und er wandte sich um. Eine Gestalt lief hinter uns her. Marthe Daubreuil!
»Verzeihen Sie«, rief sie atemlos, als sie uns erreicht hatte. »Ich sollte das nicht tun, ich wei? es. Sie durfen es meiner Mutter nicht erzahlen. Aber ist es richtig, was die Leute sagen, da? Monsieur Renauld vor seinem Tode einen Detektiv herbeirief - und da? Sie dieser Detektiv sind?«
»Ja, Mademoiselle«, sagte Poirot liebenswurdig. »Das ist allerdings wahr. Aber wie erfuhren Sie es?«
»Francoise erzahlte es unserer Amelie«, erklarte Marthe errotend.
Poirot verzog das Gesicht. »Verschwiegenheit ist wohl in so einer Angelegenheit ganz ausgeschlossen! Aber das macht nichts. Nun, Mademoiselle, was mochten Sie gern wissen?«
Das Madchen zogerte. Es schien, als furchte es zu sprechen.
Endlich fragte es fast flusternd: »Hat - hat man irgendeinen Verdacht?«
Poirot sah sie durchdringend an. Dann antwortete er ausweichend: »Verdacht, Mademoiselle ... allerdings.«
»Ja, aber - handelt es sich um eine bestimmte Person?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
Es schien, als habe die Frage das Madchen erschreckt. Sogleich kamen mir die Worte ins Gedachtnis, die Poirot einige Stunden fruher gesprochen hatte. »Das Madchen mit den angstvollen Augen.«
»Monsieur Renauld war immer sehr gutig zu mir«, erwiderte sie endlich. »Es ist nur naturlich, da? ich mich dafur interessiere.«
»Ich verstehe«, sagte Poirot. »Nun, Mademoiselle, der Verdacht schwankt momentan zwischen zwei Personen.«
»Zwei?«
Ich hatte schworen mogen, da? Staunen und Erleichterung aus ihrer Stimme klangen.
»Ihre Namen sind unbekannt, doch es wird angenommen, da? es Chilenen aus Santiago sind. Und nun, Mademoiselle, sehen Sie, was es hei?t, jung und schon zu sein! Ich habe Ihretwegen Berufsgeheimnisse verraten!«
Das Madchen lachte leise und dankte ihm dann ein wenig betreten. »Ich mu? nach Hause. Mama konnte mich vermissen.« Und sie machte kehrt und lief den Weg zuruck, sie glich einer modernen Atalanta. Ich starrte ihr nach.
»Lieber Freund«, sagte Poirot in seiner leicht ironischen Art, »sollen wir hier die ganze Nacht wie angewurzelt stehen -nur weil du ein schones junges Weib sahst und dir der Kopf davon wirbelt?«
»Aber sie ist doch wunderschon, Poirot. Und man mu? es jedem verzeihen, wenn er durch sie den Kopf verliert.«
Poirot stohnte. »Mon Dieu! Hast du ein empfindsames Herz!«
»Poirot«, sagte ich, »erinnerst du dich an den Fall Styles, wie-«
»Wie du in zwei reizende Frauen zugleich verliebt warst, von denen keine fur dich taugte? Ja, ich erinnere mich.«
»Du trostetest mich damals und sagtest, da? wir vielleicht eines Tages wieder gemeinsam purschen wurden und da? dann -«
»Eh bien?«
»Nun, wir jagen wieder gemeinsam, und - « Ich hielt inne und lachte ein wenig selbstbewu?t.
