Sie umspulten meine Hosenbeine und drangen in meine Schuhe ein. Pickerings Leichnam begann allmahlich zu treiben, doch ich zog ihn weiter, bis ich bis zur Hufte im Wasser watete. Ich versetzte ihm einen Sto? und sah zu, wie er davontrieb, bis nur sein heller Kragen in der Dunkelheit zu sehen war. Ich kannte kein Gebet, sondern dachte mir einfach eines aus. Unter diesem viktorianischen Himmel, in einer Welt, in der Gro?britannien immer noch uber Indien herrschte, in der die Zaren in Moskau das Sagen hatten, in der Prasident Cleveland in Washington an der Macht war ... in dieser Zeit schickte ich einen Mann aus einer anderen Zeit auf seine letzte Reise, auf dass er seinem Schopfer begegnete. Ich watete zuruck ans Ufer.

1886 gab es noch kein Strandcafe, sondern eine Reihe von Cottages, die genauso peinlich sauber und gepflegt wirkten wie 1992. Ich ging den steilen Pfad hinauf, der zuruck zum Fortyfoot House fuhrte. Er war nicht geteert, stattdessen knirschten unter meinen Schuhsohlen kleine Steine und lockerer Kies. In der Ferne horte ich einen Hund bellen, und als ich Lichter blinken sah, wurde ich fast von der Unwirk-lichkeit meiner Situation uberwaltigt.

Ich naherte mich dem Gartentor, als ich eine dustere Gestalt bemerkte, die nahe der Hecke stand. Ihr Gesicht war hinter dem uberhangenden Efeu verborgen. Ich blieb stehen und starrte in die Finsternis, um festzustellen, ob es sich vielleicht um Brown Jenkin handelte. Wenn er es wirklich war, konnte ich nur die Flucht ergreifen und versuchen, auf einem anderen Weg ins Fortyfoot House zuruckzukehren.

Aber die Gestalt wirkte gro?er und massiger als Brown Jenkin. Sie gab keinen Laut von sich, wahrend sie da im Schatten des Efeus stand, und hielt die Hande in einer Geste gro?ter Geduld verschrankt.

»Wer ist da?«, fragte ich schlie?lich.

Die Gestalt trat einen Schritt nach vorn, ihr Gesicht wurde von einer Kapuze verdeckt, die der einer Monchskutte glich. Ich war bereit, sofort loszurennen, als mein Gegenuber die Kapuze nach hinten schob. Es war der junge Mr. Billings, seine Wangen ein wenig narbig. Er roch nach Gin und irgendeinem su?lichen Rasierwasser. Nach einem Moment rausperte er sich. »Erkennen Sie mich nicht?«, fragte er ruhig.

»Naturlich«, sagte ich.

»Ich habe Sie beobachtet«, fuhr er fort. »Ich habe gesehen, was Sie da unten am Strand gemacht haben. Indem Sie hergekommen sind, Sir, sind Sie ein gro?es Risiko eingegangen. Indem Sie zuruckgekommen sind, haben Sie das Risiko nur noch gro?er werden lassen.«

»Sie und Kezia Mason haben ihn ermordet«, sagte ich mit etwas zittriger Stimme. »Er hatte etwas Besseres verdient, als unter dem Fu?boden begraben zu werden.«

»Oh ... etwas Besseres, sagen Sie? Sie meinen, von Taschenkrebsen gefressen zu werden?«

»Taschenkrebse, Wurmer, was macht das schon? Wenigstens habe ich fur ihn gebetet.«

»Gut fur Sie«, sagte der junge Mr. Billings, wahrend er langsam um mich herumging und mich von oben bis unten ansah. »Naturlich hat Ihre barmherzige Tat nichts damit zu tun, dass die Polizei nicht die Leiche von Reverend Pickering in dem Haus finden soll, in dem Sie der einzige denkbare Verdachtige waren.«

»Das vielleicht auch.«

Der junge Mr. Billings hielt inne und sah mich an. »Ich habe zwar meine Seele verkauft, Sir, aber ich bin kein Narr.«

»Das habe ich auch nicht gesagt.«

Eine Weile dachte er nach, dann sagte er: »Was soll ich Ihrer Meinung nach mit Ihnen machen?«

»Mein Sohn wartet auf mich«, erwiderte ich.

»Naturlich. Und Charity wartet auch auf Sie.«

»Brown Jenkin wollte sie toten.«

»Sie mussen mir nicht sagen, was Brown Jenkin will.«

»Haben Sie sich deswegen mit ihm im Garten gestritten?«

Er senkte den Blick. »Sie haben schon so viele genommen. Vermutlich werden Sie es mir nicht glauben, aber es bricht mir das Herz.«

Dieses plotzliche Bedauern kam fur mich vollig uberraschend. Bislang hatte ich geglaubt, dass der junge Mr. Billings und Brown Jenkin - auch wenn sie vielleicht gar nicht miteinander verwandt waren - Hand in Hand gearbeitet hatten.

