Als wir fertig waren, bezahlte ich und sagte: »Wenn Ihnen sonst noch etwas einfallt, werden Sie es mir doch sagen, oder?«
Sie nickte. Sie tippte die Preise fur unser Essen in die
Kasse, und als sie mir das Wechselgeld reichte, sagte sie mit zitternder Stimme: »Es hei?t, dass der junge Mr. Billings verheiratet war. Jedenfalls sagte meine Mutter das. Er war mit einer sehr jungen Frau verlobt, die sein Vater aus London mitgebracht hatte, einer Waise, Familienname Mason. Ein sehr sonderbares, wildes Madchen.«
Ich wartete, das Wechselgeld noch immer in der Hand. »Und?«, fragte ich schlie?lich.
»Es war so ... der junge Mr. Billings hatte einen Sohn. Aber mit dem Sohn stimmte etwas nicht. Niemand hat ihn jemals gesehen. Die meisten hier dachten, er sei tot, aber niemand hat gesehen, dass er beerdigt wurde. Einige Leute haben getuschelt, dass der Sohn des jungen Mr. Billings behaart und seltsam war. Einige meinten, er sehe wie eine Ratte aus. Manche Leute sagten, der Kerl mit dem braunen Fell im Gesicht, das sei sein Junge, aber genau wusste das niemand.«
»Brown Jenkin«, sagte ich fast tonlos.
Doris Kemble nickte, ihre Lippen hatte sie fest zusammengepresst. Ihr Gesicht glich einer zerschlagenen Fensterscheibe.
»Meine Mutter hat oft davon erzahlt, bevor sie starb. Sie war 84, und sie war ein wenig daneben. Sie dachte immer, sie befinde sich wieder in der Zeit, als sie das Haus sauber machte. Der junge Mr. Billings war da ja schon lange tot. Aber die Geschichten, die die Leute ihr erzahlten ... Ich wurde schon sagen, dass sie bei ihr einen ziemlichen Eindruck hinterlassen haben. Manchmal sprach sie so uber den jungen Mr. Billings, als habe sie ihn sehr gut gekannt. Und Brown Jenkin ebenfalls. Brrrr! Mich schaudert, wenn ich nur daran denke.«
»Das kann wohl sein«, pflichtete ich ihr bei. Zur gleichen Zeit dachte ich daruber nach, ob es stimmen konnte, dass das Ratten-Ding der Sohn des jungen Mr. Billings war.
»Konnen wir
Aus irgendeinem Grund sah ich aber nicht zu ihm, sondern zu den Cottages, die die Kuste saumten und von denen das Strandcafe das letzte Gebaude in der Reihe war. Am Ende des steilen Weges, der vom Fortyfoot House hinabfuhrte, glaubte ich, im Schatten der Baume einen Mann zu sehen, einen Mann mit einem blassen Gesicht, der komplett in Schwarz gekleidet war. Er sah eindringlich zu uns heruber, seine Augen hatte er zusammengekniffen, damit er uns auf die gro?e Entfernung deutlicher sehen konnte.
Doris Kemble hob den Kopf und bemerkte meine Blickrichtung. Sie drehte sich in die gleiche Richtung, doch genau in dem Augenblick verschwand der Mann, als sei er nichts weiter gewesen als eine optische Tauschung.
Im gleichen Moment kippte direkt hinter Doris' Kopf ein Krug im Regal um und fiel zu Boden, wo er in Stucke zersprang. Eine beunruhigende innere Stimme sagte mir, dass es zwischen dem Verschwinden des Mannes und dem zerbrochenen Krug einen Zusammenhang gab.
Ich nahm den Nachmittag frei, um mit Danny zusammen einige Nachforschungen anzustellen. Hand in Hand spazierten wir auf der kilometerlangen Promenade bis nach Ventnor. Es war ein erfreulicher warmer Tag, das Meer war strahlend blau, und die Mowen kreisten laut schreiend uber den Klippen. Wir gingen einen steilen Pfad hinauf, der durch Busche und Kalkstein fuhrte, bis wir einen Parkplatz und die ersten Seitenstra?en von Ventnor erreichten.
Ventnor hatte nicht viel zu bieten: eine typische britische Kustenstadt mit Bushaltestelle und einem Kino, aus dem man eine Bingohalle gemacht hatte, mit Geschaften, die prallvoll gefullt waren mit Wasserballen und Strohhuten und Eimer-und-Schaufel-Sets. Aber es gab eine Pfarrkirche, St. Michael's, und eine Bibliothek - und mehr brauchte ich nicht.
