haben.«

Miller trank seinen Tee in kleinen Schlucken aus, dann stand er auf, stellte den Becher ins Spulbecken und sagte: »Vielleicht komme ich noch mal wieder. Sie bleiben doch noch hier, oder?«

Ich war sicher, dass ich ein schwaches pelziges Rascheln hinter der Fu?leiste horte. Hatte Detective Sergeant Miller es auch wahrgenommen?

»Ja«, antwortete ich. »Ich bin vorlaufig noch hier. Sie haben ja bemerkt, wie mein Wagen aussieht.«

»Das wollte ich Sie ohnehin noch fragen«, sagte Miller, wahrend ich ihn zur Haustur brachte.

»Hohere Gewalt.«

»Hmh«, machte er. Wahrend er fortging, horte ich hinter mir wieder dieses Scharren.

11. Der Garten von gestern

Um kurz vor acht rief Reverend Pickering an, um zu sagen, dass er sich ein wenig verspaten wurde. Zwischen seinen Damen, die fur die diesjahrige Erntedankfeier die Kirche dekorierten, hatte es einen Streit gegeben. »Ich furchte, einige meiner Frauen sind sehr entschlossen. Fast wie Walkuren.«

Ich stand im Flur und blickte wahrenddessen auf das Foto >Fortyfoot House, 1888<. Der junge Mr. Billings hatte mittlerweile die halbe Strecke uber den Rasen zuruckgelegt und naherte sich der Stelle, an der sein Schatten auf ihn wartete. Neben ihm befand sich eine dunkle kleine Gestalt, die schlichtweg alles hatte sein konnen. Ein Fleck auf dem Negativ, ein Tintenklecks, ein Schatten. Oder Brown Jenkin, das Rattenwesen, das durch Fortyfoot House rannte und suchte ... aber nach was? Auf dem Dachboden gab es nichts zu essen, und es gab keine Anzeichen dafur, dass Ratten an den Mobelstucken genagt oder nach einem Weg in die Vorratskammer gesucht oder sich Nester aus alten Zeitungen gebaut hatten.

Falls Brown Jenkin eine Ratte war, dann eine verdammt seltsame. Wir hatten uber Nacht in der Kuche Kase offen herumliegen lassen, der nicht angeruhrt worden war. Es hatte auch keine Versuche gegeben, die Vorratskammer zu plundern. Allerdings fanden sich darin in erster Linie Corned-Beef-Dosen und Spaghetti- Packungen. Entweder war Brown Jenkin gar keine Ratte, oder er bevorzugte anderes Essen.

Wir a?en Lasagne und Salat und tranken den Wein aus. Danny war schlafrig, sodass ich ihn gegen Viertel nach neun huckepack nahm und nach oben brachte. Nachdem ich ihn zugedeckt hatte, sagte er: »Diese Taschenkrebsc konnen doch nicht an Land kommen, oder?«

Ich schuttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht.«

»Kann ich das Licht anlassen?«

»Naturlich.«

»Die Taschenkrebse konnen nicht ins Haus kommen, oder?«

»Nein, das konnen sie nicht. Sie mussen im Wasser bleiben, sonst sterben sie. Hor mal, Danny, du hast heute etwas Schreckliches gesehen, aber die Taschenkrebse haben Mrs. Kemble nicht getotet. Sie hat sich das Genick gebrochen, vermutlich ist sie von den Felsen gesturzt. Die Taschenkrebse machen keinen Unterschied darin, welches Fleisch sie essen. Sie essen tote Vogel, Muscheln, eigentlich alles. Manchmal ist die Natur grausam.«

Ich strich sein Haar zuruck und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf gut«, sagte ich. »Und dass du mir ausschlie?lich von einer gro?en Tute Lakritz traumst.«

»Lakritz mag ich nicht mehr.«

»Na, dann traum von etwas, was du magst.«

»Ich mag Frauen.«

»Frauen ? Oh, du meinst sicher Madchen?«

»Nein, Frauen. Ich hasse Madchen.«

Oha, dachte ich, wahrend ich die Tur leise zuzog. Wie der Vater, so der Sohn. Ich blieb einen Moment lang im Flur stehen und lauschte auf das verstohlene Scharren hinter den Fu?leisten. Oder auf diese tiefen unverstandlichen Gesange. Doch heute Nacht schien Fortyfoot House besonders ruhig zu sein, als habe es sich heimlich in zwei Meter dicke Watte eingepackt.