»Was haben Sie mit den Kindern gemacht?«, fragte ich ihn. »Doch sicher nicht einfach nur getotet?«

»Naturlich nicht«, entgegnete Billings. »Aber es ist nicht so einfach zu erklaren. Es hat mit Dingen zu tun, die die meisten Menschen nur schwer verstehen konnen. Wie Zeit und Realitat. Und auch Moral. Und ob ein Menschenleben mehr wert ist als ein anderes.«

Ich warf einen Blick in Richtung Fortyfoot House. »Kann uns Brown Jenkin hier nicht finden?«

»Warum? Beunruhigt er Sie so sehr?«

»Es ware eine Untertreibung, wenn ich sagen wurde, er verfolgt mich in meinen schlimmsten Albtraumen.«

»Nun, vielleicht wird er uns hier finden. Vielleicht auch nicht. Vielleicht muss ich auch nach ihm pfeifen.«

»Was ist er?«, fragte ich.

»Brown Jenkin ist alles, was er zu sein scheint. Ein boshafter kleiner Kerl, ein von Ungeziefer geplagter Nager, ein entsetzlicherjunge. Was Sie in ihm sehen, ist er auch.«

»Woher kommt er? Jemand hat mir erzahlt, er sei Ihr Sohn.«

»Mein Sohn? Brown Jenkin? Ich wurde mich gekrankt fuhlen, wenn es nicht so albern ware. Nein, Sir, er ist nicht mein Sohn. Er ist irgendwie Kezias Nachkomme, nachdem sie zuruckgegangen war zu dieser ... dieser Kreatur Mazurewicz.« Nach dem letzten Wort spuckte er aus und wischte sich mit dem Handrucken den Mund ab.

»Was um alles in der Welt geht in diesem Haus vor sich?«, wollte ich wissen. »Seit meiner Ankunft habe ich Gerausche gehort und Lichter gesehen, ich habe Stohnen gehort, ich habe Brown Jenkin herumlaufen gesehen, zwei unschuldige Menschen sind ermordet worden.«

Billings dachte einen Augenblick lang nach, dann sagte er: »Nein, Sie wurden es nicht verstehen.«

»Versuchen Sie es.«

Er begann, hin und her zu laufen. »Ich soll es versuchen? Na gut, wie Sie wollen.« Er blieb abrupt stehen, holte eine Taschenuhr hervor und hielt sie dicht vor sein linkes Auge, um in der Dunkelheit die Zeit erkennen zu konnen. Auf der Uhr konnte ich fur einen Moment eine Gravur sehen, die an einen Tintenfisch erinnerte. »Es ist schon spat. Fur den Fall, dass wir gestort werden, mochte ich Ihnen zuerst eine Warnung mit auf den Weg geben.«

»Eine Warnung?«

»Es geht um Ihre Liz. Ihr Madchen ... das Madchen, das einmal Ihr Madchen war.«

»Erzahlen Sie«, forderte ich ihn auf. »Was ist mit ihr?«

»Wenn Sie nicht aufpassen, Sir, wird Ihre Liz Ihnen drei Sohne schenken, einen vom Blut, einen von der Saat und einen vom Speichel.«

»Was?«, sagte ich unglaubig. »Wovon reden Sie? Wir wollen uberhaupt keine Kinder haben, au?erdem nimmt sie die Pille. Sie wissen, was die Pille ist?«

Billings nickte: »Ich wei? einiges uber Ihre Zeit.«

»Zumindest hoffe ich, dass sie die Pille nimmt. Ich habe gesehen, wie sie sie schluckt.«

»Es wurde nichts andern«, sagte Billings. »Keine Pille auf der ganzen Welt kann die Zeugung dieser drei Sohne verhindern, mein Freund. Denn diese drei Sohne werden drei in einem sein, die verkehrten drei in einem, die Unselige Dreifaltigkeit. Wenn sie gewachsen sind, werden sie gemeinsam die gro?e Bestie zeugen, und dann wird die Tur zu der Welt geoffnet werden, die einmal war. Alle Vorstellungen der Menschheit von der Holle werden dann Wirklichkeit werden , hier auf der Erde. In unseren Stadten, in unseren Meeren.«

Er klammerte sich an das Gelander, das entlang des Pfads verlief, wahrend ich zu glauben begann, sodass er vollig wahnsinnig sei. Aber er sprach ganz ruhig und gleichma?ig, ohne ein Anzeichen fur Hysterie. Au?erdem hatte ich schon genug Wahnsinniges in Fortyfoot House erlebt, dass ich wenigstens an ein gewisses Ma? Wahrheit

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