetzen weiteten sich ihre Augen. »Ist dies - Blut?«
»Ja, Madame. Mit dieser Waffe wurde Ihr Gatte getotet.« Rasch brachte er den Dolch au?er Sehweite.
»Wissen Sie ganz bestimmt, da? er vergangene Nacht auf Ihrem Toilettentisch lag?«
»O ja. Es war ein Geschenk meines Sohnes. Er diente wahrend des Krieges bei den Lufttruppen. Er hatte sich fur alter ausgegeben, als er war.« Mutterstolz sprach aus dem Tonfall ihrer Stimme. »Der Dolch wurde aus den Metallteilen eines Flugzeuges angefertigt, und mein Sohn schenkte ihn mir zum Andenken an den Krieg.«
»Ich verstehe, Madame. Das bringt uns aber auf eine andere Sache. Ihr Sohn - wo ist er jetzt? Es ware notig, ihn unverzuglich telegrafisch zu verstandigen.«
»Jack? Er ist unterwegs nach Buenos Aires.«
»Was?«
»Ja. Mein Gatte telegrafierte ihm gestern. Er hatte ihn geschaftlich nach Paris gesandt, aber gestern entdeckte er, da? es notig sei, ihn sofort nach Sudamerika zu schicken. Gestern abend ging ein Schiff von Cherbourg nach Buenos Aires ab, und er drahtete ihm, sich darauf einzuschiffen.«
»Ist Ihnen bekannt, welcher Art das Geschaft in Buenos Aires war?«
»Nein, Monsieur, daruber ist mir nichts bekannt; aber Buenos Aires war nicht das Endziel meines Sohnes. Er sollte sich auf dem Landweg von dort nach Santiago begeben.«
Und gleichzeitig riefen nun der Richter und der Kommissar: »Santiago! Wieder Santiago!«
Jetzt trat Poirot zu Madame Renauld. Er hatte wie traumverloren am Fenster gestanden, und ich zweifle, ob er voll erfa?t hatte, was vorgegangen war. Er blieb vor ihr stehen und verneigte sich.
»Pardon, Madame, durfte ich Ihre Handgelenke ansehen?«
Obwohl etwas erstaunt, streckte Madame Renauld sie ihm entgegen. Um jedes von ihnen zog sich ein blutigroter Streifen, wo die Stricke ins Fleisch geschnitten hatten. Als er sie untersuchte, schien es mir, als verschwande ein zeitweises erregtes Aufleuchten aus seinen Augen, das mir schon aufgefallen war.
»Das mu? Ihnen wohl sehr weh tun«, sagte er, und wieder sah er nachdenklich drein.
Aber der Richter sprach erregt weiter. »Wir mussen uns sofort drahtlos mit dem jungen Monsieur Renauld in Verbindung setzen. Wir mussen erfahren, was er uns uber seine Reise nach Santiago mitteilen kann.« Dann zogerte er. »Ich hoffte ihn naher zur Hand, um Ihnen Kummer ersparen zu konnen, Madame.« Er hielt inne.
»Sie meinen«, sagte sie leise, »wegen Identifizierung der Leiche meines Mannes?«
Der Richter neigte den Kopf.
»Ich habe starke Nerven, Monsieur. Ich kann alles ertragen, was mir auferlegt wird. Ich bin bereit - jetzt gleich.«
»Oh, es hat bis morgen Zeit, glauben Sie mir -«
»Ich mochte es lieber hinter mir haben«, sagte sie leise, und in ihrem Antlitz zuckte es schmerzlich. »Wollen Sie mir gutigst Ihren Arm reichen, Doktor?«
Der Doktor eilte auf sie zu, man gab ihr einen Mantel, und langsam stiegen wir die Treppe hinunter. M. Bex eilte voraus, um die Tur des Schuppens zu offnen. Wenige Minuten spater erschien Mme. Renauld im Eingang. Sie war sehr bla?, aber entschlossen. Hinter ihr, gleich einer munteren Henne, gackerte M. Hautet Entschuldigungen und Beteuerungen seines Mitgefuhls.
Sie bedeckte ihr Antlitz mit der Hand.
Nur einen Augenblick, Messieurs, um Kraft zu sammeln.« Sie lie? die Hand sinken und blickte auf den Toten nieder. Da verlie? sie die wunderbare Selbstbeherrschung, die sie bis dahin aufrechterhalten hatte.
