»Danny hat es nicht so geschmeckt, wurde ich sagen.«

»Danny ist ein unerschutterlicher Fan von Heinz Spaghetti.«

»Das mit der Ratte ist seltsam. Was wirst du jetzt machen?«

»Ich habe Rentokil in Ryde angerufen; sie schicken morgen Nachmittag jemanden her. Aber es war sehr sonderbar. Die Frau des Rattenfangers hat mir erzahlt, die Ratte sei in Bonchurch so bekannt, dass sie sogar einen Namen hat. Sie hatte eindeutig sehr gro?e Angst davor. Ich konnte sie nicht dazu bringen, mir diesen Namen zu sagen. Ihr Mann hat ihn mir dann schlie?lich gesagt.«

Liz spulte die Teller, ich trocknete ab und stellte sie fort.

»Und?«

»Und was?«

»Wie die Ratte hei?t, meine ich.«

»Ach so, Brown irgendwas. Brown Johnson oder so.«

Liz legte die Stirn in Falten. »Komisch, ich bin sicher, dass ich so einen Namen schon mal irgendwo gehort habe.«

»Also, ich kenne eine ganze Menge Leute, die Johnson hei?en. Und auch einige Leute, die Brown hei?en.«

Wir setzten uns wieder hin und leerten unsere Glaser, wahrend wir zusahen, wie William Holden die Brucke uber den Kwai in die Luft jagte. Danny war so mude, dass ich ihn ins Bett tragen und ausziehen musste. Ich sah ihm zu, wie er sich die Zahne putzte. Dabei fiel mein Blick auf mein Spiegelbild im Badezimmerfenster. Ich sah dunner und ausgemergelter aus, als ich gedacht hatte.

Liz schaltete das Licht in Dannys Zimmer aus, und gemeinsam gingen wir wieder nach unten. Ich offnete eine weitere Flasche Piat D'Or, und wir machten es uns auf dem durchgesessenen braunen Sofa gemutlich, wahrend meine zerkratzte LP mit Smetanas Ma Vlast lief. Die Musik beschrieb genau meine Verfassung: aufgewuhlt, gefuhlvoll, ein wenig aufgeblasen und fremd.

Liz erzahlte, dass sie in Burgess Hill zur Welt gekommen sei, einer kleinen hasslichen Stadt in Mid-Sussex. Ihr Vater leitete ein Bauunternehmen, ihre Mutter hatte einen kleinen Glas-und Porzellanwarenladen. Vor sechs Jahren hatte sich ihre Mutter in einen eleganten Reisekaufmann mit einem kleinen gestutzten Schnauzer verliebt, dessen ganzer Stolz ein neuer Ford Granada war. Ihre Eltern lie?en sich daraufhin scheiden. Liz hatte gerade erst verarbeitet, dass sie aus einer zerstorten Familie kam. »Viele andere Studenten reden von >Daddy< und >Mom< und sagen >meine Familie<. Ich habe zwei Jahre benotigt, um den Mut zu finden, anderen zu sagen, dass sich meine Eltern getrennt haben. Es tut weh. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr. Das Schlimmste damals war, wie entsetzlich sie sich beschimpft haben.«

»Hast du einen Freund?«, fragte ich.

»Ich hatte einen. Aber er war zu korrekt fur mich. Ihm war es peinlich, wenn ich auf einer Mauer balancierte oder auf der Stra?e tanzte. Ich habe auch dem Sex abgeschworen. Ich habe beschlossen, keusch und heilig zu sein. Die heilige Elizabeth, die Unberuhrte.«

»Warum hast du dem Sex abgeschworen?«, fragte ich lachelnd.

»Ich wei? nicht, ich glaube, es lag an Robert. Meinem Freund. Bei ihm kam es mir so kompliziert und so mechanisch vor. Ich hatte immer das Gefuhl, dass er versuchte, einen Wagen zu warten.«

Ich lachte. »Keusch bist du wahrscheinlich besser dran.«

»Dir fehlt es, verheiratet zu sein, nicht wahr?«

»Ja und nein. Mir fehlt die Gesellschaft, es fehlt mir, mit jemandem reden zu konnen.«

»Und die Wagenwartung?«

Ich hob mein Weinglas. Durch das gewolbte Glas konnte ich Liz' verzerrtes Gesicht sehen. »Ja, die fehlt mir auch.«

Es war eine Nacht mit hoher Luftfeuchtigkeit, es ging kaum ein Wind. Hinter den Baumen klang die See wie eine geisterhafte Frau, die langsam in einem Taftkleid durch einen marmornen Korridor lief. Ich stand am Fenster, als Ma Vlast endete und eine Eule ihren Schrei in die Nacht schickte. Ich uberlegte, ob diese siebzig Kinder auf dem Friedhof sie auch horen konnten. Weit entfernt zuckten Blitze. Es war eine Nacht voller Elektrizitat, voller Hochspannung.

»Ich gehe schlafen, wenn du nichts dagegen hast«, sagte Liz.

