Ich ging noch zwei oder drei Schritte weiter, dann blieb ich stehen. »Das wei? allein der liebe Gott«, sagte ich schlie?lich zu Danny.

10. Die Abendflut

Wir trafen Liz um kurz nach funf an der Bushaltestelle vor dem Tropical Bird Park. Ganze Busladungen von Touristen stromten in Scharen auf den Parkplatz. Wie Scherenschnitte tanzten ihre Schatten uber den Asphalt. Vater mit Bierbauch und Baseballkappe mit dem Aufdruck >Born to Kill<, in fluoreszierende Shorts und viel zu enge TShirts gekleidet. Blonde Mutter mit schlecht sitzender Dauerwelle, in hautengen Radlerhosen, auf kleinen wei?en Stilettos. Schwitzende, ubergewichtige Kinder mit >New Kids on the Block<-TShirts, grauen Socken und Sportschuhen. Durch das monotone Gewummer der Autoradios konnten wir die lauten und durchdringenden Schreie der verschiedenen Vogel horen, die aus dem Park nach drau?en schallten.

Ich fand, dass Liz mude und ein wenig ... na ja, aufgewuhlt aussah, als beschaftige sie sich in Gedanken mit irgendeiner Sache. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und immer wieder strich sie ihre Haare aus der Stirn, als leide sie unter Kopfschmerzen.

»Wie war's?«, fragte ich sie, nachdem wir im Bus einen Platz gefunden hatten.

»Oh, schrecklich. Man sollte alle Touristen erschie?en.«

»Na, hor mal. Keine Touristen, kein Job.«

Sie rang sich zu einem schiefen Lacheln durch. »Stimmt schon. Ich fuhle mich heute nur ein wenig daneben. Ist nicht meine Periode oder so. Ich bin einfach nur mude.«

»Fortyfoot House ist ja auch nicht gerade der beste Platz fur einen festen Schlaf.«

Danny lie? seine Beine schaukeln und sah in das Flackern, als die Aste der Baume vor der Sonne voruberhuschten. Er war noch nicht sehr oft Bus gefahren, und daher war das hier fur ihn etwas Besonderes. Etwas Besonderes, dachte ich sarkastisch.

Wenn ich niemanden fand, der meinen Wagen reparieren konnte, wurden wir fur den Rest des Sommers mit dem Bus fahren mussen. In Ryde gab es einen Audi-Handler. Vielleicht sollte ich morgen zu ihm fahren und sehen, ob ich ihm nicht ein paar Ersatzteile abschwatzen konnte. Im Grunde benotigte ich nur eine Windschutzscheibe, Lampen, Reifen und einen Tacho. Alles andere konnte ich spater in Angriff nehmen.

An der grasbewachsenen dreieckigen Verkehrsinsel, von der es nach Bonchurch ging, stiegen wir aus dem Bus. Es war ein ruhiger Spaziergang, vorbei am Dorfladen und an einem Cafe mit Strohdach und einem Garten voller Stockrosen. Auf der linken Stra?enseite befand sich ein gro?er Teich, in dem Enten umherschwammen. Die Spatnachmittagswolken spiegelten sich in der Wasseroberflache wie die Wolken uber einem ertrunkenen mittelalterlichen Konigreich. Ich sah zu Liz, um etwas zu diesem Anblick zu sagen, doch im gleichen Augenblick verspurte ich einen kalten Hauch, und aus irgendeinem Grund wusste ich, dass sie nicht interessiert sein wurde. Und ich hatte wie ein Narr dagestanden.

Danny lief voraus, hupfte uber die Risse im Asphalt und sang einen Kinderreim. Es war ein Anblick wie auf einer Ansichtskarte, au?er dass wir auf dem Weg zuruck zum Fortyfoot House waren und Liz gereizt war. Und ich hatte mit einem Mal das Gefuhl, die Kontrolle uber meine gesamte Existenz zu ver lieren. Vielleicht hatte ich sie auch schon vor langer Zeit verloren und es jetzt erst bemerkt.

An der Steinmauer, die im Schatten des uberhangenden Lorbeers lag, bogen wir um die Ecke und sahen das Tor zu Fortyfoot House, die leicht abfallende Einfahrt, die zur Haustur fuhrte - und ich fuhlte eine Angst, wie ich sie noch nie erlebt hatte: Angst vor dem, was sich in diesem Haus verbar g und dem ich mich wurde stellen mussen.

