»Also gut«, flusterte ich, »ich bin in zwanzig Minuten zuruck. Versucht, wach zu bleiben.«

»Das werden wir.« Die drei drehten sich um und begannen, wieder in der Dunkelheit zu verschwinden, als das erste Madchen noch mal zu mir zuruckkam und wisperte: »Kommen Sie mit.«

Ihre eiskalten und dunnen Finger umschlossen meine Hand, wahrend sie mich zu dem Zimmer fuhrte, in dem Liz geschlafen hatte, bevor sie in mein Zimmer gezogen war. Sehr vorsichtig druckte das Madchen die Klinke herunter und offnete leise die Tur.

»Wessen Zimmer ist das?«, fragte ich.

»Pschht«, zischte das Madchen nur.

Als die Tur weit genug geoffnet war, spurte ich, wie mir eine eisiger Schauder uber den Rucken lief. Ein Teil des Zimmers wurde von einem hohen Holzbett dominiert, auf dem drei oder vier Wolldecken lagen. Auf der linken, vom Fenster abgewandten Seite lag Mr. Billings auf dem Rucken, die Augen geschlossen, den Mund weit geoffnet und die

Arme an seinen Korper gelegt. Er schnarchte sehr laut und horte sich so an, als wurde er sich jeden Augenblick verschlucken. Neben ihm lag Kezia Mason, deren rotes Haar wie eine sich ausbreitende Flamme auf dem Kissen verteilt war. Zu meinem Entsetzen hatte sie die Augen geoffnet und starrte zur Decke.

Das Madchen spurte, wie sich meine Finger versteiften. »Alles in Ordnung«, flusterte sie. »Sie ist nicht wach. Sie schlaft immer mit offenen Augen.«

»Jesus«, sagte ich. Es war ein erschreckender Anblick, Kezia Mason so starr und mit offenen Augen daliegen zu sehen. Ich wollte fast nicht glauben, dass sie schlief und uns nicht sehen konnte.

Das kleine Madchen zog die Tur wieder zu.

»Wo ist Brown Jenkin?«, fragte ich.

»Ich wei? nicht. Bestimmt irgendwo drau?en.«

»Drau?en?«

»Er schlaft nie. Ich sehe ihn nie schlafen. Er rast immer hierhin und dahin. Ich hasse ihn.«

»Wer ist er eigentlich genau? Er sieht mehr nach einer Ratte als nach einem Jungen aus.«

»Ja, aber er ist mehr ein Junge als eine Ratte.«

Das kleine Madchen ging zuruck zum Schlafzimmer und offnete die Tur. »Ubrigens, mein Name ist Molly.«

Ich musste sofort an einen der Grabsteine denken, die ich rund um die Kapelle gesehen hatte. Ein einfacher Stein mit der Inschrift >Molly Bennett, 11 Jahre alt, Zur rechten Hand von Christus<. Ich konnte Molly einfach nicht fragen, ob sie mit Nachnamen moglicherweise Bennett hie?. Die Vorstellung, dass Brown Jenkin dieses kleine Madchen in Kurze zu einem seiner ublen >Picknicks< mitnehmen wurde ... Ich strich uber ihr zerzaustes Haar. Sie war vollig real, auch wenn zwischen uns uber hundert Jahre lagen. Wenn ich in den letzten Tagen eines gelernt hatte, dann war es die Tatsache, dass die Zeit auf die Realitat der menschlichen Existenz keinen Einfluss hatte. Wenn wir einmal da sind, sind wir immer da.

Es war ein seltsamer Gedanke, der mich ein wenig traurig stimmte, aber auch trostete.

»Ich bin in ein paar Minuten zuruck«, sagte ich zu Molly. Dann ging ich die Treppe hinunter und durch den Flur, vorbei an den sonderbaren Aquarellen und Stichen. Ich konnte sie in dem schwachen Lichtschein, der durch das Oberlicht der Haustur fiel, schwach erkennen. Jetzt wirkten sie allerdings noch obszoner und mysterioser, ein Bildkatalog gynakologischer Grasslichkeiten. Ich sah verzweifelte Gesichter und entsetzliche Chirurgeninstrumente, sterbende Mutter, die in Stucke geschnitten wurden, um ihre lebenden Kinder zu retten. So schnell ich konnte, lief ich an diesen Bildern vorbei.

Die Tur zum Wohnzimmer stand offen. Es gab keine Lampen, und es war niemand da. Aber an der Art, wie die Mobel im Raum standen, konnte ich erkennen, dass seit meinem ersten Besuch nur wenige Stunden vergangen waren. Der Kamin war sauber gemacht worden, der Teppich war wieder gerade geruckt worden, aber das waren auch schon die einzigen Hinweise darauf, dass jemand begonnen hatte, hier aufzuraumen.

Ich ging bis zur Mitte des Zimmers und erreichte die Stelle, an der Dennis Pickering ermordet worden war. Der Boden war feucht und roch streng nach Seife. Offenbar hatte ihn jemand gewischt. Aber Seife und Wasser hatten nicht ausgereicht, um den gro?en dunklen Blutfleck zu entfernen. 106 Jahre spater war er immer noch da, wie ich vor gerade mal einer halben Stunde festgestellt hatte.

Ich kniete nieder und begann, mit meinem Stemmeisen die Dielenbretter zu losen, musste dabei aber au?erst vorsichtig vorgehen, da die Nagel ein lautes quietschendes Gerausch machten.

