»Warten Sie einen Moment«, sagte ich zu dem Handler und ging nach drau?en. Die Gestalt hatte sich bereits etliche Meter auf der Stra?e weiterbewegt und wurde fast von der Dunkelheit verschluckt.

Doch als ich auf die Stra?e trat, drehte sie sich kurz um, und ich konnte ein blasses Gesicht sehen. Ich war nicht sicher, aber sie sah so sehr nach Liz aus, dass ich rief: »Liz! Liz?«

Doch die Gestalt drehte sich nicht noch einmal um, sondern lief weiter, bis sie mit der Dunkelheit eins wurde.

Ich ging zuruck ins Geschaft, wo der Ladenbesitzer mit meinem Wechselgeld und vollig desinteressiertem Gesichtsausdruck auf mich wartete. »Kann ich jetzt schlie?en?«, fragte er.

»Tut mir Leid«, entschuldigte ich mich. »Ich dachte, ich hatte jemanden gesehen, den ich kenne.«

Er erwiderte nichts, folgte mir aber auf dem Fu? zur Tur und schloss sie ab, sobald ich das Geschaft verlassen hatte. Ich drehte mich im Weitergehen um und sah, wie er dastand und mich beobachtete. Sein Gesicht war zur Halfte verdeckt von einem Schild mit der Aufschrift Sorry, wir haben geschlossen! Auch wenn Sie Brooke Bond Tea haben mochten! Seine Augen glanzten hinter seinen Brillenglasern wie gerade geoffnete Austern.

Ich ging durch die Dunkelheit zuruck, wahrend die Steinmauern, die zu beiden Stra?enseiten standen, ein lautes Echo meiner Schritte warfen. Je langer ich daruber nachdachte, umso sicherer war ich, dass ich Liz an dem Geschaft hatte vorbeilaufen sehen. Oder jemanden, der ihre Zwillingsschwester hatte sein konnen. Aber was sollte Liz hier auf der Stra?e gemacht haben, noch dazu in einem langen braunen Umhang? Und wie sollte sie mich uberholt haben, wahrend ich von Fortyfoot House zum Geschaft gegangen war? Dass sie mich nicht uberholt hatte, war sicher.

Als ich die letzte Biegung der Stra?e erreicht hatte, tauchte hinter den Baumen Fortyfoot House auf. Eine Ansammlung von Dreiecken, Buckeln und Vielecken, aus dem Schornsteine sich wie schwere kopflastige Spitzen in den Himmel streckten. Wahrend ich mich dem Haus naherte, stellte ich fest, dass ich immer intensiver auf das Muster starrte, zu dem sich das Dach formte. Allmahlich erreichte es eine Form, die mir vertraut war. Und genauso allmahlich wurde mir die Bedeutung dieses au?ergewohnlichen und sonderbaren Designs bewusst. Ich blieb stehen und betrachtete das Dach, und mit einem Mal wusste ich, dass ich die Bedeutung von Fortyfoot House von Anfang an richtig eingeschatzt hatte, als sei ich auf meine Ankunft vorbereitet worden, lange bevor ich auch nur eine Ahnung hatte, dass ich herkommen wurde.

Von hier aus bildete das Dach exakt die Form des sumerischen Tempels in der Ausgabe von National Geographie, jenes Tempels, den die Turken abgerissen halten. Die gleichen Kanten, die gleichen Spitzen, die gleichen unmoglichen Perspektiven.

Wenn Kezia Mason wirklich selbst dieses Dach entworfen hatte, dann hatte der alte Mr. Billings viel mehr als nur ein verzogenes Madchen aus dem East End ins Fortyfoot House gebracht. Er hatte einer jahrhundertealten Intelligenz Zutritt verschafft, die wusste, wie man Bauwerke errichtet, die auf eine ubernaturliche Weise von den normalen Grenzen von Raum und Zeit befreit sind.

Ich stand wie erstarrt da und sah das zusammengekauerte Profil des Hauses an, wahrend ich das Gefuhl hatte, entweder von einer genialen Erkenntnis oder vom Wahnsinn erfullt zu sein. Saul auf dem Weg nach Tarsus. Es war ein gewaltiges Gefuhl, ein Gefuhl, das mir ein Rauschen in den Ohren bescherte, als wurde ich ins Vakuum des Alls geschleudert und konnte plotzlich Gott verstehen.

Ich kehrte zum Haus zuruck. Ein beiger Renault Kombi parkte gleich neben dem Wrack meines Audi. Reverend Pickering war also angekommen.

Liz offnete die Haustur, wahrend ich noch nach meinem Schlussel suchte. »Der Vikar ist hier«, sagte sie. »Was ist?«, fragte sie dann, als sie bemerkte, dass ich sie offenbar etwas seltsam ansah.

»Bist du noch mal rausgegangen?«, fragte ich.

