Charity eilte barfu? uber den Kies, ohne einen Augenblick zu zogern. Sie war es gewohnt, auf der Stelle zu reagieren, wenn Erwachsene etwas von ihr wollten. Sie lief zu Miller und machte einen Knicks.

Miller sah Charity mit offensichtlicher Irritation an.

»Ist er dein Onkel?«, fragte er und deutete mit der Brille auf mich.

Charity sah mich angstlich an, woraufhin ich versuchte, ihr ein >Ja< zu suggerieren, ohne dabei meinen gelassenen Gesichtsausdruck zu verandern, den ich angenommen hatte, als Miller noch einmal aus dem Wagen gestiegen war. Ich wei? nicht, wie mein Gesicht in jenem Moment aussah, auf jeden Fall musste es sonderbar genug sein, damit Charity mich perplex ansah und schlie?lich sagte: »Nein, Sir, er ist nicht mein Onkel.«

»Ooh«, brachte Miller nachdenklich heraus. »Er isl nicht dein Onkel?«

»Aber er ist ein mutiger Gentleman. Er hat mich gerettet, bei sich aufgenommen und mich gebadet.«

»Ach, er hat dich gebadet?«

»Oh, um Gottes willen, Sergeant«, warf ich ein. »Liz hat sie gebadet.«

»Aber Sie sind nicht ihr Onkel.«

»Ich benutze lieber das Wort Onkel.«

»Aber Sie sind es nicht.«

»Nein.«

»Na gut«, sagte Miller mit dieser schrecklichen, unertraglichen Geduld in seinem Tonfall, den die Polizei anwandte, um Verdachtige so sehr zu langweilen, dass sie schlie?lich ein Gestandnis ablegten. »Wenn er nicht dein Onkel ist, wer ist er dann?« »Er ist Dannys Papa. Er hat mich gerettet und bei sich aufgenommen. Der Gentleman Reverend wurde getotet, aber er hat mich gerettet.«

»Der Gentleman Reverend wurde getotet?«

»Horen Sie nicht auf sie«, sagte ich und machte eine abfallige Handbewegung. »Sie hat eine zu rege Fantasie. Geburtsfehler, um ehrlich zu sein.«

Miller blieb aber hartnackig: »Und wer hat den Gentleman Reverend umgebracht, mein Liebling?«

»Sie sollten wirklich nicht auf sie horen«, warf ich ein.

Charity machte einen besorgten Gesichtsausdruck. »Der Gentleman hat ihn nicht umgebracht, Sir. Der Gentleman hat mich gerettet. Umgebracht hat ihn ...«

Sie legte die Hande so vor ihr Gesicht, dass nur noch ihre Augen unbedeckt waren, um verstohlene, umherhuschende Blicke anzudeuten. Dann krummte sie ihre Fingerspitzen, bis sie aussahen wie-Zahne, und machte einen Buckel, der auf eine abscheulich beschworende Weise an Brown Jenkin erinnerte. Schlie?lich hupfte sie vor dem Detective Sergeant so hin und her, dass er vor Beunruhigung regelrecht erstarrte.

»Sir«, flusterte Jones. »Was in drei Teufels Namen soll denn das sein?«

»Brown Jenkin«, sagte Miller, dessen Gesicht kreidebleich geworden war.

»Was, Sir?«

»Ich sagte: Ich denke nach.«

»Oh, gut, Sir. Sehr gut, Sir.«

Miller buckte sich zu Charity hinab, fasste sie an den Handen und sah ihr direkt in die Augen. »Charity, wo wurde der Gentleman Reverend ermordet?«

»Im Wohnzimmer, Sir.«

»Er ist aber nicht mehr dort, oder?«

»Nicht jetzt, Sir.«

Miller war aufmerksam genug, um die ungewohnliche Betonung des Wortes >jetzt< zu bemerken, aber offenbar verstand er nicht dessen wirkliche Bedeutung. Wer hatte das auch schon gekonnt? Selbst Charitys altmodisches Benehmen hatte keinen halbwegs vernunftigen Polizisten auf den Gedanken bringen konnen, dass ich sie erst vor kurzem aus dem Jahr 1886 mitgebracht hatte. Ich konnte es ja selbst kaum glauben. Es war wie ein Traum oder wie ein Film.

Miller richtete sich wieder auf und sah mich geduldig an. »Ich glaube, Sie sollten mir besser erzahlen, was geschehen ist«, sagte er, wahrend er so dicht neben mir stand, dass Jones ihn nicht verstehen konnte. »Meine Vorgesetzten werden es wohl kaum glauben, ebenso Jones. Aber ich glaube es, und ich sage Ihnen, dass dem Ganzen ein Ende gesetzt wird, bevor noch mehr Menschenleben zu beklagen sind.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen helfen kann«, erwiderte ich.

