Harry Martin blies nachdenklich Rauch in die Luft. »Ich schatze, ich konnte mich dazu uberreden lassen, mal einen Blick draufzuwerfen.«

Sofort kam Mrs. Martin aus der Kuche und herrschte ihn an: »Du jagst keine Ratten mehr, du bist jetzt Gartner. Ich bin es leid, dass der Landrat dich immer bittet, Ratten zu jagen.«

Harry Martin warf mir uber den Rand seiner Teetasse einen bedeutungsvollen Blick von Mann zu Mann zu. »Schatze, du hast Recht«, erwiderte er.

»Naturlich habe ich Recht«, erklarte seine Frau. »Du bist siebenundsechzig. Ich will nicht, dass du auf irgendwelche Dachboden krabbelst und nach Ratten suchst. Damit das ein fur allemal klar ist!«

»Ja, ich schatze, du hast recht«, wiederholte Harry Martin und bedachte mich mit einem noch bedeutungsvolleren Blick.

Ich trank meinen Tee aus. Am Tassenboden war eine dicke Schicht Zucker zu sehen, die sich nicht aufgelost hatte. »Dann mache ich mich wohl besser wieder auf den Weg«, sagte ich. »Vielleicht finde ich in Portsmouth jemanden, der mir helfen kann.«

»Sie konnen es bei Rentokil in Ryde versuchen«, schlug Mrs. Martin vor.

»Ja, danke. Und danke fur den Kuchen.«

»Selbst gemacht«, verkundete sie und schob mich mehr oder weniger nach drau?en.

Harry Martin blieb, wo er war, hob aber eine Hand und sagte: »Bis dann.«

Im Garten fasste mich Mrs. Martin unerwartet am Armel.

»Horen Sie. Ich mochte nicht, dass Harry hinter dem Ding herjagt. Mehr sage ich dazu nicht.«

»Okay, okay, ich habe verstanden«, beschwichtigte ich sie.

»Das Ding will einfach nur allein gelassen werden, sonst nichts«, sagte sie.

Die Hitze hatte ihr Make-up zum Zerlaufen gebracht, was ihrem Gesicht das glanzende Aussehen einer Plastikpuppe verlieh. Ihre Pupillen waren extrem klein.

»Ich muss das Ding irgendwie loswerden«, sagte ich. »Ich soll Reparaturen ausfuhren, renovieren und das Haus fur die Tarrants fertig stellen, damit sie es verkaufen konnen.«

Ihr Griff wurde noch fester. »Sie konnen ein Hause heute reparieren, aber nicht gestern.«

»Ich verstehe nicht.«

»Wenn Sie erst mal lange genug da leben, werden Sie es verstehen. Das Haus ist nicht immer im Hier und Jetzt. Das Haus war, und es wird sein. Sie hatten es nie bauen sollen, aber nachdem es gebaut worden war, konnte niemand mehr etwas daran andern. Und Sie konnen daran auch nichts andern. Und Harry kann daran ebenso wenig andern. Er hat irgendein personliches Interesse an dieser Sache, aber fragen Sie mich nicht, was es ist. Und fragen Sie ihn nicht, ob er sich das Ding mal ansieht. Und wenn er das trotzdem will, dann hindern Sie ihn daran.«

»Also gut, ich verspreche Ihnen, dass ich ihn nicht noch mal fragen werde.«

Aus dem Wohnzimmer rief Harry: »Wie ware es mit noch einem Tee, Vera?«

»Reg dich blo? nicht auf!«, rief Mrs. Martin zuruck und wandte sich wieder mir zu. »Schworen Sie, dass Sie sonst der Schlag trifft?«

»Ich schwore. Ich wurde nur gerne wissen, was das fur ein Ding ist.« »Eine Ratte, schatze ich.«

»Eine uber sechzig Jahre alte Ratte?«

»Eine Laune der Natur. Es gibt auch Hunde mit drei Beinen, zweihundert Jahre alte Schildkroten.«

»Wissen Sie, was es ist?«, fragte ich sie ohne Umschweife.

Ihre Augen zuckten. Sie lie? mich los und wischte sich ihre Hande an ihrer geblumten Schurze ab.

»Sie wissen, was es ist, richtig?«, bohrte ich nach.