»Raus? Naturlich nicht. Ich habe darauf gewartet, dass du den Wein bringst. Wieso?«

Ich schuttelte den Kopf. »Ist nicht so wichtig.«

Sie nahm mir die Weinflasche ab, wahrend ich ins Wohnzimmer ging. Dennis Pickering hatte in einem der alten Sessel Platz genommen und unterhielt sich mit Danny, der wieder aufgestanden war. Als ich hereinkam, erhob sich Pickering und gab mir die Hand. Er sah ein wenig mude aus, und auf dem Revers seiner grunen Tweed-Sportjacke war ein Fleck Tomatensuppe zu sehen.

»Wie ware es mit einem Glas Wein?«, fragte ich.

»Vielleicht spater«, sagte er und sah sich um. »Ich muss gestehen, David, dass dieses Haus mich unruhig werden lasst. Reine Einbildung, aber in meiner Branche muss man sich schon eine Menge einbilden konnen. Vom Glauben mal ganz abgesehen.«

»Ich nehme an, Sie haben gehort, was Mrs. Kemble zugesto?en ist«, sagte ich.

Er nickte. »Bedauerlicherweise ja. Eine meiner Damen hat mich angerufen. Das ist schrecklich. Tragisch. Die Polizei scheint zu glauben, dass sie auf den Felsen spazieren gegangen und dann ausgerutscht ist. Sie hat sich wohl den Kopf gesto?en und ist dann ertrunken. Das ist nicht besonders schwierig, vor allem fur eine Frau in ihrem Alter. Au?erdem kann man ohne weiteres in nur wenige Zentimeter tiefem Wasser ertrinken. Ein kleiner Junge aus Shanklin ist letzten Sommer fast an derselben Stelle ertrunken.«

»Heute Abend haben wir noch keine Gerausche gehort«, sagte ich. »Au?er, es sind welche zu horen gewesen, als ich den Wein gekauft habe.«

Danny schuttelte den Kopf. »Ich bin nur aufgewacht, weil ich dachte, ich hatte die Ratte gehort. Sonst war nichts.«

»Und wo hast du sie gehort?«

»Oben auf dem Dachboden.«

»Vielleicht sollten wir auf dem Dachboden anfangen«, schlug ich Pickering vor.

»Ja, warum nicht?«, sagte er und rieb sich die Hande. »Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt.«

»Ich wusste gar nicht, dass die anglikanische Kirche die Lehren des Vorsitzenden Mao verbreitet«, sagte ich lachelnd.

»Darf ich mitkommen?«, bettelte Danny.

»Nein, das geht nicht«, erwiderte ich. »Ich glaube zwar nicht, dass es gefahrlich wird, aber es konnte zu unheimlich sein.«

»Das macht mir nichts aus.«

»Aber mir macht es was aus, und jetzt ist Schluss.«

»Ich kann die Taschenlampe halten«, sagte Danny.

»Ich habe >nein< gesagt. Du bleibst hier und kannst den Fernseher anmachen. Wir gehen nur nach oben auf den Speicher.«

»Vielleicht ein kurzes Gebet?«, fragte Pickering.

Ich warf Liz einen unbehaglichen Blick zu. »Wenn Sie glauben, dass das hilft«, erwiderte ich.

Er lachelte mich an. »Auf jeden Fall kann es nicht schaden.«

Er faltete die Hande und schloss die Augen. »O Herr, beschutze uns in dieser Zeit des Unglucks. Beschutze uns vor dem Bosen, bekannt oder unbekannt. Und bring uns sicher aus der Dunkelheit, aus Furcht und Ungewissheit ins unfehlbare Licht deiner heiligen Wahrheit.«

»Amen«, murmelten wir.

Zunachst zeigte ich Pickering das Bild im Flur. Noch bevor wir uns genahert hatten, konnte ich erkennen, dass der junge Mr. Billings an seine ursprungliche Position zuruckgekehrt war. Die schattenhafte haarige Kreatur, die ihn uber den Rasen begleitet hatte, war verschwunden. Fast verschwunden, wie ich feststellen musste. Denn als wir naher kamen, bemerkte ich, dass die hintere Tur von Fortyfoot House ein wenig geoffnet war und dass der winzige Teil eines Schattens dort verschwand. Der Schwanz von Brown Jenkin?

Dennis Pickering beugte sich vor und betrachtete das Foto aufmerksam. »Ja«, sagte er, »das ist Billings der Jungere. Ohne Zweifel.«

»Seit gestern hat er standig seine Position gewechselt.«

Pickering sah mich fragend an. »Bitte? Sie meinen, das Foto hing woanders?«

»Nein, nein, der junge Mr. Billings hat seine Position verandert. Er bewegt sich in dem Foto hin und her. Gestern ging er da hinten uber den Rasen und hielt die Hand oder Klaue von irgendetwas, das wie Brown Jenkin aussah.«

Pickering sah sich noch einmal das Foto an. »Sind Sie da ganz sicher?«

Вы читаете Die Opferung
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×