Ich bat die Frau im grauen Anzug, mir den Artikel zu kopieren. »Sieht interessant aus«, sagte sie, wahrend das grelle Licht des Kopierers die Abstellkammer beleuchtete, in der er gleich neben der Spule, dem Wasserkessel und einem halben Dutzend Tassen aufgestellt worden war. »Zikkurats.«

»Also eigentlich sind die ziemlich langweilig«, sagte ich, wahrend ich erfolglos versuchte, ein Lacheln zustande zu bringen. Aufgewirbelter Papierstaub sank von der Nachmittagssonne beschienen zu Boden. In der Kinderecke der Bibliothek sa? Danny im Schneidersitz auf dem Boden und las eine Kinderfassung von Dracula. »Warum trinken Vampire das Blut von anderen Leuten?«, fragte er mich, wahrend wir die Stufen von der Bibliothek hinuntergingen.

»Weil sie keinen Fischgeruch mogen.«

»Nein, wirklich. Warum trinken sie Blut?«

»Das ist nur eine Geschichte, die dir Angst einjagen soll.«

»Was passiert denn, wenn ein Vampir von jemandem Blut trinkt, der AIDS hat?«

Ich blieb an der Ecke stehen, wahrend ein Bus an uns vorbeifuhr, und sah ihn an. »Wie alt bist du?«

»Sieben.«

»Dann erzahl nicht solche Dinge. Du musst dir keine Gedanken uber AIDS machen. Noch nicht, jedenfalls.«

»Aber wenn mich ein Vampir bei?t, und der Vampir hat AIDS von jemandem, den er vorher gebissen hat?«

»Und was ist, wenn du mir so viele Fragen stellst, dass mein Kopf explodiert?«

Wir erreichten St. Michael's, eine bescheidene viktorianische Kirche, umgeben von Steinmauern und mit Zypressen im Kirchhof. Es war erkennbar, dass die Kirche einmal auf einem weitlaufigeren Grundstuck gestanden hatte. Doch ein gro?er Teil davon war aufgegeben worden, um die Hauptstra?e zu verbreitern. So drangten sich zwanzig oder drei?ig Grabsteine wie eine Zahnreihe an die Mauer, die dank der gro?ten Baume im Schatten lag.

In der Kirche, in der es uberraschend kalt war, warf jeder unserer Schritte ein lautes Echo. Eine altliche Frau war mit einer Blumendekoration beschaftigt, der Vikar stand auf einer Holzleiter und tauschte die Nummern der Kirchenlieder aus. Ich ging zu ihm hinuber und sagte: »Guten Morgen.«

Er schob seine Brille so weit herunter, dass er mich uber den Rand ansehen konnte. Nach dem ersten Eindruck zu urteilen, schien er nicht alter als vielleicht funfundvierzig oder funfzig, aber er war auf dem besten Weg zur Glatze und besa? all die betulichen, ubertriebenen Verhaltensweisen eines Mannes im Rentenalter. Er trug eine dicke Tweedjacke und eine abgewetzte grune Kordhose.

»Bin sofort bei Ihnen«, sagte er, wahrend er die letzte Karte einschob. Dann stieg er von der Leiter und sah mich an. »Kommen Sie wegen der Abflussrohre?«

»Nein, ich wollte Sie nur fragen, ob ich einen Blick auf die Aufzeichnungen der Pfarrei werfen durfte.«

»Die Aufzeichnungen? Also, das wird ziemlich viel Arbeit werden. Abgesehen von diesem und vom letzten Jahr befinden sie sich alle im Vikariat. Kommt drauf an, welches Jahr Sie suchen.«

»Ich bin nicht sicher, aber ich nehme an, dass es vor 1875 sein muss.«

»Darf ich fragen, was genau Sie suchen, Mr. ...?«

»Williams, David Williams. Ja ... ich suche Daten uber eine Hochzeit.«

»Ich verstehe. Vorfahren von Ihnen?«

»Nein, aber Leute, uber die ich etwas wei? und uber die ich etwas mehr wissen mochte.«

»Das waren doch Leute von hier, oder?«, fragte der Vikar. Dann wandte er sich der alten Frau zu, die noch immer mit den Blumenarrangements beschaftigt war. »Nicht zu viele Gladiolen vor der Kanzel, Mrs. Willis. Ich mochte noch meine Gemeinde sehen konnen«, rief er ihr so laut zu, dass seine Worte noch geraume Zeit nachhallten.

