17. Illusionen

 Danny und Charity sa?en am Kuchentisch, a?en ihre gekochten Eier und ihren Toast, wahrend ich gegen die Spule gelehnt dastand und aus dem Fenster sah. Die Sonne schien durch die Tur ins Zimmer, der Wind war warm und roch nach Meer. Ich konnte fast nicht glauben, dass ich vor gerade einmal einer halben Stunde durch das eiskalte Meer im November 1886 gewatet war, um den zerfetzten Leichnam von Reverend Pickering den Wellen zu ubergeben.

Etwas unter dem Poloshirt juckte mich, und ich begann zu kratzen. Ich hoffte, dass ich mir nicht von Brown Jenkin irgendwelches Ungeziefer eingefangen hatte.

»Danny«, sagte ich schlie?lich, »es tut mir Leid, aber wir mussen fort von hier.«

»Du sagst immer, dass wir fort mussen, aber dann bleiben wir doch.«

»Diesmal muss es wirklich sein.«

»Warum? Was ist. los?«

»Es ist dieses Haus. Es ist auf eine bose Art verzaubert, und ich bin besorgt, dass dir und Charity etwas zusto?en konnte.«

»Und Liz?«

»Ja, ja, um sie mache ich mir auch Sorgen.«

»Wann mussen wir los?«

Ich blickte auf meine Uhr. »Sobald ihr mit dem Fruhstuck fertig seid. Wir brauchen nur einen Koffer, den Rest holen wir spater.«

»Und was ist mit mir?«, fragte Charity.

»Oh, du kommst naturlich auch mit. Das hei?t, falls du das mochtest.«

Charity nickte. Ich hatte sie inzwischen richtig gern. Vielleicht war es ihre formelle viktorianische Art oder wie sie sich anbot, bei absolut allem zu helfen. Heutzutage wunscht man sich Kinder wie Charity, wenn man gerade mal in der Lage ist, sie vom Fernseher an den Kuchentisch zu locken, damit sie wenigstens etwas zu sich nehmen.

Ich ging nach oben ins Schlafzimmer, holte unseren alten Koffer unter dem Bett hervor und offnete die rostigen Schlosser. Wahrend ich Hemden und Hosen so ordentlich wie moglich faltete und in den Koffer legte, fiel mein Blick auf das grune T-Shirt und die Nylonstrumpfhose, die Liz auf ihrer Seite des Bettes hatte liegen lassen. Ich wusste nicht, was ich mit Liz machen sollte. Die Erscheinung, die sich in ihren Korper geschleust hatte, konnte ich nicht leugnen, ich hatte sie mit meinen eigenen Augen gesehen. Aber hatte Billings wirklich die Wahrheit gesagt? Konnte das wirklich eine vormenschliche Kreatur namens Sothoth gewesen sein? Oder hatte ich einfach nur eine optische Tauschung erlebt -eine Folge von zu viel Wein, zu wenig Geld und zu wenig ausgewogenem Essen?

Aber angenommen, er hatte die Wahrheit gesagt und Liz war jetzt von demselben Wesen besessen, das sich in Kezia Mason eingenistet hatte. Angenommen, sie trug zwei Lebensformen in sich, die ihren Korper zerrei?en wurden. Sollte ich ihr davon etwas sagen? Oder sollte ich den Mund halten, zumal Billings gesagt hatte, gegen die Kreaturen konne man nichts unternehmen? Sollte ich sie in ein Krankenhaus bringen? Oder sollte ich fortlaufen, sie vergessen und so tun, als sei ich ein anderer Mensch, der nie von Fortyfoot House auch nur gehort hatte?

Es gab einen Aspekt, der mich wirklich irritierte, namlich der, dass sich Billings die Muhe gemacht hatte, mich zu warnen. Er hatte Brown Jenkin auf mich hetzen konnen, er hatte Kezia Mason auf mich loslassen konnen. Aber ich hatte das Gefuhl, dass er mich aus irgendeinem unerklarlichen Grund brauchte, dass er mich ohne mein Wissen in irgendeine Verschworung einbezogen hatte.

Er hatte den gro?ten Verrat aller Zeiten erwahnt: die drei?ig Silberlinge. Vielleicht war diese Bemerkung wichtiger, als ich zunachst geglaubt hatte.

Aber ich konnte mir daruber jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Ich musste an Danny und an Charity denken. Mit jeder Minute wuchs die Gefahr, dass Brown Jenkin herkam. Ich machte mir keinen Illusionen daruber, was er mit den Kindern machen wurde, wenn er sie erst einmal entfuhrt hatte.