Ich nickte. »Was soll ich dagegen haben? Fuhl dich hier wie zu Hause. Du kannst schlafen gehen und aufstehen, wann immer du willst. Wann fangst du in diesem Vogelpark an?«

»Ubermorgen.«

Sie kam zu mir und legte ihre Hand auf meine Schulter. »Danke, David. Das wird schon werden.«

Ich kusste sie auf die Stirn. »Das glaube ich auch.«

Ich sa? allein und ohne Wein da, wahrend ich mir die andere Seite der Platte anhorte. Preludes von Liszt. Aber allein dazusitzen, war nicht das Gleiche. Ich ging in die Kuche und stie? auf den Rest eines Notizblockes mit dem Werbeaufdruck vom Schlachter E. Gibson in der High Street in Ventnor. Dann begann ich, Janie einen Brief zu schreiben. Ich schrieb ihr, dass es Danny und mir gut gehe und dass Liz den Sommer bei uns verbringen werde. Ich zogerte einen

Moment lang, dann strich ich den letzten Teil durch. Schlie?lich zerknullte ich den ganzen Brief und warf ihn in den Kohleneimer. Es ergab keinen Sinn, alle Brucken hinter mir niederzurei?en, wenn es nicht wirklich notwendig war. Immerhin wusste ich nicht, ob Janie und Raymond moglicherweise gar nicht mehr waren als nur gute Freunde.

Du Traumer, dachte ich.

Ich sa? noch immer in der Kuche vor dem leeren Notizblock, als die Uhr im Flur Mitternacht schlug. Ich musste am nachsten Morgen fruh raus, also ging ich von Tur zu Tur, um zu sehen, ob alles verschlossen war; dann schaltete ich das Licht aus. Im Wohnzimmer klapperte ein Fenster. Es war nicht sehr heftig, weil sich die Luft drau?en kaum bewegte, aber es war recht laut und unangenehm regelma?ig. Als ich es schlie?en wollte, sah ich, wie die Blitze uber den Horizont zuckten. Die Luft roch nach Ozon.

Von der Decke horte ich ein leises Kratzen, als wurde sich unter den Dielenbrettern im Schlafzimmer etwas schnell und mit Leichtigkeit bewegen, etwas, das Krallen hatte.

Ich mochte den Namen dieses Dings nicht aussprechen.

Ich lauschte, aber das Gerausch war nicht mehr zu horen. Ich schloss und verriegelte das Fenster, sah aber nicht in den Garten. Ich wusste zwar, dass er nicht dort sein wurde, ich wusste, dass er nicht mal dort sein konnte - trotzdem wollte ich ihn nicht sehen, den Mann mit dem schwarzen Zylinder, drau?en auf der Wiese. Er existierte nicht. Er war nichts weiter als eine optische Tauschung, der Schatten einer voruberfliegenden Mowe, ein vom Wind mitgerissenes Stuck schwarzes Papier.

Ich tastete mich zuruck in den Flur, wo durch das Oberlicht uber der Eingangstur ein fahler Lichtschein hereinfiel. Ohne das Licht anzuschalten, ging ich auf quietschenden Sohlen bis zum Ende des Flurs gleich neben der Kellertur, wo das Foto hing - Fortyfoot House anno 1888.

Der Mann stand noch immer dort, sein Gesicht ein klein wenig verschwommen, seinen Blick durch mehr als hundert

Jahre hindurch auf mich gerichtet. An dem Tag, an dem er im Garten gestanden hatte, um sich fotografieren zu lassen, hatte Queen Viktoria nur wenige Kilometer entfernt in Osborne residiert, und Oscar Wilde hatte soeben The Happy Prince veroffentlicht.

Eigentlich war es vollig irrational von mir, dass ich nachsah, ob er noch auf dem Bild sei. Aber ich konnte das Gefuhl nicht loswerden, dass es ihm irgendwie gelungen war, aus dem Bild zu entkommen, um sich im Fortyfoot House zu verstecken; in seinem schwarzen Anzug, mit bleichem Gesicht und zweidimensional.

Schlie?lich wandte ich mich von dem Foto ab, doch im gleichen Moment war ich sicher, dass sich das Bild geringfugig verandert hatte. Ich sah wieder hin. Er schien an der gleichen Stelle zu stehen wie zuvor, sein Gesichtsausdruck war unverandert. Aber hatte sein Fu? nicht gerade eben noch ein Stuck naher an dem Rosenbeet gestanden?

Zu viel Piat D'Or, sagte ich mir. Zu viel Stress, zu viele Sorgen. Ich fing schon an, Gespenster zu sehen. Es war nicht moglich, dass sich etwas in einem hundert Jahre alten Bild bewegte oder veranderte. Der junge Mr. Billings konnte einfach nicht durch die Flure oder durch den Garten von Fortyfoot House spazieren.

Ich ging die Treppe nach oben, das knochenbleiche Licht in meinem Rucken. Ich erreichte den Treppenabsatz und blieb einen Moment an der Tur zum Dachboden stehen. Sie war fest verschlossen und es war

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