mich mehr davon uberzeugen konnen, dass sie real war?

»Ich mochte Ihnen etwas erzahlen«, sagte sie und flusterte, so wie Kinder es tun, wenn sie ein Geheimnis verrieten. »Ich

bin zu Ihnen als Madchen gekommen. Aber ich bin mehr als das. Die Alten haben uberlebt, indem sie sich in menschlichen Wesen festsetzten. In Kezia Mason, in Ihrer Liz, in Vanessa Charles, die eines Tages die Alten zur Welt bringen wird, die leben werden. Sie haben versucht, sich zu verstecken, aber manchmal verrieten sie sich. So wurden Hexen entdeckt und verbrannt. Nur hat die Verbrennung niemals die Alten getotet. Jede Hexe hat versucht, die drei Sohne zur Welt zu bringen, die ein Sohn werden ... die Unselige Dreifaltigkeit. Der Sohn des Samens, der Sohn des Speichels, der Sohn des Blutes. Aber manche von ihnen«, sie machte eine Geste, die sich auf sie selbst bezog, »brachten Kinder zur Welt, die mehr menschlich als vormenschlich waren. Wenn auch nicht vollig menschlich.«

»Du meinst, so wie du?«

»Ja«, antwortete sie lachelnd. »So wie ich. Wir wurden das, was jeder eine wei?e Hexe nennt. Frauen, die die Gabe besitzen, andere zu heilen, die Fruchtbarkeit spenden und die die Zukunft vorhersagen konnen, weil wir naturlich in die Zukunft reisen und mit unseren eigenen Augen sehen konnten, was kommen wurde.«

»Aber du bist ein Kind«, sagte ich. »Ein Madchen, keine Frau.«

Ihre Augen wurden gro?. »Sie sollten das Alter nie nach dem Aussehen schatzen. Die jungsten Gesichter haben die altesten Augen.«

»Ich verstehe das nicht. Was hast du im Fortyfoot House gemacht? Du hast diese Krafte ... aber du warst eine Waise.«

»Ja, eine Waise, aber eine besondere Waise. Ich war eine Waise, weil meine Mutter im Kindbett starb. Ich war eine Waise, weil meine Mutter bei der Geburt meiner drei Bruder zerrissen wurde. Drei Bruder, verstehen Sie? Meine Mutter war von dem Hexen-Ding besessen, doch sie brachte mich zuerst zur Welt. Erst vier Jahre spater gebar sie meine drei Bruder, die drei Sohne. Das Haus war erfullt von schrecklichen Schreien und grasslichen Geruchen und blitzenden

Lichtern. Naturlich starben meine drei Bruder, weil die Luft zu gut und das Wasser voller Dinge war, die sie nicht schlucken konnten. Sie losten sich spurlos auf. Aber ...« - sie bekreuzigte sich - »... das Hexen-Ding meiner Mutter uberlebte. Im Wandschrank.«

»Im Wandschrank?«, fragte ich.

Meine Gedanken kehrten wieder zu Danny zuruck, doch ich wusste, dass das hier wichtig war. Ich wusste, dass Charity mir helfen konnte, ihn zu retten. >Geduld<, sagte ich mir.

Sie nickte. »Wir hatten einen Wandschrank, und jedes Mal, wenn ich ihn offnete, sah ich blaues Licht und ein solches Gesicht.« Sie riss die Augen auf und zog mit den Fingern ihre Unterlippe herunter. »Das war meine Mutter, das war das Hexen-Ding. Und eines Tages kam Dr. Barnardo in unser Haus, um Kinder mitzunehmen. Eines der Kinder, die er sich bereits genommen hatte, war Kezia Mason. Wahrend sich Dr. Barnardo mit dem alten Mr. Billings unterhielt, zeigte ich Kezia das Regal. Die Tur offnete sich und das Hexen-Ding kam heraus, umarmte Kezia und ubernahm sie.«

»Dann ist das Hexen-Wesen in Liz dasselbe, das auch in Kezia Mason und in deiner Mutter war?«

Sie nickte.

»Aber wenn Kezia doch im Grunde mit dir verwandt war, wie konnte sie dann zulassen, dass Brown Jenkin dich mitnahm?«

»Das Hexen-Wesen kennt keine menschlichen Gefuhle, es hat kein Herz, es ist einfach nur eine Kreatur.«

»Warum hast du nicht Kezia so bekampft, wie du es mit Liz gemacht hast?«

»Ich konnte nicht. Sie war viel zu stark. Aber Liz ist noch schwach, sie ist gro?tenteils noch menschlich. Es dauert lange, ehe ein Hexen-Wesen Korper und Seele einer Frau durchdringt und sie ganz dominiert. Aber Kezia war kaum noch menschlich, als Sie sie zum letzten Mal gesehen haben.«

»Hast du je deine Bruder gesehen?«, wollte ich wissen. »Wei?t du, wie sie aussahen?«

»Nein«, sagte Charity ein wenig traurig. »Ich war noch sehr klein, und das Zimmer meiner Mutter war immer verschlossen. Ich habe sie vor der Geburt wochenlang nicht gesehen. Dann horte ich entsetzliche Schreie und sah grelles Licht. Durch einen Spalt in der Tur habe ich nur Blut sehen konnen.«

»Gibt es wirklich keine Hoffnung, wenn ein Hexen-Wesen erst einmal eine Frau ubernommen hat?«

Auch wenn ich es mir nicht wirklich eingestehen wollte, glaube ich, dass ich Charitys Zustimmung haben wollte, Liz zu toten.

