Danny stand neben einem flachen braunlichen Felsen. Er schrie nicht mehr, aber sein Gesicht war noch immer angstverzerrt. Er musste mir gar nicht erst erzahlen, was ihm solche Angst eingejagt hatte, ich konnte es mit eigenen Augen sehen. Ich schnappte mir Danny, nahm ihn auf den Arm und ging sofort durch den nassen Sand zuruck in Richtung Promenade.

Liz war mir gefolgt und stand nach Luft schnappend vor mir. »Kannst du Danny zuruck ins Cafe bringen? Ruf von Mrs. Kembles Apparat die Polizei an.«

»Was ist passiert?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.

»Es ist Mrs. Kemble«, sagte ich.

Ich setzte Danny ab, Liz nahm ihn sofort an die Hand. »Daddy«, sagte er jammerlich.

»Ich wei?, Danny«, sagte ich. »Ich sehe nur nach, ob ich noch irgendetwas mitnehmen muss, bevor die Flut kommt. Danach komme ich sofort ins Cafe zuruck.«

»Ist sie tot?«, fragte Liz mit gesenkter Stimme.

Ich nickte. »Dauert nicht lange.«

Widerwillig ging ich zuruck zu den Felsen. Der Wind riffelte das klare Meerwasser, das gerade begonnen hatte, sich wieder voranzukampfen. Uber mir kreischten die Mowen. Mrs. Kemble lag auf dem Rucken, sie war nackt, abgesehen von der zerrissenen Strumpfhose, die bis zu ihren Knien heruntergezogen worden und voller Sand und Tang war. Ihre Kopf lag in einer flachen Aussparung eines Felsens, ihr graues Haar war strahnig und nass wie ein Mopp. Ihre dunnen Unterarme waren beide angewinkelt, als wurde sie noch immer versuchen, sich gegen jemanden zur Wehr zu setzen. Ihre Haut war wei? und vom Meerwasser aufgeschwemmt.

Am schlimmsten aber war, dass sich die Krebse an ihr zu schaffen gemacht hatten. Ich hatte schon den einen oder anderen Heilbutt gesehen, der von Fischern zu lange im Netz gelassen und von Krebsen angefressen worden war. Aber ich hatte mir nicht vorstellen konnen, wie brutal Krebse einen menschlichen Korper angreifen konnten. Mrs. Kembles Gesicht war von einem kleinen grunen Taschenkrebs, der jetzt mit ihrer Augenhohle beschaftigt war und bereits ihre Lippen und ihre rechte Wange zur Halfte aufgefressen hatte, in eine geisterhafte Karikatur verwandelt worden. Mrs. Kembles dritte Zahne waren zu einem gespenstischen Grinsen freigelegt worden.

Sie hatten auch ihren Bauch aufgerissen, sodass die gesamte Bauchhohle nur noch eine zappelnde Masse aus zahllosen kleinen Taschenkrebsen war, deren Schalen und Scheren wie Kastagnetten unablassig gegeneinander schlugen. Einige Krebse krabbelten bereits durch die zur Halfte weggefressene Offnung zwischen ihren Beinen und bearbeiteten das zarte wei?e Fleisch ihrer Schenkel.

Meine Kehle schnurte sich zu, in meinem Mund sammelte

sich warmes bitter schmeckendes Lager. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, wie Mrs. Kemble ums Leben gekommen sein mochte. Die Taschenkrebse hatten schon zu viel weggefressen. Noch wahrend ich daneben stand, bahnte sich einer von ihnen den Weg aus ihrem Mund heraus, um sich mit zwei oder drei anderen um die grauliche Haut ihres Zahnfleischs zu streiten.

Ich sah mich um. Die Flut hatte bereits eingesetzt, das Meer begann wieder, das Land fur sich zu beanspruchen, und spulte Schaum und Treibholz und regenbogenfarbene Olflecken an den Strand.

Von Mrs. Kembles Kleidung war nichts zu sehen, auch nicht von ihrer Handtasche. Nichts, was der Polizei einen Hinweis daraufgeben konnte, wie sie ums Leben gekommen war. Ich uberlegte, ob ich ihre Leiche weiter auf den Strand ziehen sollte, aber ich wusste, dass ich mich nicht uberwinden und sie anfassen konnte. Au?erdem hatte ich auf diese Weise jede Spur verwischen konnen, die die Taschenkrebse vielleicht noch nicht vernichtet hatten. Jedenfalls redete ich mir das ein. In Wahrheit hatte ich nur panische Angst, dass bei dem Versuch, sie an Land zu ziehen, die Armknochen aus den Schultergelenken rei?en konnten. So wie die Schenkel bei einem Huhnchen, das man zu lange kocht. Ich kehrte zum Strand zuruck. Ich hatte vielleicht sechs oder sieben Schritte zuruckgelegt, als mir der Geruch von Meerwasser, Ol und von einem gerade geoffneten menschlichen Korper entgegenschlug. Mein Magen verkrampfte sich und ich ubergab mich lange und heftig. Es dauerte eine Weile, ehe ich mich so weit erholt hatte, dass ich wieder aufstehen konnte. Ich ging zuruck zum Strandcafe.

