»Was soll's sein?«

»Ein Lager und eines Ihrer Garnelensandwiches, bitte. Ach ja ... und einen Kasetoast fur Sindbad den Seefahrer. Und eine Coca Cola.«

Sie notierte meine Bestellung auf einem kleinen Block. Ohne mich anzusehen, sagte sie: »Sie hatten Schwierigkeiten im Haus.«

»Ja«, sagte ich. »Sie haben bestimmt das mit Harry Martin gehort.«

»Ich habe auch gehort, was Keith Belcher mit Ihrem Wagen gemacht hat.«

Ich verzog das Gesicht. »Ich habe versucht, Harry davon abzuhalten, sich auf dem Speicher umzusehen. Aber er hat nicht auf mich horen wollen. Er sagte, Brown Jenkin habe seinen Bruder geholt, und darum sei er im Recht.«

Doris Kemble schauderte sichtlich. Dann setzte sie sich zu mir an den Tisch, als konne sie sich nicht langer auf den Beinen halten.

»Gesehen haben Sie Brown Jenkin nicht etwa?«

»Ich wei? nicht, vielleicht schon«, sagte ich vorsichtig. »Ich wei?, dass ich irgendeine Ratte gesehen habe.«

»Eine sehr gro?e Ratte? Mit einem menschlichen Gesicht? Und menschlichen Handen?«

»Doris«, erwiderte ich und hielt ihre Hand. »Keine Ratte auf der ganzen Welt sieht so aus.«

»Brown Jenkin ist keine Ratte. Jedenfalls nicht das, was Sie als Ratte bezeichnen wurden.«

»Und als was wurden Sie ihn sonst bezeichnen?«, fragte ich, dann wandte ich mich kurz ab und rief: »Danny! Beeil dich! Mittagessen!«

Danny stand auf. Er bildete eine schmale Silhouette vor dem glitzernden Sonnenlicht, das vom Sand, von den Pfutzen und den Wellen reflektiert wurde.

»An Ihrer Stelle«, sagte Doris Kemble, wahrend das Sonnenlicht jedes Staubkorn auf ihren Brillenglasern erkennen lie?, »wurde ich den Jungen nehmen, und dann wurde ich das Haus verlassen. Ich wurde es denjenigen uberlassen, die wissen, wie man mit Geistern und solchen Dingen umgeht. Die sollten das Haus niederbrennen und das weihen, was dann noch von ihm ubrig ist. Es fuhrt nichts Gutes im Schilde, darum. Und ich muss Vera Martin beipflichten, dass sie Ihren Wagen zertrummert hat, so Leid es mir tut, das zu sagen. Aber Sie hatten niemals zulassen durfen, dass Harry nach Brown Jenkin sucht.«

Ich musste mich sehr zusammenrei?en, um nicht die

Geduld zu verlieren und ihr zu sagen, was fur ein damliches altes Tratschweib sie war. Aber ich wusste, dass ich mehr von ihr hatte, wenn ich tolerant und reuig blieb.

»Ich schatze, Sie haben Recht«, sagte ich, wahrend ich meinen Blick auf Danny gerichtet hielt, der uber die Steine in Richtung Promenade stieg. »Ich hatte Harry nicht ins Haus lassen durfen.«

»Er hat immer gesagt, dass Brown Jenkin seinen Bruder geholt hat«, sagte Doris und schuttelte den Kopf. »Er hat es so oft gesagt, dass Vera es ihm verbieten musste. Sie hatte ihm gedroht, zu gehen und nie wiederzukommen, wenn er noch einmal davon sprach.«

»Doris«, beteuerte ich. »Es ist nicht meine Schuld. Keine zehn Pferde hatten ihn davon abhalten konnen.«

»Tja. Jetzt ist es zu spat. Der arme Harry ist tot, und das war's. Keine Krittelei dieser Well wird ihn zuruckbringen.«

Ich wartete eine Weile, dann sagte ich: »Wenn jeder in Bonchurch sich schon immer solche Sorgen wegen Brown Jenkin gemacht hat... warum hat dann noch niemals jemand etwas unternommen?«

Doris Kemble reagierte mit einem bitteren Lacheln. »Man kann nur schwer eine Kreatur fangen, die nicht immer vorhanden ist.«

»Ich verstehe nicht.«

»Konnten Sie heute Mittag zum Bahnhof gehen und den Zug von gestern erwischen?«

»Naturlich nicht.«

»Konnten Sie heute Mittag zum Bahnhof gehen und den Zug von morgen erwischen?«

»Nein.«

»Genau deshalb konnen Sie auch nicht Brown Jenkin fangen. Er war und er wird sein. Aber er ist nur sehr selten.«

»Doris, konnen Sie mir irgendetwas uber den jungen Mr. Billings erzahlen?«

»Was?«, fragte sie mit einem aggressiven Unterton.

