nicht, ob ich

Ihnen fur das danken soll, was Sie mir gesagt haben, oder ob ich Sie verfluchen soll.«

»Sie konnen wenigstens Charity retten«, sagte er. »Bringen Sie sie so weit weg von Fortyfoot House wie moglich. Und sich selbst ebenfalls. Brown Jenkin kann Ihnen nicht sehr weit folgen.«

»Was ist mit den anderen Kindern? Ich bin vorhin einigen von ihnen begegnet.«

»Oh, ja. Ihr Gefluster und Umherlaufen hat mich aufgeweckt. Sie konnen sie nicht mitnehmen, furchte ich. Wenn Sie es doch nur konnten. Aber Brown Jenkin wurde vor Wut mindestens doppelt so viele Kinder ermorden. Er handelt vollig irrational.«

»Aber die Kinder werden so oder so sterben. Ich habe die Grabsteine gesehen.«

»Das Schicksal ist nicht unveranderlich, Sir, wie Sie selbst bereits festgestellt haben. Was ware, wenn Sie Ihren Freund, den Reverend, unter dem Fu?boden gelassen hatten? Was, wenn Sie mit ihm niemals durch den Durchgang gekommen waren? Unser Schicksal hat schon immer in unserer eigenen Hand gelegen. Das einzige Paradox ist, dass wir unser Leben nicht andern, wenn wir die Chance dazu haben.«

Er ergriff meine Hand und hielt sie fest umschlossen. Es war ein unbeschreiblich seltsames Gefuhl. Hier stand ich und hielt die Hand eines Mannes, der seit uber hundert Jahren tot war. Ich fuhlte mich wie auf einer Achterbahn kurz vor dem Sturz ins absolute Nichts. Ich konnte mit einem Mal verstehen, warum Menschen den Verstand verloren.

»Ich hatte Brown Jenkin sechs Kinder zugestanden«, sagte er. »Ich dachte mir, dass sie ohnehin verhungert, an einer Krankheit oder durch brutalen sexuellen Missbrauch gestorben waren, wenn sie im Londoner East End geblieben waren. Aber dann bedrangte mich Kezia weiter, und ich lie? es zu, dass er weitere sechs Kinder nehmen konnte. Mir wurde dabei die Fadenscheinigkeit meiner anfanglichen Rechtfertigung bewusst. Und jetzt will sie, dass er noch einmal sechs

Kinder bekommt. Ich wei?, wo das enden wird, wenn ich nicht drastische Ma?nahmen ergreife.«

»Was werden Sie machen?«

»Ich reise in die Zukunft«, sagte Billings. »Ich reise bis zum au?ersten Zeitpunkt und halte diese Monstrositat unmittelbar vor der Erneuerung auf, bevor die Welt fur immer verdammt ist.«

Ich sah auf meine Uhr und bemerkte, dass ich seit mindestens einer halben Stunde hier gewesen sein musste. Die Kinder wurden sich Sorgen uber meinen Verbleib machen. »Ich kehre jetzt besser zuruck«, sagte ich. »Ich wei? nicht, ob ich das wirklich alles verstehe. Ich wei? noch immer nicht, warum Brown Jenkin nicht aus der Zukunft zuruckkommen und Kezia vor dem warnen wird, was Sie vorhaben.«

»Weil dies hier, November 1886, meine echte Zeit ist. Sie konnen durch den Durchgang gehen, und wenn Sie morgen zuruckkehren, sind hier genauso viele Stunden verstrichen wie in Ihrer Zeit.«

»Ich glaube, ich bin verwirrter als zuvor.«

»Glauben Sie mir«, sagte Billings. »Wir konnen die Kinder retten, wenn wir es nur versuchen. Ich bin sicher. Und wenn wir das nicht konnen, dann verdiene ich alles, was Gott fur mich als Strafe vorgesehen hat.«

»Wurden Sie das gerne wissen?«

Er schuttelte den Kopf. »Ich kann es mir nur zu gut vorstellen. Vermutlich Wahnsinn und dann Tod. Ich spure, wie die beiden schon jetzt an mir nagen. Aber ich mochte es nicht von jemandem horen, der es mit Sicherheit wei?.«

Ich offnete das Gartentor und schritt durch die Dunkelheit unter den Baumen. Fortyfoot House hob sich pechschwarz vom Nachthimmel ab und wirkte sonderbar unenglisch, eher wie eine turkische Festung oder eine Klippe auf einer fernen Welt. Ich ging den Weg hinauf, uberquerte die kleine Brucke, lief dann uber den Rasen, der zur Ruckseite des Hauses fuhrte. Der Fischteich wirkte wie ein silbernes Fenster in der Finsternis, durch das ich direkt in einen schrecklichen uner-reichbaren Abgrund starrte. Wenn man durch dieses Fenster fiel, wurde man geradewegs nach unten in den Himmel sturzen.

Ich eilte an der Sonnenuhr vorbei, als ich ein scharfes, krachendes Gerausch horte. Ich sah hinuber zur Sonnenuhr und bemerkte, dass ein feiner glei?end blauer Funkenregen aus dem Zeiger kroch und die romischen Ziffern umspielte. Rasch warf ich einen Blick auf die Schatten im Garten, die alle etwas Bedrohliches ausstrahlten. Wenn Funken flogen, dann war Kezia Mason nicht weit entfernt. Und mit ihr war auch Brown Jenkin nicht mehr weit. Ich lief schneller, aber einen Moment spater schoss ein Blitz aus dem Zeiger der Sonnenuhr und traf mich an der Schulter. Die Nerven und Muskeln in meinem linken Arm reagierten so heftig, dass meine Faust ungewollt nach oben ausschlug. Dann spurte ich etwas Brennendes, und ich bemerkte, dass eine Rauchwolke aus meinem Poloshirt aufstieg.

