hinter ihnen.
»Es unterliegt keinem Zweifel, da? Francoises Erzahlung im wesentlichen auf Wahrheit beruht«, bemerkte er vertraulich zu mir. »Ich informierte mich bei unserer Zentrale. Es scheint, da? Madame Daubreuil in den letzten sechs Wochen - das hei?t seit der Ankunft Monsieur Renaulds in Merlinville -dreimal gro?ere Summen in Noten auf ihr Bankkonto einzahlte. Alles zusammen ungefahr die Summe von zweimal hunderttausend Francs!«
»Du lieber Himmel!« sagte ich und rechnete schnell um, »das mu?ten ungefahr viertausend Pfund sein!«
»Genau. Ja, es ist nicht daran zu zweifeln, da? er sehr verliebt war. Jetzt handelt es sich darum, festzustellen, ob er ihr sein Geheimnis anvertraut hatte. Der Untersuchungsrichter glaubt es, aber ich teile seine Ansicht kaum.«
Wahrend dieses Gespraches gingen wir den Weg hinunter bis zu jener Stra?enbiegung, bei der unser Wagen am fruhen Nachmittag gehalten hatte, und gleich darauf erkannten wir jenes kleine Haus, aus dem das schone Madchen herausgetreten war:Villa Marguerite, das Haus der geheimnisvollen Madame Daubreuil. -
»Sie lebt seit vielen Jahren hier«, sagte der Kommissar und deutete auf das Haus. »Sehr ruhig, sehr zuruckgezogen. Sie scheint keine anderen Freunde oder Beziehungen zu haben als die Bekanntschaften, die sie in Merlinville anknupfte. Nie erwahnt sie Vergangenes, nie ihren Gatten. Man wei? nicht einmal, ob er lebt oder tot ist.«
Mein Interesse wuchs, »Und - die Tochter?« warf ich ein.
»Ein wirklich schones junges Madchen - bescheiden, fromm, ganz wie es sich gehort. Man bedauert sie, denn, wenn ihr vielleicht auch nichts uber die Vergangenheit ihrer Mutter bekannt ist, wird doch der Mann, der sie zur Frau begehrt, begreiflicherweise Erkundigungen einziehen, und dann -«
Der Kommissar zuckte die Achseln.
»Aber es ist doch nicht ihr Verschulden! « tief ich entrustet.
»Nein. Aber was wollen Sie? Ein Mann ist eben genau, wo es sich um das Vorleben seiner Gattin handelt.«
Ich konnte darauf nichts mehr erwidern, da wir bei der Tur angelangt waren. M. Hautet lautete. Einige Minuten vergingen, dann horten wir Schritte, und die Tur wurde geoffnet. Meine junge Gottin von heute nachmittag erschien auf der Schwelle. Als sie uns sah, wurde sie leichenbla?, und ihre Augen blickten angstvoll. Sie hatte Furcht!
»Mademoiselle Daubreuil«, sagte Hautet und luftete den Hut, »wir bedauern unendlich, Sie storen zu mussen, aber die Pflicht zwingt uns dazu. Meine Empfehlungen Ihrer Frau Mutter, und wir bitten sie um eine kurze Unterredung.«
Einen Augenblick stand das Madchen regungslos. Dann sagte sie leise: »Bitte, treten Sie ein.«
Sie verschwand in einem Zimmer links von der Halle, und wir horten sie flustern. Und dann lie? sich eine andere Stimme, von fast der gleichen Klangfarbe, aber mit etwas harterem Tonfall horen: »Aber selbstverstandlich. La? sie eintreten.«
Eine Minute spater standen wir der geheimnisvollen Frau gegenuber. Sie war nicht annahernd so gro? wie ihre Tochter, und die runden Linien ihrer Gestalt hatten die Grazie volliger Reife. Sie trug ihr Haar, das, im Gegensatz zu dem ihrer Tochter, dunkel war, nach Madonnenart in der Mitte gescheitelt. Ihre Augen, von den gesenkten Lidern halb verborgen, waren blau. In dem rundlichen Kinn befand sich ein Grubchen, und um die halbgeoffneten Lippen schien immer ein geheimnisvolles Lacheln zu schweben. Ihre Weiblichkeit schien stark unterstrichen, sie wirkte weich und verfuhrerisch zugleich. Sie war sicher nicht mehr jung, aber sehr gut erhalten, und der Zauber, der von ihr ausging, war an kein Alter gebunden.
Wie sie vor uns stand, in ihrem schwarzen Kleid mit blutenwei?em Kragen und Manschetten und ineinandergeschlungenen Handen, sah sie unglaublich ruhrend und hilflos aus. »Sie wollten mich sprechen, Monsieur?« fragte sie. »Ja, Madame.« M. Hautet rausperte sich. »Ich fuhre die Untersuchung uber den Tod von Monsieur Renauld. Sie horten davon, nehme ich an?«
Sie neigte den Kopf, doch sie sprach nicht. Auch ihr Gesichtsausdruck blieb unverandert.