»Keine Hoffnung«, antwortete Charity. Sie machte mit ihren Fingern eine sonderbare Bewegung, als vertreibe sie einen lastigen Geist. »Nur die, die Zeit zu verandern. Aber wenn Sie die Zeit verandern, konnen Sie nie sicher sein, ob Sie nicht alles nur noch verschlimmert haben.«

»Kannst du die Zeit verandern?«

Sie schuttelte den Kopf. »Nicht mehr und nicht weniger als jeder andere auch. Ich bin nicht von den Alten besessen. Ich bin nicht mal eine richtige Hexe. Ich bin das Kind menschlicher Eltern. Das Einzige, was mich von anderen unterscheidet, ist die Tatsache, dass meine Mutter bei meiner Zeugung von einem der Alten besessen war. Ich habe einige dieser Krafte geerbt. Ich bin eine wei?e Hexe mit fremdartigen Gedanken und Traumen. Aber ich bin menschlich. Uberrascht es Sie, dass ich so spreche, wo ich doch so jung bin?«

»Hor zu«, sagte ich. »Brown Jenkin wollte dich zu einem seiner Picknicks mitnehmen, und Reverend Pickering ist bei dem Versuch gestorben, dich zu retten.«

»Ja! Das war ihre Luge«, entgegnete Charity. »Sie hatten gesagt, sie wurden nur zwolf Kinder brauchen, um die Hexe wahrend des letzten Aktes der Erneuerung zu ernahren. Aber in Wahrheit benotigten sie Hunderte von Kindern. Zum Schluss gab Kezia auch mich her, weil sie nicht mehr Kezia war. Sie war eine von ihnen ... von den Alten. Sie war meine Mutter, aber sie war auch nicht meine Mutter.«

»Und was ist mit Danny?«, wollte ich wissen, da die Ungeduld allmahlich die Oberhand gewann. Brown Jenkin hatte ihn hinuber zur Kapelle geschleppt, und ich musste ihm dorthin folgen, ganz gleich, welche entsetzliche Monstrositat auf mich wartete.

»Sie konnen ihn retten, David, ja«, sagte sie. »Aber nicht jetzt.«

»Was hei?t >nicht jetzt<?« Sie war ein Kind, und trotzdem war ich derjenige, der sich jung fuhlte.

»Sie werden ihn an das Hexen-Ding verfuttern«, sagte sie. »Sie konnen sie nicht aufhalten, nicht hier und nicht jetzt. Sie haben weder die Zeit noch die Mittel dafur. Aber Sie konnten in der Zeit zuruckkehren und das Hexen-Ding vernichten, bevor es uberhaupt existieren kann. Dann wird Danny nicht aufgefressen werden, weil es nichts gibt, das ihn essen konnte.«

»Was? Wie meinst du das?«

Charity bedeutete mir, zu schweigen. Sie war so blass. »Jetzt ist die Zeit der gro?en Erneuerung, David. Dies ist fur dich die Zukunft, das Jahr 2049. Die Erde ist so vergiftet, dass die Alten endlich atmen und aus ihrem Versteck kommen konnen. Aber wenn Sie zuruckreisen ... in die Zeit, in der Liz ihre drei Sohne zur Welt bringt - ihre Unselige Dreifaltigkeit - die nicht uberleben wird, weil es noch zu viel Sauerstoff gibt, zu viele Pflanzen, zu viele Tiere und zu viele Fische ... wenn Sie sich zu dem Augenblick begeben, in dem Liz ihre Kinder zur Welt bringt ... dann konnen Sie das Hexen-Ding fangen und toten, bevor es auf einen neuen menschlichen Wirt uberwechseln kann.«

Sie sah mich ernst an: »Glauben Sie mir. Vertrauen Sie mir.«

»Ich wei? nicht, ob ich das kann.«

»Sie haben gesehen, wie ich schwebe und wie ich fliege.«

»Ja, aber ...«

Sie kicherte. Sie hatte wie eine Erwachsene gesprochen, aber sie war vor allem ein Kind. »Hexen konnen fliegen. Das wissen Sie aus den Marchen. Aber sie brauchen dazu keinen Besen.«

»Du bist also eine Hexe«, sagte ich und konnte fast nicht glauben, dass ich das sagte. Ich konnte ja kaum glauben, dass ich es glaubte. Aber manchmal hat man keine Wahl. Manchmal muss man die Dinge so akzeptieren, wie sie sich einem darbieten. Dinge, die auf eine unglaubliche Weise unvermeidbar sind, so wie Verkehrsunfalle. Man denkt >es passiert schon nichts!<, aber dann kommt es doch zur Kollision. Das

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