Ich nahm Liz am Arm. »Hor mal«, sagte ich, »warum gehen wir nicht runter zum Strandcafe, um erst: noch was zu trinken? Zur Entspannung, meine ich. Du hattest einen schweren Tag.«

Sie sah erst mich, dann das Haus an. Wir naherten uns aus nordlicher Richtung der Seite, die im Schatten lag. Alle Fenster waren dunkel. Ich konnte die Anspannung in ihren Muskeln fuhlen. Ich spurte ihre Mudigkeit und ihre Kalte, als waren wir eine einzige Person. Wir waren uns nah, sehr nah. Aber warum war da keine Leidenschaft? Vereinfacht gesagt: Wenn sie krank gewesen ware, hatte ich sie ausziehen und baden konnen, aber ich konnte sie nicht lieben, nicht wirklich.

Wir lie?en das Haus aus und gingen zwischen den Garten hindurch nach unten. Danny sprang auf die Sonnenuhr und rief: »Es ist halb sechs.«

»Das kann er gut«, sagte Liz. »Ich konnte die Uhr nicht lesen, bis ich zehn war.«

Ich ging zur Sonnenuhr. Der Zeiger war ein einfaches Dreieck aus Bronze. Es war deutlich zu erkennen, dass die Spitze des Zeigers abgebrochen war und sich verfarbt hatte. Nein, abgebrochen war sie nicht, eher geschmolzen. Und die einst scharfen Kanten waren von Blasen verunstaltet worden, die das Metall geworfen hatte. Ich beruhrte die Stelle und glaubte zu wissen, was damit geschehen war. Ein schwaches knisterndes Gefuhl. Ein Gefuhl von Hohenangst, als hatte ich den Boden verlassen und wurde immer weiter emporgewirbelt.

Liz stand ein Stuck von mir entfernt und hielt sich wegen der tief stehenden Sonne die Hand vor ihre Augen. »Was ist?«, fragte sie mich.

Ich trat von der Sonnenuhr weg und folgte Liz uber den Rasen. »Ich wei? nicht, nur so ein Gefuhl.«

»Ich glaube, wir lassen uns von diesem Ort einschuchtern«, sagte sie. »Wir hatten gestern abreisen sollen. Egal, ob hier Hausbesetzer, Geister oder wer auch immer am Werk sind.«

»Glaubst du immer noch an Hausbesetzer?«

Sie warf mir einen knappen, fast vorwurfsvollen Blick zu. »Schon gut. Nein, das glaube ich nicht mehr. Aber ich glaube auch nicht an Geister. Glaubst du an Geister? Um Himmels willen, David! Ich wei? nicht, was es ist. Ich habe den ganzen

Tag daruber nachgedacht. Ich bin nicht mal sicher, ob ich wissen will, was es ist.«

»Wenn du mochtest, konnen wir morgen auch noch abreisen«, erwiderte ich. Ich versuchte, aufmunternd zu sein. Aber wer konnte das schon angesichts von Gerauschen und Lichtern, von blassen toten Kindern im Nachthemd und dunklen Gestalten, die sich in Fotografien bewegten?

»Ich wei? nicht«, sagte sie. Sie klang gereizt und deprimiert.

»Ich habe mir heute ein wenig freigenommen und bin zum Vikar gegangen.«

»Was? Soll das ein Witz sein?«

»Warum sollte ich Witze machen? Wenn ein Rohr platzt, lasst man einen Klempner kommen. Und wenn das Haus voller unruhiger Geister ist, ruft man einen Vikar. Du hast es selbst vorgeschlagen, wei?t du noch? Ich sollte das Haus beschworen lassen, hast du mir empfohlen. Erstaunlicherweise wei? dieser Vikar verdammt viel uber Fortyfoot House und die Billings und Brown Jenkin. In den Aufzeichnungen der Pfarrei ist einiges daruber niedergeschrieben.«

»Und?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich wei? nicht, ob er mir geglaubt hat - du wei?t schon, das mit den Lichtern und mit Sweet Emmeline.«

Emmeline ..., dachte ich. Emmeline ... hat seil uber einer Woche niemand gesehen ... sie verschwand zwischen ...

»Was?«, fragte Liz. »Wovon redest du?«

Ich blinzelte sie an. »Was ... was meinst du?«

»Du hast irgendwas gesagt von Emmeline hat seit uber einer Woche niemand gesehen.«

»Ich wusste nicht, dass ich das laut ausgesprochen hatte.«

Liz seufzte. »David Williams, ich glaube, du hast es bald hinter dir.«

»Das ist von A. A. Milne«, erklarte ich ihr. »Du wei?t schon, der Kerl, der auch Winnie Puh geschrieben hat. Emmeline ... hat seit uber einer Woche niemand gesehen ... sie verschwand zwischen. ... den beiden gro?en Baumen am Ende des Rasens ... wir haben sie alle gesucht. >Emmeline!< Dieses Gedicht hat mir fruher immer Angst eingejagt. Es gab eine Zeichnung, zwei Baume, die an einem Zaun standen. Ich dachte immer, dass niemand zwischen diesen Baumen

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