»Sie sagten, dass Ihre Mutter viel uber die Billings wusste.«

»Ja, sicher. Ich habe gesagt, dass sie im Fortyfoot House geputzt hat. Und was sie nicht uber die Billings wusste, war es auch nicht wert, gewusst zu werden.«

»Hat sie jemals Brown Jenkin erwahnt?«

»Nicht oft. Sie machte das nicht so gerne. Jeder in Bonchurch wei? von Brown Jenkin. Einige sagen, dass es stimmt, andere halten es fur Unsinn. Wir haben hier ein Sprichwort, wenn jemand zu viel getrunken hat: >Er hat Brown Jenkin gesehen.< Sie wissen schon, anstelle von rosa Elefanten.«

»Und was glauben Sie?«

Doris nahm ihre Brille ab. Ihre Augen wirkten mude und matt, ihre Wangen waren rissig. »Ich habe Brown Jenkin nie selbst zu Gesicht bekommen. Aber als ich jung war, sagten viele meiner Freunde, sie hatten ihn gesehen. Und dann war da noch Helen Oakes, meine beste Freundin zu jener Zeit. Eines Tages verschwand sie, und niemand wusste, was mit ihr geschehen war. Man gab ihrem Vater die Schuld, er wurde zweimal verhort, aber niemand konnte irgendetwas beweisen. Also lie?en sie ihn wieder laufen. Es hat ihn trotzdem in den Ruin getrieben. Er musste sein Geschaft verkaufen und wegziehen. Ich habe gehort, dass er sich kurz nach dem Krieg erhangt haben soll.«

»Aber was hat es mit dem jungen Mr. Billings auf sich?«, hakte ich nach.

Sie machte eine Pause und dachte nach, dann schuttelte sie den Kopf. »Es bringt nichts, Geschichten uber Leute zu erzahlen, die seit langem tot sind. Vor allem Geschichten aus zweiter und dritter Hand. Das bringt ganz und gar nichts.«

»Vielleicht doch«, sagte ich. »Ich glaube, wenn wir verstehen konnten, was in der Vergangenheit geschehen ist, dann sind wir vielleicht auch in der Lage zu verstehen, was heute im Fortyfoot House geschieht.«

Doris Kemble setzte ihre Brille wieder auf und sah mich eindringlich an. »Meine Mutter hat gesagt, dass der junge Mr. Billings Dinge wusste, die er nicht hatte wissen sollen. Er ist an Orte gereist, an die kein Mensch jemals reisen sollte. Und er hat Dinge gesehen, die kein Mensch jemals sehen sollte. Er hat irgendeinen Pakt geschlossen, der mit dem Leben unschuldiger Kinder bezahlt werden musste. Darum wollte ich als Kind nie in der Nahe des Fortyfoot House spielen, und darum gehe ich auch heute noch niemals dorthin.«

»Hat Ihre Mutter gesagt, was das fur ein Pakt war und mit wem er ihn geschlossen haben konnte? Hat sie Ihnen irgendeinen Hinweis gegeben?«

Doris Kemble sagte: »Ich mache jetzt Ihre Sandwiches fertig. Da kommt Ihr Junge.«

Ich umfasste ihr Handgelenk.

»Bitte, Doris. Nur ein Ja oder ein Nein. Hat Ihre Mutter Ihnen gesagt, was das fur ein Pakt war?«

Sie wartete geduldig, bis ich sie wieder loslie?. »Jeder hat nur geraten, es war ein Ratsel. Einige sagten, es sei der Teufel gewesen, aber andere glauben, es sei etwas viel Schlimmeres gewesen. Keiner wei? etwas Genaues.«

Ich lie? sie los. »Tut mir Leid«, sagte ich.

»Keine Ursache«, erwiderte sie. »Das Haus kann jeden verruckt machen.«

Danny kam zum Tisch und setzte sich. »Ich habe sechs Krebse gefangen. Ich habe sie wieder laufen lassen und ich habe ihnen nicht die Beine ausgerissen.«

Ich strich durch sein Haar. »Du warst ja richtig gnadig. Wie war's mit einem Kasetoast?«

Wir a?en zu Mittag und sahen hinunter zum Strand. Wir sprachen nicht viel, stattdessen genossen wir den Wind und das Meeresrauschen. Nur Doris Kemble verdarb mir die Laune, weil sie mich unablassig so stechend ansah, als wolle sie mir unbedingt noch etwas sagen. Zweimal ertappte ich sie dabei, wie sie zu mir sah und sich auf die Unterlippe biss.

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