Bauz! Da geht die Ture auf, Und herein in schnellem Lauf Springt der Schneider in die Stub.

Ich packte Dannys Pyjama ein und ging dann ins Badezimmer, um die Zahnbursten einzusammeln. Ich betrachtete im Medizinschrank mein Spiegelbild. Ausgemergelt war nicht das richtige Wort, absto?end traf es eher. Ich hatte das Blut von meinem Kinn gewischt, aber der Riss in meiner Lippe hatte sich noch nicht geschlossen, und rings um Mund und Nase fanden sich kleine Kratzer und Druckstellen.

Als ich nach unten kam, traf ich zu meiner Uberraschung auf Liz, die schon von der Arbeit zuruckgekommen war und in der Kuche sa?, wo sie eine frische Tasse loslichen Kaffees trank. Die Kinder waren drau?en auf der Veranda und traten einen luftarmen Wasserball hin und her. Liz lachelte mich merkwurdig an, wahrend ich den Koffer an der offenen Tur abstellte.

»Du hast gepackt«, sagte sie, klang aber nicht uberrascht.

»Ich ... ja, ich habe gepackt. Ich habe beschlossen abzureisen. Ich glaube, dass ich genug habe.«

»Oh«, machte sie. »Und mir wolltest du davon nichts sagen?«

»Naturlich. Ich wollte zum Vogelpark kommen und es dir sagen.«

»Aber du wolltest mich nicht fragen, ob ich dich vielleicht begleiten will?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste ja nicht mal, ob ich noch mit Liz sprach oder mit irgendeinem kalten und formlosen Wesen, das einfach nur wie Liz aussah. »Mir ist nicht der Gedanke gekommen, dass du mitkommen wolltest«, log ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mit einem alteren Mann zusammen sein mochtest, der kein Geld, keine Zukunft, kein Auto, aber zwei Kinder hat.«

»Darf ich das vielleicht selbst entscheiden?«

Ich sah hinaus zu den Kindern, die sich im Sonnenschein amusierten, und musste an die Kinder denken, die vor so vielen Jahren in Fortyfoot House in der Falle gesessen hatten, ohne Hoffnung, ausgemergelt, ohne eine Chance, dem Tod zu entgehen.

»Wieso bist du so fruh zu Hause?«, fragte ich Liz. »Es ist doch erst elf.«

Sie lie? den Loffel wieder und wieder in der Kaffeetasse anschlagen. »Mir war nicht gut. Ich habe merkwurdige Magenschmerzen.«

Ich nickte. »Aha.«

»Einer der Kassierer hat mich hergebracht. Er ist nett. Er hei?t Brian.«

»Dein Alter?«

» Eifersuchtig? «

Fur einen Moment glaubte ich, wieder dieses rotliche Funkeln in ihren Augen zu entdecken. Mir war, als wurde mich jemand durch Liz' Augen hindurch ansehen, so wie bei einem Portrat, bei dem die Augen ausgeschnitten worden waren. »Wei?t du, was es ist?«, fragte ich sie.

Liz sah mich fragend an.

»Deine Magenschmerzen, meine ich. Irgendeine Ahnung, woher sie kommen?«

Ich wartete darauf, einen Hinweis in ihrem Gesicht zu entdecken, dass sie nicht sie selbst war.

Aber sie zuckte nur mit den Schultern und sagte: »Vielleicht sind meine Tage zu fruh dran. Vielleicht habe ich auch nicht richtig gegessen. Davon bekomme ich immer Magenschmerzen.«

»Kann ich dir etwas holen?«

Sie grinste verfuhrerisch. »Ein wenig von Dr. Williams' Spezialmedizin ware vielleicht nicht schlecht.«

»Ich ... wir reisen ab«, sagte ich knapp. Ich kam mir vor wie eine Figur in einem Stuck von Noel Coward. »Ich bringe die Kinder nach Brighton, danach mussen wir einfach weitersehen.«

»Kann ich nicht mitkommen?«

Ich setzte mich neben sie an den Kuchentisch. »Ich bin gerade eben durch die Klapptur zuruckgekommen.«

Es folgte eine sehr lange Pause, dann sagte Liz: »Du bist noch mal hingegangen?«

»Ich musste. Die Polizei kam her, um nach Pickering zu suchen. Nachdem Brown Jenkin ihn umgebracht hat, wurde er unter dem Fu?boden beerdigt. Ich hatte den Boden aufgemacht, und er war noch immer da. Darum bin ich heute Morgen zuruckgekehrt. Ich bin ins Jahr 1886 zuruckgekehrt und habe ihn beerdigt. Na ja, es war mehr

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