»Eines scheint mir bedeutungsvoll. Sagen Sie, Monsieur Giraud, kommt Ihnen der Fall nicht bekannt vor? Erinnert er Sie an nichts?«
»Bekannt? An etwas erinnern? Das kann ich nicht so ohne weiteres sagen. Aber ich glaube kaum.«
»Sie haben unrecht«, sagte Poirot gelassen. »Ein fast ganz gleiches Verbrechen wurde schon fruher einmal begangen.«
»Wann? Und wo?«
»Ja, daran kann ich mich leider im Augenblick nicht erinnern, ich hatte gehofft, Sie wurden mir dabei behilflich sein konnen.«
Giraud brummte unglaubig: »Es gab viele Verbrechen mit maskierten Mannern. Ich kann mir nicht die Einzelheiten von ihnen allen merken. Mehr oder weniger gleicht ein Verbrechen dem anderen.«
»Doch gibt es etwas - etwas wie eine personliche Note.« Poirot verfiel plotzlich in dozierendes Sprechen und wandte sich an uns alle. »Ich will Ihnen jetzt etwas uber die Psychologie des Verbrechens sagen. Monsieur Giraud wei? sehr genau, da? jeder Verbrecher seine eigene Methode hat und da? die Polizei sehr oft durch die eigenartige Methode eines Einbruchs zum Beispiel Verdacht in bestimmter Richtung hegt. (Japp wird dir das gleiche sagen, Hastings!) Der Mensch ist ein unoriginelles Tier. Unoriginell innerhalb der Gesetze seines taglichen anstandigen Lebens, aber ebenso unoriginell au?erhalb derselben. Wenn ein Mann ein Verbrechen begeht, wird jedes weitere, das er begeht, dem ersten gleichen. Der englische Morder, der sich seiner Frauen nacheinander entledigte, indem er sie im Bade ertrankte, war ein Schulfall. Hatte er sie auf verschiedene Art aus dem Wege geraumt, so ware er vielleicht bis heute der Entdeckung entgangen. Aber er gehorchte den gewohnlichen Gesetzen menschlicher Natur, indem er annahm, da?, was einmal gelang, immer gelingen musse, und er bu?t nun fur seinen Mangel an Originalitat.«
»Und die Moral davon?«
»Da?, wenn Sie zwei in Plan und Ausfuhrung fast gleiche Verbrechen vor sich haben, Sie dahinter ein Hirn finden werden. Ich suche dieses Hirn, Monsieur Giraud, und ich werde es finden. Hier haben wir einen wirklichen Schlussel -einen psychologischen Schlussel. Sie, Monsieur Giraud, mogen wohl alles uber Zigaretten und Zundholzchen wissen, aber ich, Hercule Poirot, kenne den Menschenverstand! Zu Ihrer Orientierung mochte ich Sie noch auf eine Tatsache aufmerksam machen, die vielleicht sonst nicht zu Ihrer Kenntnis gelangen wurde. Die Armbanduhr von Madame Renauld ging am Tag nach dem Ungluck zwei Stunden vor.«
Giraud blickte auf: »Vielleicht ging sie immer vor?«
»Es wurde mir mitgeteilt, da? dies nicht der Fall gewesen sei.«
»Dann um so besser.«
»Aber nichtsdestoweniger sind zwei Stunden sehr viel«, sagte Poirot sanft. »Und dann ist noch die Sache mit den Fu?spuren im Blumenbeet.« Er deutete mit dem Kopf nach dem offenen Fenster.
Giraud machte zwei eilige Schritte und blickte hinaus: »Aber ich sehe keine Fu?spuren?«
»Nein«, sagte Poirot und schichtete einen Sto? Bucher auf dem Tische. »Es sind ja keine.«
Einen Augenblick lang war Girauds Antlitz fast unkenntlich vor blinder Wut. Er schritt auf seinen Peiniger zu, aber in dem Augenblick wurde die Tur des Salons geoffnet, und Marchaud kundete an: »Mr. Stonor, der Sekretar, ist soeben aus England eingetroffen. Darf er eintreten?«
10
Der Mann, der jetzt das Zimmer betrat, war eine auffallende Erscheinung. Sehr gro?, gut gewachsen, mit athletischem Korperbau, tiefbronzefarbenem Gesicht und Nacken beherrschte er die Versammlung. Selbst Giraud machte neben ihm einen etwas bleichsuchtigen Eindruck. Spater, als ich Gabriel Stonor besser kennenlernte, merkte ich, da? er eine ganz ungewohnliche Personlichkeit war. Englander von Geburt, hatte er sieh in der ganzen Welt umhergetrieben. Er hatte Hochwild in Afrika gejagt, Korea bereist, Viehzucht in Kalifornien betrieben, und auf den Sudseeinseln Geschafte abgewickelt.