Von den Stufen zur Veranda vor mir trat Kezia Mason vor, dicht gefolgt von Brown Jenkin. Kezia war in ein exzentrisches, arabisch anmutendes Kostum gehullt, das aus verschmutzten, zerrissenen Bettlaken bestand, die sie zu einem monstrosen Burnus um ihren Kopf gewickelt hatte, der nur ihre Augen unbedeckt lie?. Die Laken waren auf ihren Schultern aufgeturmt und mit einer Vielzahl verknoteter Schnure befestigt. Vom Brustkorb an abwarts bis zu den Knien war sie nackt, wenn man von einem Beutel absah, der um ihre Hufte gebunden war und mit welkem Eichenlaub und Rosenblattern und Mistelzweigen und sogar mit einem halb mumifizierten Spatz bestuckt war. Ihre Schienbeine waren ebenfalls mit zerrissenen Laken umwickelt, ihre Fu?e waren blo?. Allerdings hatte sie um jeden Zeh ein Stuck Schnur gebunden.

Die Laken sahen aus, als seien sie mit Blut und Urin verschmutzt, und obwohl sie noch funf oder sechs Meter von mir entfernt stand, konnte ich den Gestank des Todes wahrnehmen. Kezia Mason und Brown Jenkin waren der Tod ... der Tod und sein schlurfender Gefahrte.

»Bonsoir bastard, comment ca vaf«, kicherte Brown Jenkin und sprang auf dem Rasen von Schatten zu Schatten, bis ich nicht mehr wusste, was Schatten und was das Ratten-Ding war. »We were so traurig bastard-bastard. But so happy now, dass wir deine lunchpipes riechen konnen! I hook out your derriere-ring avec meinen Klauen, ja!«

Die ganze Zeit uber kroch und tanzte Brown Jenkin durch die Dunkelheit, wahrend Kezia Mason langsam um mich herumging. Ihre Laken raschelten, ihr Beutel prallte sanft von ihrem nackten Schoss ab.

»Was hat dich wieder hergefuhrt, Mr. Einmischer?«, fragte sie mich. »Keine Lust mehr zu atmen? Was hast du denn mit dem Heiligen gemacht? In die Brandung geworfen?«

»Ha! Ha! Tekeli-li! Tekeli-li!«, kreischte Brown Jenkin, bis Kezia Mason mit einem starren Zeigefinger auf ihn deutete.

»Ruhig, Jenkin! Du siehst aus, als hatte dich der Teufel im Galopp verloren!«

Sie schnippte mit den Fingern, und im gleichen Moment platzte eine Ader in Brown Jenkins rattenahnlichem Nasenloch. Blut spritzte auf seine Schnurrhaare und seinen hochgeschlagenen Kragen. Er fasste sich an die Nase und rannte maulend uber das Gras.

»Also?«, forderte Kezia, wahrend sie sich mir naherte. Ich konnte den stechenden su?lichen Geruch kaum ertragen, und ich spurte, wie sich mein Magen umzudrehen begann. »Was willst du hier, Trottel? Du siehst ein bisschen blass um die Kiemen herum aus, nicht? Bist du fur was Unanstandiges gekommen? Oder um Arger zu machen? Oder fur beides?«

Ich hatte keine Ahnung, was ich ihr sagen sollte. Ich verstand ja kaum, was sie eigentlich von mir wollte. Au?erdem war meine Kehle vor Furcht und Abscheu so zugeschnurt, dass ich mir nicht vorstellen konnte, uberhaupt einen Ton herauszubringen. Ich sah zur Seite, um sicher zu sein, dass Brown Jenkin nicht hinter mir lauerte, doch im gleichen Moment streckte sie die Hand aus und bekam mein Gesicht mit allen funf Fingern zu fassen. Sie bohrte den kleinen

Finger tief in meine Wange, schob den Ringfinger in meinen Mund, den Mittelfinger druckte sie in meine Nase, und mit Daumen und Zeigefinder kniff sie mich so fest in die andere Wange, dass ich vor Schmerz aufschrie.

»Hee-hee, fly-blow bastard!«, kicherte Brown Jenkin. »Bargearse fucker! Je mange tes fries!«

Kezias Finger schmeckte abscheulich, wie abgestandenes Blut. Mein Magen zog sich zusammen, und ich konnte nicht anders, als zu wurgen.

»Wie ware es, wenn ich dir deine Zunge rausrei?e?«, fragte sie. »Ich kann das, das wei?t du! Ein Ruck, und weg ist sie. Du warst dann naturlich noch nicht tot. Zu fruh fur die Kiste! Aber stell dir vor, du musstest ohne Lippen, ohne Nase und mit Rattenlochern in deinen Wangen leben. Und kein Mensch konnte dich ansehen, ohne sich in die Hosen zu schei?en! ... Wenn ich so druber nachdenke, siehst du schon jetzt beschissen aus!«

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