In der engen sonnendurchfluteten und viel zu warmen Bibliothek, die nach Lavendelbohnerwachs roch, sa? ich in einer Ecke und studierte das Fach GEISTER und OKKULTE PHANOMENE. Ich las uber das schottische Schloss im Konigreich Fife, in dem einmal im Jahr Blut uber die Steintreppe stromte und die gro?e Halle uberflutete. Ich las uber den
Mann ohne Gesicht, der den Trost seiner vor langer Zeit verstorbenen Mutter suchte und deshalb in einem kleinen Cottage in Great Ayton in Yorkshire erschien.
Ich suchte auch unter ZEIT und REIATTVITAT. Das meiste, was ich entdeckte, war so geheimnisvoll, dass ich es nicht mal im Ansatz verstand, auch wenn sich in
Ganz am Ende des Regals zum Thema ZEIT stie? ich auf eine von Eselsohren gepragte Ausgabe von
Nicht das Thema das Artikels weckte meine Aufmerksamkeit, sondern ein grobkorniges Schwarzwei?foto mit der Unterzeile: >Sumerischer Tempel, der im August 1915 von den Turken niedergerissen wurde, weil seine Form den ortlichen Bey storte.<
Vom Tempel war wegen der schlechten Qualitat des Fotos kaum etwas zu erkennen. Aber etwas an seiner Silhouette war au?erst vertraut, an der Art, wie seine Winkel dem Auge einen Streich spielten, und an den finsteren und unnaturlichen Perspektiven.
Ich hatte alles Geld - das ich nicht mehr besa? - darauf verwetten konnen, dass es sich um ein Foto des Dachs von Fortyfoot House handelte.
Ich uberflog den Rest des Artikels in aller Eile. Die Bibliothek wurde jeden Moment geschlossen, wahrend eine uppige Frau in einem grauen Twinset und mit Brille mich vom Tresen aus beobachtete, als wolle ich ein Buch stehlen.
Professor Coldstone stellte die These auf, dass im antiken Irak mehrere bedeutende Zikkurats errichtet worden waren, die - obwohl aus massivem Stein gebaut - in der Lage waren, ihre raumlichen Dimensionen zu andern, und die die Babylonier benutzt hatten, um von einer Welt in die andere zu reisen.
Die Babylonier glaubten an die Existenz unendlich vieler antiker Zivilisationen, in die man sich unter Anwendung bestimmter astrogeometrischer Formeln begeben konnte, die auf den Mustern der wichtigsten Konstellationen basierten. Mathematiker der Neuzeit waren trotz des Einsatzes von Computern, die prazise Bewegungen quer durch das gesamte Universum berechnen konnten, bislang nicht in der Lage gewesen, diese Formen wieder zu erschaffen, weil sie so viele scheinbar absurde und mathematisch unmogliche Faktoren enthielten.
Professor Coldstone fuhrte aus, dass »die Zivilisation der Sumerer auf Wissen basierte, das von einer anderen Welt jenseits der Zikkurats stammte«. Die Keilschrift der Sumerer wies keinerlei Ubereinstimmungen mit irgendeiner anderen Schrift dieser Erde auf, auch wenn viktorianische Ubersetzer versucht hatten, zu zeigen, dass es sich um nichts anderes als gekippte vereinfachte Piktogramme handelte. Die Gotter der Sumerer und ihre Legenden zeigten keine religiosen oder anthropologischen Verbindungen zu irgendeiner anderen menschlichen Religion oder Glaubensrichtung. Bereits um 3500 vor Christus berichteten sie mit einer unheimlich anmutenden Selbstverstandlichkeit von einem Ort, »an dem keine Tage gezahlt werden« - ein Ort, den ihre Priester und Gelehrten vergleichsweise problemlos erreichen konnten, wenn auch nicht immer ohne Risiken. Einige der Priester verfielen durch das, was sie jenseits der Zikkurats zu sehen bekamen, dem Wahnsinn. Es gab sogar ein spezielles Symbol fur den, »der gesehen hat, was jenseits wartet«. Nicht, was jenseits »liegt« oder »lebt«, sondern »wartet«. Worauf dieses Unbekannte wartete, dazu sagte Professor Coldstone nichts.
Uber den von den Turken zerstorten Tempel fand ich nur wenig, lediglich eine Notiz des Bey, die besagte: »Er ist ein Zentrum des Unbehagens. In der Nacht sehen wir Lichter und horen Stimmen in Sprachen, die wir nicht verstehen konnen. Da sein Fortbestand die turkische Kontrolle uber dieses Gebiet zu gefahrden droht, habe ich angeordnet, den Tempel zu sprengen.«