»Nicht wirklich. Ich wei? seinen Namen.«

»Es hat einen Namen?«

Sie sah mich an, als sei es ihr ein wenig peinlich, daruber zu reden. »Ich wusste davon schon, als ich noch ein kleines Madchen war. Meine Mutter hat mir Gutenachtgeschichten daruber erzahlt, um mir Angst einzujagen. Sie sagte immer, wenn ich etwas stehlen oder Unsinn erzahlen wurde, dann wurde es in der Nacht zu mir kommen und mich an einen Ort verschleppen, an dem mich nicht mal die Zeit finden wurde. Was es mit mir machen wurde, ware so entsetzlich, dass niemand etwas davon wissen wolle.«

»Hat sie Ihnen gesagt, wie es hei?t?«

»Jeder kannte seinen Namen. Sogar meine Oma. Es war eins von diesen Dingen, die einfach jeder wei?. Und darum hat auch niemand von uns jemals in der Nahe von Fortyfoot House gespielt. Sie konnen jeden in Bonchurch fragen, auch die Jungeren.«

»Und wie hei?t es?«

Sie sah mich durchdringend an: »Ich mochte den Namen lieber nicht aussprechen.«

»Sie sind doch bestimmt nicht so aberglaubisch?«, zog ich sie auf.

»Oh, ich bin uberhaupt nicht aberglaubisch. Ich spaziere unter zwanzig Leitern durch, wenn Sie das wollen. Ich verschutte Salz gleich kiloweise, und ich zerschlage den lieben langen Tag uber Spiegel - und es kummert mich uberhaupt nicht. Aber ich mochte nicht den Namen dieses Dings aussprechen.«

In dem Moment trat aber Harry Martin auf die Veranda und zundete sich eine weitere selbst gedrehte Zigarette an.

»Das Ding hei?t Brown Jenkin«, sagte er.

Mrs. Martin starrte mich an, in ihrem Blick war schiere Verzweiflung zu sehen. Sie schuttelte ganz minimal den Kopf, als versuche sie sich einzureden, nicht zuzuhoren und nicht das zu wiederholen, was ihr Mann gerade gesagt hatte.

»Brown Jenkin, jawohl«, wiederholte Harry Martin. Fast schien es, als gefalle es ihm, etwas so Verbotenes laut auszusprechen.

Mrs. Martin legte die Hand vor den Mund. Im gleichen Moment schob sich eine Wolke vor. die Sonne und lie? den Garten grau in grau erscheinen.

5. Die Nacht der Lichter

Am Abend kochte Liz ihr viel geruhmtes Chili. Danny schmeckte es nicht besonders, es war fur seinen Geschmack zu viel Pfeffer drin, und die Kidneybohnen fand er »eklig«. Er sortierte sie alle auf eine Seite des Tellers, als waren es kleine Steine.

Fur mich dagegen war es eine der besten Mahlzeiten seit Monaten, nicht zuletzt, weil ich sie nicht selbst zubereiten musste. Wir a?en im Wohnzimmer, die Teller balancierten wir auf dem Schoss, wahrend wir uns im Fernsehen Die Brucke am Kwai ansahen.

»Was hat der Rattenmann gesagt?«, fragte Liz. Um ihren Kopf hatte sie einen roten Schal gebunden, und sie trug ein weites Baumwollkleid, das irgendwie wie ein Kaftan wirkte. Ihre nackten Zehen mit den lackierten Nageln lugten unter dem ausgefransten Saum hervor.

»Er tat ein wenig geheimnisvoll, wenn ich ehrlich sein soll. Er sagte, er kenne diese spezielle Ratte. Genau genommen kenne sie jeder im Dorf. Er sagt, dass sie schon so lange hier lebt, dass sich einfach jeder an sie erinnern kann.«

»Ratten leben doch nicht so lange, oder?«

»Nicht dass ich wusste«, erwiderte ich schulterzuckend. »Jedenfalls hat er gesagt, dass er im Ruhestand ist und nicht interessiert sei.« Mehr wollte ich nicht sagen, um Danny nicht zu beunruhigen. Er musste nichts horen von grellen Lichtern und schrecklichen Stimmen und von Dingen, die einen dorthin verschleppen, wo einen nicht einmal die Zeit finden kann.

Liz kam zu mir und nahm mir den Teller aus der Hand. »Wie ware es mit noch etwas Wein?«, schlug sie vor.

»Gerne.« Wir gingen in die Kuche, wahrend Danny Alec Guinness beobachtete, der den Japanern trotzte.

Liz kratzte die Reste von den Tellern in den Mulleimer, wahrend ich zwei Glaser Piat D'Or einschenkte.

»Das war ein tolles Abendessen, danke.«

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