»Paul!« schrie sie. »Mein Mann! Oh, Gott!« Und bewu?tlos sank sie zu Boden.
Sofort war Poirot an ihrer Seite, er hob ihre Augenlider und fuhlte den Puls. Als er sich uberzeugt hatte, da? sie wirklich in Ohnmacht gesunken war, schlich er seitwarts. Er fa?te meinen Arm.
»Ich bin ein Dummkopf, lieber Freund! Wenn je Liebe und Schmerz aus der Stimme einer Frau zu horen waren, so war es jetzt. Meine Vermutung war falsch. Ich mu? von neuem beginnen.«
6
Der Doktor und M. Hautet trugen die Bewu?tlose gemeinsam ins Haus. Der Kommissar blickte ihnen kopfschuttelnd nach.
»Arme Frau«, sagte er vor sich hin. »Der Schock war zu heftig. Ja, da kann man nichts machen. Nun, Monsieur Poirot, wollen wir uns jetzt nicht an den Ort begeben, an dem das Verbrechen verubt wurde?«
»Wie Sie wunschen, Monsieur Bex.«
Wir durchschritten das Haus und verlie?en es durch den Haupteingang. Poirot blickte die Treppen hinauf, als wir vorubergingen, und schuttelte unzufrieden den Kopf.
»Es scheint mir unglaublich, da? die Dienerschaft nichts gehort haben soll. Wenn drei Manner die Treppe herabsteigen, konnte das Knarren beinahe Tote erwecken!«
»Es war mitten in der Nacht, vergessen Sie das nicht. Da lagen alle im tiefsten Schlafe.«
Aber Poirot schuttelte den Kopf; ihm genugte diese Erklarung nicht. An der Kurve der Auffahrt blieb er stehen und sah zum Hause zuruck.
»Was veranla?te die Verbrecher, zuerst zu versuchen, ob der Haupteingang offen sei? Das war doch das Allerunwahrscheinlichste. Es ware viel naheliegender gewesen, da? sie gleich versucht hatten, ein Fenster einzudrucken.
»Aber alle ebenerdigen Fenster sind mit Eisen vergittert«, entgegnete der Kommissar.
Poirot wies auf ein Fenster des ersten Stockes. »Dies ist doch das Fenster des Schlafzimmers, aus dem wir eben kamen, nicht? Und sehen Sie - da ist ein Baum, von dem man auf die leichteste Art und Weise ins Zimmer gelangen kann.«
»Moglich«, gab der andere zu. »Aber dann hatten sie Fu?spuren im Blumenbeet hinterlassen mussen.«
Die Richtigkeit dieses Einwandes leuchtete mir ein. Dort waren zwei gro?e, ovale Blumenbeete, mit roten Geranien, zu beiden Seiten der Stufen, die zum Haupteingang fuhrten. Direkt hinter dem einen Beet stand der in Frage kommende Baum, und es ware daher tatsachlich unmoglich gewesen, zu ihm. zu gelangen, ohne in das Beet zu treten.
»Sehen Sie«, fuhr der Kommissar fort, »infolge der trockenen Witterung sind auf der Auffahrt und den Fu?wegen keine Fu?abdrucke zu sehen; aber in der weichen Gartenerde des Blumenbeetes hatte die Sache ganz anders aussehen mussen.«
Poirot nickte, als ware er uberzeugt, und wir wandten uns weg, aber plotzlich eilte er davon, um das andere Blumenbeet zu untersuchen.
»Monsieur Bex«, rief er. »Sehen. Sie doch: Hier finden Sie genugend Fu?spuren.«
Der Kommissar kam ihm nach - und lachelte.
»Mein lieber Poirot, das sind zweifellos die Abdrucke der gro?en Nagelschuhe des Gartners. Jedenfalls sind sie aber fur uns ganz unwichtig, da es auf dieser Seite keinen Baum gibt und infolgedessen auch keine Moglichkeit, in das obere Stockwerk zu gelangen.«
»Wohl wahr«, sagte Poirot sichtlich niedergeschlagen. »Sie glauben also, diese Fu?spuren seien ohne Belang?«
»Ganz ohne jeden Belang.«
Zu meiner gro?ten Verwunderung erwiderte nun Poirot: »Ich teile Ihre Ansicht nicht. Mir kommt vor, da? diese Fu?spuren das Wichtigste sind, was wir bisher sahen.«
M. Bex antwortete nicht, zuckte aber die Achseln. Er war viel zu hoflich, um seine Ansicht zu au?ern.