»Ja, sie waren von hier«, erklarte ich. »Sie lebten in Bonchurch.«

»Und Sie sind sicher, dass sie hier geheiratet haben? Sie hatten auch in Shanklin heiraten konnen.«

»Richtig, aber ich dachte mir, dass ich einfach hier anfange.«

Er sah auf seine Uhr. »Ich gehe jetzt zuruck ins Vikariat. Wenn Sie wollen, konnen Sie sofort mitkommen.«

Wir verlie?en die Kirche, uberquerten die Stra?e und gingen dann durch eine schmale Gasse zu einem gro?en spatviktorianischen Haus, das von Lorbeerhecken und einem beschadigten Holzzaun umgeben war. Zwischen den Steinplatten in der Einfahrt wucherte Unkraut, und die braune Farbe an den Turen und den Fensterrahmen blatterte ab.

»Ich furchte, es sieht alles ein wenig schabig aus«, sagte der Vikar, wahrend er die Haustur offnete. »Fur einen Luxus wie Farbe ist heutzutage nicht mehr viel Geld ubrig.«

Er fuhrte uns in den Flur mit Kachelboden und brauner Holzvertafelung.

Ein starker Geruch von Fleisch und Kohl zog durchs Haus, woraufhin Danny die Nase rumpfte und sagte: »Schulessen.«

Ich sagte ihm, er solle ruhig sein, doch der Vikar lachte. »Stimmt genau«, sagte er. »Mir hat das Schulessen immer geschmeckt.«

Eine Frau mit einer geblumten Schurze kam aus der Kuche und trug ein Goldfischglas. Ihr Gesicht war so ausdruckslos wie ein Teller.

»Mrs. Pickering«, stellte der Vikar vor, woraufhin die Frau fluchtig lachelte.

»Sie konnen die Bibliothek benutzen«, fuhr der Vikar fort, wahrend er weiter durch den Flur ging. »Die Aufzeichnungen befinden sich alle dort, allerdings nicht in der chronologischen Reihenfolge. Sie sagten 1875?«

»Um 1875. Ich bin nicht ganz sicher.«

»Kennen Sie die Namen der Eheleute?«

»Ja. Der Brautigam hie? Billings, die Braut Mason.«

Er blieb stehen. »Billings sagten Sie? Und Mason? Aus Bonchurch?«

»Genau, das Fortyfoot House.«

»Oh«, sagte er abweisend. »Das ist allerdings etwas anderes. Sie ... schreiben daruber?«

»Nein, nein, ich bin Handwerker, ich schreibe nichts. Ich wohne zurzeit im Fortyfoot House. Ich soll es ein wenig flottmachen, damit die Eigentumer es verkaufen konnen.«

»Sie ... was? Sie machen es ... flott?«

»Sie wissen schon, streichen, tapezieren, renovieren.«

»Ach so«, sagte der Vikar. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich so reagiert habe. Es ist nur so, dass ich gelegentlich au?erst unerwunschte Anfragen uber Fortyfoot House erhalte ... von den weniger seriosen Zeitungen, Sie wissen schon. Und von Leuten, die Bucher uber schwarze Magie und okkulte Geheimnisse schreiben. Ich versuche nach Kraften, sie davon abzubringen.«

»Ich wusste nicht, dass Fortyfoot House so bekannt ist.«

»Ich glaube, >beruchtigt< ware das passendere Wort«, erwiderte er. Er offnete die Tur zur Bibliothek und lie? uns hinein. In dem Raum war es stickig und hei?, und es herrschte eine entsetzliche Unordnung. In Leder gebundene Bucher, Fotoalben und vergilbte Pfarrzeitungen stapelten sich in jedem der Regale, und auf dem ausgefransten Teppich fanden sich noch hohere Turme aus Buchern und Zeitschriften. Eine Katze lag zusammengerollt auf der Fensterbank, das Maul leicht geoffnet, wahrend sie wie im Koma schlief. Gleich lieben ihr stand eine leere Flasche Moet & Chandon, daneben eine afrikanische Elfenbeinstatuette.

»Sie wohnen dort?«, fragte der Vikar.

»Richtig. Mr. und Mrs. Tarrant wollen es so schnell wie moglich in einem verkaufsfahigen Zustand haben.«

»Ah, ja. Tja, das ist auch verstandlich. Dieses Haus scheint jedem Ungluck zu bringen, der es besitzt.«

»Haben Sie eine Ahnung, warum das so ist?«

Der Vikar nahm seine Brille ab und rieb sich mit dem Handrucken uber die Augenbrauen. »Ich habe mich selbst einmal damit beschaftigt. Ich habe mich schon immer fur die ortliche Geschichte und fur Aberglauben interessiert. Aber uber dieses Haus gibt es so viele widerspruchliche Geschichten, dass man nur schwer sagen kann, welche man glauben soll.«

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