nichts dagegen, sie ein paar Minuten unbeobachtet zu lassen, damit ich uber den Speicher gehen und Dennis Pickerings Leiche wegschaffen konnte.

Ich lief naturlich Gefahr, Brown Jenkin oder Kezia Mason zu begegnen, aber wenn ich vorsichtig war und ihnen aus dem Weg ging oder wenn ich wenigstens schnell genug rennen konnte, dann hatte ich durchaus eine Chance. Immerhin war ich diesmal auf das vorbereitet, was mich erwartete. Ich nahm mein Stemmeisen, ging auf den Speicher und lauschte. Einen Moment lang glaubte ich, Stimmen zu horen, aber dann wurde mir klar, dass es nur der Wind war, der sich am Dach fing. Ich hatte gehofft, dass noch immer Tageslicht zu sehen sein wurde, doch es war stockfinster. Ich schaltete meine Taschenlampe an und suchte den Speicher ab ... aber nach was?

Zwar war es auf dem Speicher dunkel, aber ein ganz schwacher blaulicher Lichtschein fiel durch das Fenster herein. Es war noch immer der Dachboden des Jahres 1886. Nur war es diesmal mitten in der Nacht. Ich ging an dem Dachfenster voruber und warf einen Blick nach drau?en. Ich konnte die Sterne am Himmel und davor eine dunne Schicht grauer Wolken sehen.

Ich richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Klapptur. Sie war nach wie vor von der Speicherseite aus verriegelt, aber einer der Bolzen hatte sich gelockert, als hatte jemand von unten mit unvorstellbarer Kraft immer und immer wieder dagegen geschlagen.

Ich zogerte einen Augenblick, doch dann ging ich hinuber und schob die Riegel vorsichtig zuruck. Als ich so weit war, hielt ich den Atem an und lauschte bestimmt eine halbe Minute lang, ob ich unter mir jemanden horen konnte. Wenn ich eines nicht wollte, dann war das, von Brown Jenkin die Beine zerfetzt zu bekommen, wahrend ich mich in mein Schlafzimmer hangelte.

Ich offnete die Klapptur und sah vorsichtig nach unten. Der Raum war dunkel, aber ich konnte die fahlen Umrisse des bezogenen Betts erkennen. Brown Jenkin musste den Stuhl weggetreten haben, da ich nur eines der Stuhlbeine erkennen konnte. Ich wurde also direkt auf den Boden springen mussen, ohne zu viel Larm zu machen. Ich lauschte wieder, konnte aber keine Stimmen horen. Das Einzige, was an meine Ohren drang, war das Schlagen einer Tur. Naturlich hatte ich keine Ahnung, welche Tageszeit es 1886 war. Ich wusste ja nicht einmal, ob ich an demselben Tag des Jahres 1886 zuruckgekehrt war. Vielleicht war es jetzt eine Woche fruher oder eine Woche spater oder sogar das Jahr 1885 oder 1887. Es gab keinen Anhaltspunkt dafur, dass Brown Jenkin vor ein paar Stunden gegen den Stuhl getreten hatte. Er konnte genauso gut seit Monaten dort liegen, Fortyfoot House mochte langst verlassen sein.

Ich konnte nur darauf hoffen, dass die beiden Zeiten parallel verliefen, wahrend ich mich in das Schlafzimmer hinablie? und das letzte Stuck sprang. Nachdem ich gelandet war, stand ich eine Weile wie erstarrt da und horchte, um sicher zu sein, dass niemand mich gehort hatte. Das Schlafzimmer sah noch genauso aus wie bei meinem letzten Besuch. Von unten horte ich die Standuhr elf Uhr schlagen.

Die Schlafzimmertur stand einen Spalt offen. Ich schlich langsam weiter, stets darauf bedacht, moglichst keine Gerausche zu verursachen. Eines der Bretter knarrte leise unter meinem Gewicht, aber insgesamt war der Fu?boden recht stabil. Mein Herz raste und ich atmete so heftig wie ein Seiltanzer. Es konnte durchaus sein, dass Brown Jenkin im Korridor nur auf mich wartete oder dass Kezia Mason meine Anwesenheit spuren konnte.

Die Wande mit Samt bespannt, so schwarz, wie Sunde und so fein, horte ich mich im Geiste sagen. Und kleine Zwerge kriechen raus ...

Ich zog die Schlafzimmertur auf und blickte in den Korridor, in dem es noch viel dunkler war. Ich wartete und lauschte, bis meine Ohren vor Anstrengung schmerzten.

In diesem Moment schalten sich aus der Dunkelheit erst eine kleine wei?e Gestalt und dann weitere. Ich war so in Panik, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ich schaffte es nicht mal, mein Stemmeisen zu heben. Die Gestalten kamen immer naher, verursachten aber fast keine Gerausche.

