einen Mann handelte, nicht mal, ob es uberhaupt menschlich war. In Dr. Barnardos Tagebuchern konnen Sie nachlesen, dass es in fast volliger Dunkelheit dasa?, umgeben von den Kadavern Tausender gro?er Kanalratten, von denen einige so alt waren, dass sie schon zu Staub zerfallen waren, wahrend andere erst vor relativ kurzer Zeit ihr Leben gelassen hatten und teilweise mumifiziert waren. Diese junge Frau hatte zu Fu?en dieses Wesens gesessen, sie war in schmutzigen Samt gekleidet und hatte - laut Dr. Barnardo - einen grotesken und gutturalen Gesang rezitiert, immer und immer wieder. Auch wenn er den Text nicht verstehen konnte, verspurte Dr. Barnardo unglaubliches Entsetzen, fast so, als sei es ein Gebet an Gevatter Tod personlich.«

Pickering sah mich nachdenklich an, wahrend er abermals eine Pause machte. »Die junge Frau setzte sich heftig zur Wehr«, sprach er dann weiter, »als Dr. Barnardo sie mitnehmen wollte. Schlie?lich holte er sich aber Unterstutzung in Gestalt von zwei kraftigen jungen Freunden, und sie erwischten sie eines Nachts in der Slugwash Lane, um sie zu Mr. Billings Haus in London zu bringen. Obwohl sie eingeschlossen wurde, versuchte sie zweimal zu entkommen. Schlie?lich entschied der alte Mr. Billings, sie mit auf die Isle of Wight zu nehmen, auch wenn Fortyfoot House noch langst nicht fertig gestelll war. Er wollte sie nur so weit wie moglich von London fortbringen. Er glaubte, dass er gemeinsam mit Mr. Claringbull aus der Hafendirne eine saubere, anstandige und folgsame junge Frau machen konnte.«

»Das Pygmalion-Syndrom«, warf ich ein. »Aus einem Blumenmadchen eine Dame von Welt machen. >Es grunt so grun, wenn Spaniens Bluten bluhn.<«

»Ja, genau«, pflichtete Pickering mir bei. »Leider verliefen die Bemuhungen des alten Mr. Billings, die Rolle des Professor Higgins zu spielen, grundlich verkehrt. Ist Ihr Junge sicher, dass er keinen Joghurt mochte? Meine Frau macht ihn selbst.«

»Nein, danke, wirklich nicht.«

»Also, ich muss sagen, dass ich es ihm nicht verubeln kann. Ich hasse ihren Joghurt.«

»Was lief zwischen dem alten Mr. Billings und der jungen Frau aus dem Ruder?«, hakte ich nach.

»Alles, guter Mann, einfach alles! Die junge Frau war so entschlossen und verschlagen und charakterstark, dass Mr. Billings ?Ar nach kurzer Zeit buchstablich aus der Hand fra?. Und Mr. Claringbull brachte sie dazu, ihm widerspruchslos zur Seite zu stehen. In Mr. Claringbulls Aufzeichnungen ist das alles sehr lebhaft geschildert. Ihre Lekture ist wirklich sehr nervenaufreibend. Laut Mr. Claringbull bestand sie fast vom ersten Augenblick darauf, dass Billings Hunderte von Guineen fur edle Kleidung und fur Schmuck ausgab, und auch wenn sie erst vierzehn war, kleidete und schminkte sie sich wie eine Erwachsene. Sie verlangte, dass er ihr Brandy kaufte, was er auch tat. Und Morphium. Das beschaffte er sich bei Dr. Bartholomew in Shanklin. Sie schlief mitjedem Mann und jedem Jungen, der ihr gefiel. Und sogar« - er senkte seine Stimme so sehr, dass sie kaum noch horbar war - »mit Ponys und Hunden.«

»Mein Gott«, sagte ich. Ich hatte keine Ahnung, welche Reaktion er von mir erwartete.

»Das Sonderbarste aber war, dass sie unverruckbar darauf beharrte, dass er die Architektenplane fur das Dach des Fortyfoot House anderte. Sie prasentierte Zeichnungen und Berechnungen, die die Architekten in Erstaunen versetzten. Die weigerten sich im Ubrigen, sie umzusetzen, weil sie aus ihrer Sicht technisch nicht korrekt waren. Ihrer Meinung nach konnte man ein solches Dach nicht bauen. Aber die junge Frau war so beharrlich in ihrer Uberzeugung, dass der alte Mr. Billings schlie?lich einlenkte - so wie immer. Die Handwerker befolgten exakt ihre Plane und bauten das Dach so, wie Sie es heute kennen. Wie Sie sehen, war es moglich, das Dach zu bauen. Warum sie aber so sehr darauf bestanden hatte, dass es geandert wurde, und wieso sie in der Lage war, die notwendigen Zeichnungen zu erstellen, das hat niemand jemals erfahren. Mr. Claringbull sah den alten Mr. Billings immer seltener, und wenn er ihm begegnete, dann wirkte er erschopft und gereizt. Weder wusste er, welcher Tag noch welcher Monat war.«

Pickering lie? seine Worte eine Weile wirken, dann sprach er weiter: »Jedes Mal, wenn Mr. Claringbull die junge Frau zu Gesicht bekam, fuhlte er einen kalten Hauch, fur den er keinerlei Erklarung finden konnte. Wenn er sich mit ihr in einem Raum aufhielt, verlie? er ihn nahezu augenblicklich mit einem schuppigen Ausschlag, wie trockene Ekzeme. Und wenn er zum Abendessen ins Fortyfoot House eingeladen wurde und neben ihr sitzen musste, zog er sich nach der Tomatensuppe zuruck und verbrachte den gro?ten Teil des Abends damit, sich im Garten zu ubergeben. >Ich erbrach Dinge, die ich nicht gegessen hatte<, schrieb er. >Ich erbrach Dinge, die sich aus eigener Kraft bewegten, Dinge, die im Gras zuckten und zappelten und dann zur schutzenden Hecke davonkrochen.<«

Wieder machte Pickering eine Pause und sah von links nach rechts, als befurchte er, von einem Geist belauscht zu werden, der sich an ihm rachen konnte.