Ich hatte meine eigenen Plane fur Fortyfoot House, ich wollte nicht, dass Detective Sergeant Miller alles nur noch komplizierter machte.

»Warum sollte mir dieses Madchen wohl erzahlen, dass Mr. Pickering umgebracht wurde?«, fragte er.

»Lebhafte Fantasie, wurde ich sagen.«

»Aber ... wir konnten uns ja mal im Haus umsehen, oder?«

»Naturlich. Wenn Sie das mochten.«

Miller drehte sich um und nahm Charity an die Hand. »Warum zeigst du mir nicht, wo der Gentleman Reverend ermordet wurde, Charity?«

Sie fuhrte ihn gehorsam zum Haus. Jones und ich folgten den beiden. »Kinder«, sagte Jones. »Ich hasse Ermittlungen mit Kindern. Man wei? nie, wie viel wahr ist, wie viel sie dazu-dichten und wie viel sie aus dem Fernsehen haben.«

Ich sagte nichts. Mir schien es am sichersten, den Mund zu halten.

Miller ging bis ins Wohnzimmer und schlich herum. Naturlich sah der Raum anders aus als 1886. Die Holzvertafelung war verschwunden, die Mobel waren durch moderneres Mobiliar ersetzt worden. Der Kamin war noch an seinem Platz, doch den viktorianischen Stil hatte man in den drei?iger Jahren mit beigefarbenen Kacheln modernisiert.

»Also ... Zeichen fur einen Kampf kann ich nicht sehen«, sagte Miller. »Wo genau wurde der Gentleman Reverend denn umgebracht?«

Charity deutete auf die Stelle, wo gestern vor 106 Jahren Brown Jenkin Dennis Pickering auf unglaublich brutale Weise getotet hatte.

»Aha«, machte Miller. »Und wie wurde er umgebracht?«

Charity formte aus ihrer Hand eine Kralle und deutete eine aufwarts gerichtete aufrei?ende Bewegung an.

»Er hat sich zu Tode gekratzt«, meinte Jones.

Miller sagte nichts, kreiste aber weiter durch den Raum und inspizierte jeden Quadratzentimeter. Dann wandte er sich wieder Charity zu und fragte: »Was hat man denn mit dem Gentleman Reverend gemacht, nachdem er tot war?«

Charity schuttelte den Kopf. »Ich wei? nicht. Wir sind weggelaufen. Dannys Papa hat mich nach oben gebracht und mich gerettet.«

Jones warf Miller einen geringschatzigen Blick zu. »Um ehrlich zu sein, Sir, klingt das fur mich schwer nach einem Marchen.«

»Hier musste literweise Blut zu finden sein«, sagte Miller.

»Literweise«, stimmte ich ihm zu. Ich begann zu schwitzen, obwohl ich nicht wusste, warum. Miller schaffte es, dass ich mich schuldig fuhlte, dabei hatte ich uberhaupt nichts getan.

»Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich einen Blick unter den Teppich werfe?«, fragte Miller.

»Fuhlen Sie sich wie zu Hause«, erwiderte ich.

Jones kippte den Sessel ein wenig, sodass Miller den Teppich darunter fortziehen konnte, um ihn dann ordentlich aufzurollen, damit er die Dielenbretter in der Mitte des Raums begutachten konnte. Er hatte ja eigentlich Recht, der ganze Boden war mit Pickerings Blut bedeckt worden, aber im Lauf von hundert Jahren war das zu einem dunklen, rostigen Rorschach-Muster geworden.

Miller kniete nieder und strich uber den Boden. » Hier ist zwar etwas verschuttet worden, aber nicht in jungerer Zeit.« Jones gesellte sich zu ihm: »Sehen Sie hier, Sir. Der Boden ist irgendwann mal geoffnet worden. Das ist allerdings auch schon sehr lange her, aber es ist nicht ordentlich ausgefuhrt worden ...«

Millers Blick war so giftig, als wolle er mich auf der Stelle umbringen. Er machte kein Hehl daraus, dass ich seiner Ansicht nach mehr uber Pickerings Verschwinden wusste, als ich ihm verriet. Dennoch war ich ziemlich sicher, dass er mich nicht fur einen Morder hielt. Anders als seine Kollegen war er bereit, an die Gerausche und die Lichter und die ubernaturlichen Krafte zu glauben, die den Frieden in Fortyfoot House storten. Sein einziges

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