Doch zu meiner Uberraschung schuttelte Poirot sehr ernst den Kopf. »Oh, mon ami, setz dir Marthe Daubreuil nicht in den Kopf. Die ist nichts fur dich, die nicht! La? dir's von Papa Poirot gesagt sein!«
»Weshalb«, rief ich, »der Kommissar versicherte mir doch, sie sei ebenso tugendhaft wie schon! Ein vollkommener Engel!«
»Unter den gro?ten Verbrechern, die mir unter die Hande kamen, hatten einige wahre Engelsphysiognomien«, bemerkte Poirot heiter. »Eine Abnormitat der ,grauen Zellen' kann sich sehr leicht hinter einem Madonnengesicht verstecken.«
»Poirot«, rief ich entsetzt, »du willst doch nicht etwa sagen, da? du dieses Madchen verdachtigst!«
»Ta, ta, ta! Nur keine Aufregung! Ich sagte nicht, da? ich sie verdachtige. Aber du wirst doch zugeben, da? ihre Besorgnis, alles uber den Fall zu erfahren, ein wenig ungewohnlich ist.«
»Diesmal sehe ich ausnahmsweise weiter als du«, entgegnete ich. »Ihre Besorgnis galt nicht ihr selbst - sondern ihrer Mutter.«
»Mein Freund«, sagte Poirot, »wie gewohnlich siehst du uberhaupt nichts. Madame Daubreuil ist tuchtig genug, sich selbst zu verteidigen, sie ist nicht auf die Fursorge ihrer Tochter angewiesen. Ich gebe zu, da? ich dich jetzt nur necken wollte, aber nichtsdestoweniger wiederhole ich, was ich schon vorhin sagte. Setz dir dieses Madchen nicht in den Kopf. Sie ist nichts fur dich! Ich, Hercule Poirot, wei? das. Wenn ich mich nur erinnern konnte, wo ich dieses Gesicht schon gesehen habe?«
»Welches Gesicht?« fragte ich erstaunt. »Das der Tochter?«
»Nein, das der Mutter.«
Als er mein Erstaunen merkte, nickte er bestatigend. »Ja doch, es ist so, wie ich dir sagte. Es ist schon lange her, als ich noch bei der belgischen Polizei war. Ich sah diese Frau nie personlich, aber ich sah ihr Bild - im Zusammenhang mit einem - Fall. Ich glaube bestimmt -«
»Was?«
»Ich kann mich irren, aber ich glaube bestimmt, da? es eine Mordaffare war!«
8
Fruhzeitig fanden wir uns am nachsten Morgen in der Villa ein. Der Wachtposten am Gittertor versperrte uns diesmal nicht den Weg. Im Gegenteil, er gru?te ehrerbietig, und wir gingen auf das Haus zu. Leonie, das Stubenmadchen, kam eben die Treppe herabgelaufen, und schien nicht abgeneigt, ein wenig mit uns zu plaudern.
Poirot erkundigte sich nach dem Befinden von Madame Renauld.
Leonie schuttelte den Kopf. »Sie ist ganz au?er Fassung, die arme Frau! Sie will nichts essen, aber rein gar nichts! Und sie ist so bleich wie ein Gespenst. Es ist herzzerbrechend, sie anzusehen. Oh, ich wurde mich nicht um einen Mann kranken, der mich mit einer anderen betrog.«
Poirot nickte zustimmend: »Was Sie sagen, ist sehr richtig, doch was wollen Sie? Das Herz einer liebenden Frau verzeiht manches. Aber sicher gab es im Verlauf der letzten Monate viele Auseinandersetzungen zwischen den beiden?«
Wieder schuttelte Leonie den Kopf: »Niemals, Monsieur. Nie horte ich, da? Madame sich auflehnte - sie machte nicht einmal Vorwurfe! Sie war engelsanft - ganz anders als Monsieur!«
»Monsieur war also kein Engel?«
»Weit entfernt davon. Wenn er in Wut geriet, wu?te es das ganze Haus. Damals, als er Streit mit Monsieur Jack hatte - du lieber Himmel! - da schrien sie so laut, da? man sie bis zum Marktplatz horen konnte!«
»Wirklich«, sagte Poirot. »Wann war denn dieser Streit?«
»Oh, kurz bevor Monsieur Jack nach Paris reiste. Beinahe hatte er den Zug versaumt. Er kam aus der Bibliothek und ergriff eine Reisetasche, die er in der Halle zuruckgelassen hatte. Das Auto war eben in Reparatur, und er mu?te zu Fu? zum Bahnhof laufen. Ich staubte im Salon ab, und ich sah ihn vorbeigehen, sein Gesicht war wei? - so wei? - mit zwei brennendroten Flecken. auf den Wangen. Ach, war er wutend!«
Leonie geno? grundlich ihre eigene Erzahlung.
»Und woruber stritten sie?«
»Ach, das wei? ich nicht«, gestand Leonie, »es ist zwar richtig, da? sie schrien, aber ihre Stimmen klangen so laut und schrill, und sie sprachen so schnell, da? nur jemand, der die englische Sprache sehr gut beherrscht, sie verstanden hatte. Aber Monsieur war den ganzen Tag wie eine Gewitterwolke! Man konnte ihm nichts recht machen!«
Das Gerausch des Schlie?ens einer Tur im oberen Stockwerk unterbrach Leonies Redeflu?.
»Francoise wartet auf mich!« rief sie aus, als sie zum Bewu?tsein ihrer Pflichten erwachte. »Die Alte zankt immer.«