»Wir kamen, um zu fragen, ob Sie ... hm ... uns nicht einige Klarheit uber die Begleitumstande geben konnten?«
»Ich?« Das Staunen in ihrer Stimme war vortrefflich.
»Ja, Madame. Vielleicht ware es besser, wenn wir mit Ihnen allein sprechen konnten.« Er blickte auf die Tochter. Madame Daubreuil wandte sich ihr zu. »Marthe, Liebling ... « Doch das Madchen schuttelte den Kopf. »Nein, Mama. Ich gehe nicht. Ich bin kein Kind mehr. Ich bin zweiundzwanzig. Ich gehe nicht.«
Madame Daubreuil wandte sich wieder »um Untersuchungsrichter. »Sie sehen, Monsieur.«
»Ich zoge es vor, nicht in Gegenwart von Mademoiselle Daubreuil sprechen zu mussen.«
»Wie meine Tochter schon bemerkte, ist sie kein Kind mehr.«
Unschlussig zogerte der Richter einen Augenblick. »Wie Sie wunschen, Madame«, sagte er schlie?lich. »Wir haben Grund zur Annahme, da? Sie den Toten manchmal des Abends in seiner Villa zu besuchen pflegten. Ist das richtig?«
In die bleichen Wangen der Frau stieg jahe Rote, doch sie antwortete ruhig: »Ich gebe Ihnen kein Recht, mich derartiges zu fragen.«
»Madame, wir untersuchen einen Mord.«
»Nun, was macht das aus? Ich habe mit dem Mord nichts zu schaffen.«
»Madame, das haben wir nicht einen Augenblick lang angenommen. Aber Sie waren mit dem Toten gut bekannt. Sprach er niemals zu Ihnen von irgendeiner Gefahr, von der er sich bedroht wahnte?«
»Niemals.«
»Erwahnte er jemals sein Leben in Santiago und etwaige Feindschaften, die ihm dort erwachsen waren?« -
»Nein.«
»Sie konnen uns also in keiner Weise behilflich sein?«
»Ich furchte, nein. Ich begreife wirklich nicht, weshalb Sie zu mir kommen. Kann seine Frau Ihnen nicht die Auskunft geben, die Sie brauchen?« In ihrer Stimme schwang leise Ironie.
»Madame Renauld sagte uns alles, was sie wu?te.«
»Ah!« sagte Madame Daubreuil. »Ich wu?te gern -«
»Was wu?ten Sie gern, Madame?«
»Nichts.«
Der Untersuchungsrichter blickte sie an. Er war sich dessen voll bewu?t, da? er einen Zweikampf focht und da? er keinen geringen Gegner vor sich hatte.
»Sie bleiben bei Ihrer Behauptung, da? Monsieur Renauld Ihnen nichts anvertraute?«
»Weshalb erscheint es Ihnen wahrscheinlich, da? er mir etwas anvertraut habe?«
»Weil, Madame«, sagte M. Hautet mit berechneter Brutalitat, »ein Mann seiner Geliebten Dinge sagt, die er nicht immer seiner Gattin anvertraut.«
»Ah!« Sie sprang auf. Ihre Augen funkelten. »Monsieur, Sie beschimpfen mich! Und noch dazu in Gegenwart meiner Tochter! Ich kann Ihnen nichts weiter sagen. Bitte, verlassen Sie mein Haus.«
Unzweifelhaft hatte Mme. Daubreuil ehrenvoll bestanden. Wir verlie?en die Villa Marguerite wie eine Rotte beschamter Schuljungen. Der Untersuchungsrichter hielt argerliche Selbstgesprache. Poirot schien in Gedanken versunken. Plotzlich fuhr er aus seinen Traumen empor und erkundigte sich bei M. Hautet, ob es in der Nahe ein gutes Hotel gebe.
»Es gibt ein kleines Hotel, das Hotel des Bains, unmittelbar vor der Stadt. Einige hundert Meter den Weg hinab. Es liegt sehr gunstig fur Ihre Forschungen. Dann sehen wir Sie also morgen fruh, nehme ich an.«
»Ja, danke, Monsieur Hautet.«
Nach gegenseitigem Austausch von Hoflichkeiten verlie?en wir die Gesellschaft. Poirot und ich gingen nach Merlinville, die anderen kehrten zur Villa Genevieve zuruck.
»Der franzosische Polizeidienst ist ausgezeichnet organisiert«, sagte Poirot und blickte ihnen nach. »Die Informationen, die sie uber jedermanns Leben, bis zu den alltaglichsten Einzelheiten besitzen, sind bewundernswert. Obwohl Monsieur Renauld nicht viel langer als seit sechs Wochen hier war, wu?ten sie uber ihn, uber seine Neigungen genau Bescheid, und es ist ihnen sogar moglich, uber das Bankkonto von Madame Daubreuil Auskunft zu erteilen und uber die Summen, die kurzlich darauf eingezahlt wurden! Aber was soll das bedeuten?«