»Aber Sie haben vom jungen Mr. Billings gehort und von der Frau, die er geheiratet hat, dieser Frau namens Mason. Und Sie wissen von Brown Jenkin, oder?«

Mit gesenkter Stimme erwiderte der Vikar: »Wenn man in Ventnor lebt, dann wei? man auch von ihnen. Das ist ein Teil der lokalen Mythologie.«

»Haben Sie dort jemals irgendetwas gesehen? Irgendetwas, das Sie dazu bringen konnte, einiges davon fur wahr zu halten?«

Er sah mich eindringlich an: »Darf ich aus Ihrem besonderen Interesse schlie?en, dass Sie etwas gesehen haben?«

Danny stand am Fenster und streichelte die Katze. »Ich bin nicht sicher, was ich gesehen habe«, antwortete ich dem Vikar. »Mit im Haus lebt zurzeit eine junge Frau. Sie hat sich fast einreden konnen, dass es Hausbesetzer sind, die sich auf dem Dachboden verstecken und die versuchen, uns Angst einzujagen.«

»Aber Sie glauben das nicht«, sagte der Vikar und strich sein weniges Haar zuruck.

»Ich muss sagen, dass es mir schwer fallt, das zu glauben.«

»Sie haben Stimmen gehort? Sie haben grelle, unerklarliche Lichter gesehen?«

»Mehr noch. Ich habe etwas gesehen, das wie eine Ratte aussieht, aber keine Ratte ist. Und ich habe ein Madchen in einem Nachthemd gesehen, das den Eindruck machte, als sei es tot. Und ich habe jemanden gesehen, der Billings sein konnte; ich bin sogar sicher, dass er es ist. Das Problem ist, das alles wirkt wie eine Halluzination. Es ist immer im gleichen Augenblick wieder vorbei, und ich bin mir nie sicher, ob ich wirklich etwas gesehen oder gehort habe oder ob ich ...«

»... verruckt werde«, fuhrte der Vikar den Satz fur mich zu Ende.

»Ja. Ich meine, mein Sohn hat Billings ebenfalls gesehen. Und auch das Madchen mit dem Nachthemd. Liz ebenfalls. Aber ... ich wei? nicht...«

»Glauben Sie, dass Sie alle die gleichen Halluzinationen haben konnten? Eine Art kollektive Wahnvorstellung?«, fragte der Vikar.

»Ich schatze schon. Ich kenne mich nicht sehr gut mit ubernaturlichen Dingen aus oder mit dem Leben nach dem Tod.«

»Tja, so geht es uns allen«, raumte der Vikar ein. »Ach, ubrigens, ich hei?e Dennis Pickering, aber nennen Sie mich bitte Dennis. Das macht jeder hier. Mochten Sie einen Tee? Meine Frau macht einen schrecklich guten Kummelkuchen. Und Ihr Sohn ... mochte er vielleicht einen Orangensaft?«

Danny rumpfte die Nase. Fur einen Jungen, der mit Pepsi Light und Lucozade Sport gro? geworden war, hatte die Vorstellung eines lauwarmen Orangensafts etwas au?erst Unappetitliches.

»Vielleicht mochtest du lieber einen Joghurt?«, schlug Dennis Pickering vor.

Dannys Gesichtsausdruck wechselte von leicht angewidert zu etwas, das an den Glockner von Notre Dame erinnerte.

»Er hat gerade gegessen«, erklarte ich.

Pickering raumte einen Stapel Papiere und Bucher zur Seite, und wir nahmen Knie an Knie auf dem Rand des verstaubten braunen Ledersofas Platz.

»Da ist noch etwas«, sagte ich ihm. »Etwas, das nur ich gesehen habe und das mich an der Theorie der Massenhysterie zweifeln lasst. Letzte Nacht so gegen zwei Uhr sah ich etwas in einer Ecke an der Decke in meinem Schlafzimmer. Es war zuerst nur ein verschwommenes Licht, aber dann veranderte es sich langsam zu einer Ordensschwester oder einer Nonne. Es war nicht richtig klar zu sehen. Es hat mich zu Tode erschreckt, um ehrlich zu sein. Ich schrie dieses ... dieses Etwas an, und dann verschwand es.«

Pickering nickte nachdenklich. Er legte seine knochigen Hande aneinander, als wolle er beten. Und lange Zeit sagte er gar nichts.

»Sie glauben mir doch, oder?«, fragte ich und lachte nervos. Mit einem Mal kam mir der Gedanke, dass er mir womoglich nicht glaubte und nur uberlegte, ob er die Polizei oder die nachste Klapsmuhle anrufen sollte.

»Guter Mann!« Er schlug seine Hand auf mein Knie, zog sie dann aber schnell zuruck, als er erkannte, dass seine Geste falsch ausgelegt werden konnte. »Ja ... ja, ich glaube Ihnen. Alle meine Vorganger wussten davon, dass es im Fortyfoot House etwas gibt, was man als »spirituelle Unregelma?igkeiten bezeichnen konnte. Ich habe lediglich uberlegt, was ich Ihnen raten kann und was ich eigentlich tun kann.«

»Gibt es uberhaupt irgendetwas, was Sie tun konnen? Konnte man Fortyfoot House beschworen? Oder konnen all diese Geister ruhig gestellt werden? In den Filmen geht so was immer.«

Pickering seufzte und sagte: »Ja, in den Filmen geht das immer. Aber das hier ist die Wirklichkeit, Mr. Williams. Die Rastlosen und die, die tot sein sollten, sind in der Realitat nicht so einfach zu besanftigen wie in der Fantasie.«

»Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, was diese Storungen verursacht?«, fragte ich ihn.