Detective Sergeant Miller kam in die Kuche und stellte sich in den kalten Lichtschein der Deckenlampe.

Er sah mich auf die gleiche Weise an, wie ich meinen zertrummerten Wagen angestarrt hatte. Seine Augen vermitteilen die Mudigkeit eines Mannes, der zu viele Dinge dieser Art gesehen hat, um noch schockiert zu reagieren.

»Das schlagt einem so richtig auf den Magen«, sagte er schlie?lich.

»Ja«, erwiderte ich. »Einen Drink?«

»Nein danke. Aber ich nehme eine Tasse Tee, wenn das keine gro?e Muhe macht.«

Ich stand auf und stellte den Kessel auf den Herd. Miller zog sich einen Stuhl heran, setzte sich an den Kuchentisch und holte seinen Notizblock hervor. Er hatte seine Notizen in einer winzigen Schrift verfasst und dabei einen Fullfederhalter benutzt, der eine solche Seltenheit darstellte, dass er fast etwas Affektiertes an sich hatte.

»Zwei Todesfalle in zwei Tagen«, sagte er. »Zwei hassliche Todesfalle in zwei Tagen.«

»Ich wei?. Und bis vor zwei Tagen hatte ich noch nie einen Toten gesehen.«

»Sie Glucklicher«, meinte Miller. »Sie haben Mrs. Kemble zuletzt heute Mittag gesehen?«

Ich nickte. »Sie machte einen ganz normalen Eindruck. Wir haben uber Fortyfoot House gesprochen, uber fruher. Sie war ziemlich besessen davon ... Nein, besessen ist das falsche Wort. Eher verargert. Sie erzahlte mir, dass ihre Mutter hier als Putzfrau gearbeitet hat, als sie noch ein kleines Madchen war. Ihre Mutter hatte ihr immer irgendwelche Geschichten uber das Flaus erzahlt. Aber sie wirkte gut gelaunt.«

»Haben Sie sonst noch jemanden gesehen? Jemanden, der irgendwie verdachtig ausgesehen haben konnte?«

Den jungen Mr. Billings mit seinem schwarzen Hut und seinem, bleichen Gesicht, wie er im Schatten der Baume stand und zu ihr blickte. Aber wie sollte ich Miller erzahlen, dass ich einen Geist gesehen hatte? Und dass der Geist moglicherweise Mrs. Kemble auf dem Gewissen hatte? Miller war sehr aufgeschlossen, er war sogar bereit, an das Ubernaturliche zu glauben. Aber wenn ich ihm auch nur ein Wort von Halluzinationen und

Erscheinungen erzahlte, dann hatte er gar keine andere Wahl, als mich festzunehmen. Mord in geistiger Umnachtung. Fur den Rest des Lebens nach Broadmoor eingewiesen, zusammen mit all den anderen Psychopathen und Mordern und sonstigen Gestorten.

»Es war vollig ruhig, au?er uns war niemand da. Ach ja, und der Typ, der jeden Nachmittag an den Strand kommt, um seine Fischernetze vorzubereiten.«

»Ja, mit ihm habe ich schon gesprochen.«

Der Wasserkessel begann zu pfeifen. Ich warf einen Teebeutel in den Becher und goss das Bruhwasser daruber. »Keinen Zucker«, sagte Miller, wahrend er etwas aufschrieb.

»Wissen Sie, wie sie umgekommen ist?«, fragte ich vorsichtig.

Er blickte nicht auf. »Noch nicht endgultig. Das ist immer so, wenn die Taschenkrebse sich an dem weichen Gewebe zu schaffen machen. Aber beide Ellbogen waren mehrfach gebrochen. Darum auch ihre Armhaltung. Wie ein Grashupfer. Wir haben noch keine Ahnung, was diese Verletzungen hervorgerufen hat, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass sie angesichts der Umstande nicht auf naturliche Weise ums Leben gekommen ist.«

»Das klingt so richtig nach Polizeijargon«, sagte ich.

»Das lernt man in Mount Browne. Das war noch zu der Zeit, als ich bei der Polizei von Surrey war.«

»Warum haben Sie sich versetzen lassen?«

Er klappte das Notizbuch zu. »Ich dachte, hier werde es ruhiger zugehen. Meine Frau war der Meinung, dass es hier viel zu ruhig war, und hat mich verlassen. Und jetzt sitze ich hier und habe es mit zwei brutalen Todesfallen in nur zwei Tagen zu tun.«

»Stellen Sie mir keine weiteren Fragen?«

»Nicht notig. Ein Nachbar von Mrs. Kemble hat sie noch lebend gesehen, nachdem Sie und Danny gegangen waren. Und Reverend Pickering hat Ihren Besuch bei ihm bestatigt. Wenn Sie nicht gerade in der Lage sind, sich an zwei Orten gleichzeitig aufzuhalten, dann ist es einfach unmoglich, dass Sie Mrs. Kemble etwas angetan

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