Dennis Pickering war erst an diesem Nachmittag getotet worden, aber schon jetzt war der Verwesungsgeruch unertraglich. Ich verstand nicht, warum der junge Mr. Billings und Kezia Mason ihn nicht irgendwo drau?en begraben hatten,

aber vielleicht hatten sie das gleiche Problem wie ich. Vielleicht wurden sie von der Polizei oder eher von aufmerksamen Nachbarn beobachtet. Bonchurch war 1992 eine eng verbundene Gemeinde, das musste 1886 noch viel schlimmer gewesen sein: Immerhin war die Einwohnerzahl damals nur halb so gro?.

Ich loste erst ein Brett, dann ein zweites. Der arme Pickering lag zusammengekauert in der Position da, in der ich ihn hundert Jahre spater vorfinden sollte. Ich spurte, wie sich der Inhalt meines Magens in meiner Speiserohre nach oben schob, doch ich wusste, dass ich den Leichnam hier rausschaffen musste. Ich musste es fur mich tun, fur Danny und vielleicht auch fur Pickerings eigene unsterbliche Seele. Niemand verdiente es, ohne eine Totenmesse unter einem Fu?boden verscharrt zu werden.

Eine Sache machte mir allerdings zu schaffen: die Frage, ob ich in die Geschichte eingriff. Es erschien mir vollig paradox, dass er hier tot vor mir lag, obwohl er eigentlich nicht mal gezeugt worden war. Wenn die Zeit aber mehr wie in einer Geschichte oder in einem Film verlief, dann gab es vielleicht kein echtes Paradox. Nur, wer war der wirkliche Dennis Pickering? Der, der hier tot lag, oder der, der erst noch geboren werden wurde?

Mir begann schwindlig zu werden — aus Angst und Verwirrung. Ich musste die Augen schlie?en und mir befehlen, nicht daruber nachzudenken, sondern einen Schritt nach dem anderen zu tun.

Schlie?lich fand ich die Kraft, um mich nach vorne zu beugen und meine Hande unter Pickerings Schultern zu schieben. Schwer atmend zog ich ihn an den Schultern und seinem linken Arm aus dem Loch im Boden, bis ich ihn in eine halb sitzende Position gebracht hatte. Seine Hand schlug laut auf den Boden, seine leeren Augenhohlen waren schwarz von getrocknetem Blut, das auch auf seinen Wangen klebte. Vielleicht war das Blut, das auf dem Wandgemalde aus dem Maul von Brown Jenkin getropft war, so etwas wie eine Warnung gewesen, dass ich mich nicht einmischen sollte.

Ich richtete mich auf und griff unter Pickerings Arme, um ihn aus seinem Grab zu ziehen und auf den Boden zu legen. Zu meinem Gluck hatte Brown Jenkin Pickerings innere Organe wieder zuruck in die Bauchhohle geschoben und sein blutgetranktes Hemd zugeknopft, sodass seine Innereien einigerma?en zuruckgehalten wurden. Doch allein der Gedanke lie? mich wieder und wieder schlucken, wahrend ich versuchte, meinen Geist mit irgendetwas anderem zu beschaftigen.

Ich zog ihn hinuber bis zum Fenster, dann ging ich zuruck und legte die Dielenbretter wieder an ihren Platz. Nachdem ich die Tur geschlossen hatte, benutzte ich einen Hammer, den ich am Kamin entdeckt hatte, um die Nagel wieder einzuschlagen. Ich legte ein Kissen vom Sofa dazwischen, um das Gerausch zu dampfen. Zwar horte es sich in meinen Ohren an, als klopfe Satan an die Tore zur Holle, aber ich nahm an, dass es nicht allzu laut war.

Halb trug ich Pickering nach drau?en, halb zog ich ihn hinter mir her, wahrend ich ihn aus dem Haus schaffte und uber die Veranda brachte. Seine Fersen rutschten holpernd uber die Steinstufen. Dann zog ich ihn uber den Rasen, vorbei am Teich, uber die Brucke und zwischen den Baumen hindurch, die den Weg zum hinteren Gartentor saumten.

Ich wollte ihn hinunter zum Strand bringen und so weit wie moglich ins Meer schleppen, damit ihn die Taschenkrebse zu fassen bekamen. Jeder, der ihn am nachsten Morgen finden wurde, sollte denken, dass es sich bei ihm einfach nur um einen ertrunkenen Fischer handelte. Obwohl das im Jahr 1886 eigentlich vollig egal war, schlie?lich kannte hier niemand einen Dennis Pickering.

Die Mauer am Strand war anders, als ich sie kannte. Es gab eine Reihe von Holzstufen, die zu den Felsen hinunterfuhrten. Mir fielen die Stahlstifte auf, mit denen man diese Stufen an den Felsen befestigt hatte. Sie waren mir vertraut, nur dass im Jahr 1992 nichts mehr von den Stufen ubrig war. Ich hatte mich immer gewundert, welchem Zweck diese Stifte gedient hatten — jetzt wusste ich es.

Ich schleppte Pickering zum Strand. Es war gerade Ebbe, sodass ich gut zweihundert Meter auf einem schmalen sandigen Pfad zwischen den Felsen zurucklegen musste. Schlie?lich hatte ich die ersten Wellen erreicht.

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