Zwerge, die aus dem Schrank entkommen waren, Geister, die ihrem Grab entstiegen waren. Oder ...

15. Die Wahrnung

Die kleinen Gestalten kamen mir immer naher, und im fahlen Schein aus dem Schlafzimmer konnte ich erkennen, dass es sich um Kinder handelte, die lange wei?e Nachthemden trugen. Ihre Augen waren von Erschopfung und Unterernahrung gezeichnet, ihre Haare waren zerzaust, aber sie waren weder Zwerge noch Geister, sondern einfach nur Kinder - zwei Madchen und ein Junge.

»Wer sind Sie?«, fragte eines der Madchen mit dem gleichen Akzent wie Kezia Mason. Es war recht hubsch, aber so dunn, dass es schmerzte, das Kind anzusehen. »Ich habe Sie hier noch nicht gesehen. Wei? der Leiter, dass Sie hier sind?«

Ich schuttelte den Kopf. »Nein. Und ich mochte auch nicht, dass er es wei?.«

»Woher kommen Sie?«, wollte der kleine Junge wissen.

»Brighton.«

»Meine Mama ist mal mit mir im Zug nach Brighton gefahren.«

»Du hast gar keine Mama«, warf das andere Madchen ein.

»Hab ich wohl. Sie ist mit mir mal nach Brighton gefahren. Dann bekam sie noch ein Kind und ist gestorben.« »Pscht!«, machte ich. »Wir wollen doch niemanden aufwecken, nicht wahr?«

»Was machen Sie dann hier?«, fragte das erste Madchen. »Sie sind doch kein Skinner, oder? Brown Jenkin mag keine Skinner.«

»Was ist ein Skinner?«, erwiderte ich.

»Sie wissen schon. Einer von den Arzten oder Reverends, vor denen man sich ausziehen muss, damit sie einen angucken konnen.«

»Nein, nein, ich bin kein Skinner. Ich suche nur einen Freund.«

»Sie mussen aufpassen, damit Brown Jenkin Sie nicht erwischt«, warnte mich das zweite Madchen.

»Ich kenne Brown Jenkin«, erklarte ich ihr. »Ich kenne auch Kezia Mason.«

»Wenn Sie Ihren Freund gefunden haben, werden Sie dann wieder fortgehen?«, wollte der kleine Junge wissen.

»Oh, ja, ich werde mich direkt wieder auf den Weg machen.«

»Wurden Sie uns mitnehmen?«

»Euch mitnehmen? Euch alle? Ich wei? nicht, aber ich glaube nicht, dass das geht. Warum eigentlich?«

»Weil viele von uns sterben. Darum. Mr. Billings guckt dich an und sagt, dass du krank bist und dass du behandelt werden musst. Dann nimmt dich Brown Jenkin mit zum Picknick, und danach sieht dich niemand wieder, bevor du begraben wirst.«

»Aber wir sind nicht krank«, erklarte das erste kleine Madchen. »Mr. Billings gibt uns nicht viel Essen, immer nur Brot und Reste. Darum haben wir alle Hunger. Aber wir sind nicht krank. Nur Billy ist krank. Er hat Keuchhusten. Er hat immer Keuchhusten.«

»Wie viele Kinder sind noch hier?«, fragte ich ihn.

»Einunddrei?ig, aber Charity fehlt. Niemand wei?, was mit ?Ar passiert ist.«

Ich wusste naturlich, wo Charity war, sagte aber nichts davon. Ich war nicht hergekommen, um all diese East End-Goren aus Mr. Billings' Waisenhaus zu holen. Ich hatte weder Zeit noch die selbstlose Opferbereitschaft, das zu tun. Was als Versuch begonnen hatte, mehr uber die Vorgange in Fortyfoot House zu erfahren, entwickelte nun alle Kennzeichen der Herberge zur sechsten Gluckseligkeit. Wenn ich nicht aufpasste, hatte ich bald einen Treck von Waisenkindern hinter mir und wurde durch das Jahr 1886 ziehen.

Im Augenblick ging es mir nur darum, Pickerings Leichnam unter den Fu?boden hervorzuholen und fortzuschaffen.

»Hort mal«, sagte ich zu den drei Kindern. »Ich muss unten etwas Wichtiges erledigen. Wenn ich damit fertig bin, komme ich wieder rauf und spreche mit euch. Wo schlaft ihr?«

Das erste kleine Madchen deutete auf die nachste Tur im Flur. Das Zimmer, in dem in meiner Zeit nur kaputte Stuhle, Kisten und Bucher untergebracht waren.

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