»Das war naturlich Mr. Claringbulls Version der Geschichte. Wenn Sie sie so betrachten, dann ist es wirklich eine entsetzliche und beunruhigende Geschichte. Aber es gab andere, die sich nicht so sicher waren, ob Mr. Claringbull vollig bei Verstand war.« Er beugte sich zu mir heruber und flusterte: »Wenn Sie die Aufzeichnungen des Kusters lesen und wenn Sie die Begabung haben, zwischen den Zeilen zu lesen, dann konnte man sehr wohl zu dem Schluss kommen, dass Mr. Claringbull gar nicht von Mr. Billings'jungem weiblichen Schutzling abgesto?en wurde, sondern sich vielmehr so sehr zu ihr hingezogen fuhlte, dass seine heftige korperliche Reaktion durch seine eigenen Scham-und Schuldgefuhle ausgelost wurde. Mr. Claringbull war verheiratet, aber nach allen Berichten uber seine Frau zu urteilen, litt sie ewig unter Ruckenschmerzen. Das fuhrte zwangslaufig dazu, dass Mr. Claringbull weit weniger ... ahem, eheliche Gefalligkeiten erhielt, als er sich gewunscht hatte.«

Danny drehte sich plotzlich um und lachelte ihn freundlich an. Dennis Pickering war peinlich beruhrt und lief rot an, wahrend er das Lacheln erwiderte.

»Schon gut«, beschwichtigte ich. »Sie mussen nicht in Ratseln sprechen. Danny wei? bereits alles uber das Paarungsverhalten von Amoben, Seegurken und Wustenrennmausen. Glauben Sie mir, das, was erwachsene Menschen machen, wird ihn nicht wirklich verderben. Wahrscheinlich wurde es ihn nicht mal interessieren.«

»Ja, ich glaube, Sie haben Recht«, stimmte Pickering mir zu und lehnte sich zuruck. »Nehmen Sie Schnupftabak?«

»Noch nie probiert.«

»Gut, das sollten Sie auch nicht.«

Er holte eine kleine Schnupftabaksdose hervor und begann - von Danny vollig fasziniert beobachtet - mit jedem Nasenloch ein wenig Pulver zu inhalieren und anschlie?end zu niesen. Dann sa? er da, wahrend seine Augen zu tranen begannen.

Wahrend er einen erneuten Niesreiz zu unterdrucken versuchte, sagte ich: »Mrs. Kemble vom Strandcafe hat mir gesagt, dass der alte Mr. Billings schlie?lich getotet wurde.«

»Oh, Mrs. Kemble! Sie hat am Fortyfoot House einen Narren gefressen. Warum, wei? ich allerdings nicht. Einmal bat sie mich, das Gartentor zu segnen, erklarte mir aber nicht den Grund dafur. Sonderbare Frau. Ihr Mann war eine Art Kriegsheld, er fiel in Dieppe. Sie betreibt ein ziemlich gutes Cafe.«

»Sie wissen nicht, wie der alte Mr. Billings starb?«

Pickering schnauzte seine Nase in drei Tonlagen und horte sich dabei an wie die Hupe eines Maserati. »So wie bei allem, was Fortyfoot House angeht, gibt es viele verschiedene Geschichten. Ich glaube, die am weitesten verbreitete besagt, dass der alte Mr. Billings von einem Blitz getroffen wurde. Das ereignete sich aber erst lange nach der Fertigstellung des Waisenhauses, zu einer Zeit, als sein Sohn ihm bereits half. Das nachste Mal tauchte der Name Billings in den Aufzeichnungen der Pfarrei auf, als der junge Mr. Billings Mr. Claringbull bat, ihn mit dieser jungen Frau zu vermahlen. Das war auch das erste Mal, dass ihr Name irgendwo Erwah-nung fand: Kezia Mason. Mr. Claringbull musste einen langen Brief schreiben, um der Diozese zu erklaren, dass Kezia Masons gottloses Verhalten eine kirchliche Trauung zu einem Ding der Unmoglichkeit machte. Daneben gab es Geruchte im Dorf, der junge Mr. Billings sei selbst in irgendeinen gottlosen Geheimbund verwickelt und die Kapelle im Fortyfoot House werde fur Tieropfer und schwarze Messen benutzt. Diese Geruchte wurden ohne Zweifel durch die merkwurdigen Gestalten geschurt, die sich im Fortyfoot House aufhielten, nachdem der junge Mr. Billings die Leitung ubernommen hatte. »Gesuchte Morder und zweifelhafte Charaktere<, hatte Mr. Claringbull sie genannt.«

Pickering warf Danny einen kurzen Blick zu. »Mr. Claringbull behauptete in seinem Brief, der junge Mr. Billings verfuge uber magische Krafte. Einmal soll er ihn klar und deutlich an einem Fenster des Fortyfoot House gesehen haben, und keine halbe Minute spater habe er auf dem Weg hinunter zur Kuste vor ihm gestanden. Dieser Brief an den Bischof besiegelte Mr. Claringbulls Schicksal. Verstandlicherweise glaubte man, er sei verruckt geworden. Er wurde als Vikar von St. Michael's abberufen - zunachst wurde er zwangsbeurlaubt und dann nach

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