Sein sicherer Blick blieb auf M. Hautet haften.
»Wohl der mit dem Fall betraute Untersuchungsrichter? Ich freue mich. Sie kennenzulernen. Wie geht's Madame Renauld? Wie ertragt sie das Ungluck? Es mu? ein furchtbarer Schlag fur sie gewesen sein.«
»Schrecklich, schrecklich«, sagte M. Hautet. »Gestatten Sie, dass ich vorstelle: Monsieur Bex, unser Polizeikommissar, Monsieur Giraud von der Surete. Dort der Herr ist Monsieur Hercule Poirot, der bekannte Detektiv. Monsieur Renauld hatte ihn herbeigerufen, aber er kam zu spat, um die Tragodie zu verhindern. Ein Freund Monsieur Poirots, Captain Hastings.«
Stonor blickte Poirot voll Interesse an: »Er rief Sie hierher?«
»Sie wu?ten also nichts davon, da? sich Monsieur Renauld mit der Absicht trug, einen Detektiv kommen zu lassen?« fragte Bex gespannt.
»Nein, ich wu?te es nicht. Aber es wundert mich durchaus nicht.«
»Warum?«
»Weil der alte Herr eigen war. Ich wei? nicht, um was es sich handelte. Er vertraute sich mir nicht an. So standen wir nicht miteinander. Aber eigen war er - sehr sogar.«
»Hm!« machte M. Hautet. »Und die Ursache ist Ihnen unbekannt?«
»Wie ich eben sagte.«
»Verzeihn Sie, Monsieur Stonor, aber wir mussen einige kleine Formalitaten erledigen. Sie hei?en?«
»Gabriel Stonor.«
»Seit wann sind Sie Monsieur Renaulds Sekretar?«
»Seit ungefahr zwei Jahren, als er aus Sudamerika zuruckkehrte. Ich machte seine Bekanntschaft durch einen gemeinsamen Freund, und er bot mir diese Stellung an. Er war ein verdammt guter Herr.«
»Erzahlte er Ihnen des ofteren von seinem Leben in Sudamerika?«
»Ja, haufig.«
»Ist Ihnen bekannt, ob er je in Santiago war?«
»Ich glaube, einige Male.«
»Erwahnte er niemals ein besonderes Ereignis, das ihm dort zugesto?en war - irgendein Ereignis, das eine Rache herausgefordert haben konnte?«
»Niemals.«
»Sprach er von einem Geheimnis, das ihn seit damals umgab?«
»Nicht, da? ich mich entsinnen konnte. Aber trotz alledem gab es ein Geheimnis um ihn. Nie horte ich ihn zum Beispiel von seiner Kindheit sprechen oder von seinem Leben vor seiner Ankunft in Sudamerika. Ich glaube, er war von Geburt franzosischer Kanadier, aber nie erzahlte er von Kanada. Er konnte sich wie eine Muschel abschlie?en, wenn es ihm beliebte.«
»Also, soweit Ihnen bekannt ist, besa? er keine Feinde, und Sie konnen uns keinen Hinweis auf irgendeinen Vorfall geben, der vielleicht mit seiner Ermordung in Verbindung zu bringen ist?«
»Nein.«
»Monsieur Stonor, horten Sie jemals den Namen Duveen?«
»Duveen. Duveen?« Er dachte angestrengt nach. »Ich glaube nicht, ihn gehort zu haben. Und, doch kommt er mir bekannt vor.«
»Kennen Sie eine Dame, eine Freundin Monsieur Renaulds, die mit dem Taufnamen Bella hei?t?«
»Bella Duveen? Ist dies der ganze Name? Ist es nicht merkwurdig? Ich wei? bestimmt, da? ich ihn kenne. Nur fallt mir augenblicklich der Zusammenhang nicht ein.«
Der Untersuchungsrichter hustelte: »Verstehen Sie mich recht, Monsieur Stonor. - Der Fall liegt so: Es darf keine Vorbehalte geben. Sie lassen sich vielleicht durch Ihre Gefuhle fur Madame Renauld - fur die Sie, wie ich annehme, gro?e Verehrung und Zuneigung empfinden - vielleicht - offenbar!« sagte M. Hautet und verwickelte sich immer mehr in den Satz. »Es darf absolut keine Vorbehalte geben.«
Stonor starrte ihn an, in seinen Augen dammerte Verstandnis. »Ich kann nicht ganz mitkommen«, sagte er hoflich. »Was hat denn das mit Madame Renauld zu tun? Ich habe gro?e Achtung und Verehrung fur diese Dame, denn sie ist ein ganz wundervoller, ungewohnlicher Mensch, aber ich kann nicht ganz verstehen, inwiefern meine Zuruckhaltung, oder wie Sie es nennen, auf sie wirken konnte?«