Ich ging nach unten. Liz sa? im Wohnzimmer im Schneidersitz auf dem Sofa und sah fern. »Haben wir noch Wein?«, fragte sie.

Ich schuttelte den Kopf.

»Und was sollen wir dann Reverend Pickering anbieten?«

»Tee, dachte ich. Vikare trinken doch immer Tee, oder?«

»Nicht die, die ich kenne.«

»Na gut«, erwiderte ich. »Dann gehe ich noch mal zum Laden. Ich glaube, ich habe noch genug Geld fur eine Magnumflasche Plonko de France.«

Der Abend war warm, also verzichtete ich auf einen Mantel. Ich zog die Haustur leise ins Schloss, damit Danny nicht horte, dass ich wegging.

Wenn man den Gro?teil seines Lebens in dem 24-stun-digen Verkehrslarm von London oder Brighton verbracht hat, dann konnen Stadtchen wie Bonchurch in der Nacht beunruhigend still sein. Auf der anderen Seite kann man aber auch hochst unerwartete Gerausche wahrnehmen, die so klingen, als sturze eine tote Eule durch die Zweige eines Baums zu Boden und rei?e dabei vertrocknetes Laub mit. Ein Krachen und Knacken, Buschel von Federn und Fell.

Ich lief dicht an der Mauer entlang, die zum Dorfladen fuhrte. Ich drehte mich nur einmal nach Fortyfoot House um, konnte aber hinter den Tannen nur die buckligen, verwinkelten Umrisse des Dachs sehen, das von hier aus wiederum vollig anders wirkte, fast so, als habe es mir den Rucken zugewandt. Ich hatte noch niemals ein Haus gesehen, das eine so dustere und wechselhafte Personlichkeit besa?. Es kam nie zur Ruhe. Es war immer in Bewegung und - soweit man das von einem Haus denn behaupten konnte - zu den hasslichsten Dingen fahig. Manche Hauser sind angenehm und bequem und tun ihren Bewohnern nichts. Aber im Fortyfoot House blieb ich standig am Treppengelander hangen, ich riss mir die Haut an uberstehenden Nageln auf, ich stie? mir den Kopf an Tur-und Fensterrahmen. Selbst wenn Harry Martin durch einen Unfall ums Leben gekommen sein sollte, war das nur ein Beispiel fur die Aggressivitat des Hauses.

Ich versuchte mir einzureden, dass uns keine Gefahr drohe und dass Geister nicht gefahrlicher seien als Erinnerungen. Aber eine tief sitzende Furcht sagte mir, dass ich mir etwas vormachte - oder dass eine finstere und ubellaunige Macht mir etwas vormachte.

Der Dorfladen war gerade im Begriff zu schlie?en, als ich ankam. Der Ladenbesitzer trug Kisten mit Gurken und neuen Kartoffeln in sein Geschaft und schien nicht besonders erfreut, mich zu sehen. Der Laden war nur schlecht beleuchtet und roch nach Waschpulver und Cheddarkase. Ich ging zum Weinregal und entschied mich fur eine gro?e Flasche Piat D'Or.

»Es geht also mal wieder los«, bemerkte der Besitzer, wahrend er meinen Wein einpackte. Im Licht der Neonrohren glanzte sein mit Pomade zuruckgekammtes graues Haar.

»Bitte?«

»Sie sind doch der junge Mann, der im Fortyfoot House arbeitet, oder?«, fragte er.

»Ja, das stimmt.«

»Das passiert immer, wenn die Leute versuchen, dem Haus beizukommen.«

» Was passiert immer?«

»Unfalle, Pechstrahnen. So wie beim armen alten Harry Martin.«

»Nun, ich muss zugeben, dass es eine gewisse ... Atmosphare besitzt.«

»Atmosphare?«, erwiderte er. »Keine zehn Pferde wurden mich in das Haus kriegen. Das kann ich Ihnen sagen. Nicht mal hundert Pferde.«

Wahrend er den Preis in die Kasse tippte, warf ich einen Blick auf die Stra?e. Es war schwierig, klar und deutlich zu sehen, weil mein Abbild und das des Ladens sich in der Schaufensterscheibe spiegelten, aber ich glaubte, eine Gestalt in braunem Umhang und mit brauner Kapuze in Richtung Fortyfoot House eilen zu sehen. Der Vikar konnte es nicht sein, dafur war die Gestalt zu klein, au?erdem hatte sie sich mehr wie eine Frau bewegt. Irgendetwas an ihr erinnerte mich auf eine unbehagliche Weise an Liz.

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