Er schuttelte fast bedauernd seinen Kopf. »Ich kenne die Geschichte des Fortyfoot House sehr gut. Und ich habe auch Lichter gesehen und Gerausche gehort, die man ubernaturlichen Einflussen zuschreiben konnte. Aber was sie genau sind und was sie wollen ... tja, da habe ich absolut keine Vorstellung. Und auch keiner meiner Vorganger in dieser Pfarrei konnte etwas dazu beitragen. Es ist so, als lebe man gleich neben einem aktiven Vulkan. Es behagt einem vielleicht nicht, aber man muss sich damit abfinden.«

Ich holte die Kopie hervor, die die Frau in der Bibliothek fur mich gezogen hatte. »Ich habe da eine Theorie, na ja, es ist weniger eine Theorie, es ist mehr so ein Gefuhl, dass Fortyfoot House an zwei Orten gleichzeitig existiert. Genauer gesagt, in zwei Zeiten gleichzeitig. Hier, sehen Sie. Die alten Sumerer bauten Zikkurats, die ihnen angeblich den Zugang zu einer anderen Welt ermoglichten, die der gleiche Ort war, nur noch viel alter.«

Dennis Pickering faltete die Kopie auseinander. »Das ist au?erst interessant«, sagte er. »Ich habe davon gehort. Angeblich soll es nicht nur eine prahistorische, sondern sogar eine >vormenschliche< Zivilisation in Arabien gegeben haben, die Mnar, deren Hauptstadt Ib war. Einigen Historikern zufolge, wie beispielsweise Dr. Randolph Carter... ah, ja, sehen Sie doch, hier unten wird Carter sogar erwahnt... also, es hei?t, dass die Sumerer in der Lage gewesen sein sollen, in der Zeit zuruckzureisen, um nach Ib zu gelangen. Moglich gemacht wurde ihnen das angeblich durch bestimmte mathematische Formeln und ungewohnliche architektonische Strukturen. Es ist faszinierend, wenn auch ein wenig uberholt. Ich habe das meiste daruber auf dem College gelernt. Aber es ist meiner Meinung nach sehr suspekt.«

Er nahm seine Brille ab und sah mich an. »Ich kann allerdings nicht sehen, wo der Zusammenhang zum Fortyfoot House sein soll. Meiner Meinung nach ist Fortyfoot House einfach nur eines von diesen Gebauden, die von der Verderbtheit derer heimgesucht werden, die dort einmal gelebt haben. Und von der Tragodie derjenigen, die dort gestorben sind. Ein klassischer Fall von Heimsuchung. Ich habe sogar selbst schon einen kleinen Artikel daruber geschrieben, Die

Heimsuchung von Fortyfoot House. Er wurde Anfang der siebziger Jahre in der Church Tines veroffentlicht.«

Er gab mir die Kopie zuruck. »Reverend John Claringbull war der Vikar von St. Michael's, als Fortyfoot House gebaut wurde. Er kannte Mr. Billings sehr gut. Den alten Mr. Billings, nicht den jungen Mr. Billings. Der alte Mr. Billings war ein bekannter Menschenfreund. Als er beschloss, Fortyfoot House zu bauen, um Waisenkinder aus dem Londoner East End aufzunehmen, stellte ihm Reverend Claringbull jede erdenkliche paslorale Unterstutzung zur Verfugung. Es ist alles in seinen Tagebuchern festgehalten, die noch immer hier im Vikariat sind, wo sie auch hingehoren. Mit dem Bau von Fortyfoot House lief alles nach Plan, bis der alte Mr. Billings eines Tages aus London ein elternloses Madchen mitbrachte, das sein Dienstmadchen und seine Kochin und Putzfrau werden sollte. Mr. Billings betrachtete die moralische Errettung dieses Madchens als eine der gro?ten Herausforderungen seines Lebens - eine Herausforderung, wie sie sich ihm noch nie gestellt hatte. Das Madchen war vierzehn Jahre alt und hatte seit dem zehnten Lebensjahr als Prostituierte gearbeitet. Dieses Madchen ... diese junge Frau war jenseits aller Vorstellungskraft verdorben. Es hie?, dass sie in den finstersten Stra?enzugen der Londoner Docks aufgewachsen war, zwischen Ratten, Huren, Kriminellen und anderen Menschen, deren moralische Verwerflichkeit Sie sogar noch heute schockieren wurde.«

Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er mit seinen Schilderungen fort: »Laut Mr. Billings hatte Dr. Barnardo diese junge Frau aus der Obhut eines namenlosen und verdreckten Wesens gerettet, das im Zentrum aller Rattennester in den Londoner Kaianlagen lebte. Er konnte nicht sagen, ob es sich dabei um eine Frau oder

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