Sie gab ihrem Pferd die Sporen und ritt den Pfad hinauf, der tiefer ins Dickicht hineinfuhrte.
»Es ist eine Frage des Geldes, nicht wahr? Es geht um die Solidi, oder?« rief Ambrosinus hinter ihr her.
Aurelius legte ihm die Zugel des Maulesels in die Hand. »Rede keine Dummheiten, Lehrer! Hast du eine Vorstellung, was sie ihr angetan hatten, wenn sie sie bei dem Versuch, euch zu befreien, erwischt hatten? Niemand riskiert sein Leben nur des Geldes wegen. Und wir alle haben es riskiert, und zwar gleich mehrmals. Und jetzt los! Hast du verstanden?«
»Kann ich zu dir aufs Pferd steigen?« fragte Romulus Aurelius, aber dieser lehnte ab. »Es ist besser, wenn du mit deinem Lehrer reitest«, sagte er. »Im Fall eines Angriffs mussen wir uns ungehindert bewegen konnen.« Und er gab seinem Pferd die Sporen. Enttauscht setzte sich Romulus hinter Ambrosinus, der sein Reittier anspornte und schweigend den Pfad entlangritt; ihnen folgten Vatrenus, Orosius, Demetrios und Batiatus paarweise und in verhaltenem Schritt. Als sie den hochsten Punkt einer Anhohe erreicht hatten, wandten sie sich zur Kuste um: Unter den Strahlen der bereits ziemlich hoch uber dem Bergkamm stehenden Sonne glitzerte das Meer, und man konnte deutlich die Umrisse des Bootes erkennen, das in einem leicht wirbelnden Schaum versank. Auf der anderen Seite erhoben die Berge des Apennin ihre schneebedeckten wei?en Spitzen uber den Wald, uber das dunkle Grun der Tannen. Der Weg nach oben wurde steiler, und die Reiter verlangsamten ihr Tempo. Nur Vatrenus gab seinem Pferd die Sporen und schlo? sich Livia und Aurelius an, um die Spitzengruppe zu verstarken, die am meisten gefahrdet war.
»Eines mochte ich noch gern wissen«, sagte Vatrenus auf einmal, an Livia gewandt.
»Und das ware?«
»Was ist mit dem Fischer passiert, der die Nordwand hochgeklettert ist, um Kaiser Tiberius eine Languste zu bringen?«
»Der Kaiser hat das nicht besonders gut aufgenommen. Er hat sich geargert, weil es einem Eindringling gelungen war, seine Villa von einer Seite her zu betreten, die man fur unzuganglich gehalten hatte, und er hat seinen Wachen befohlen, dem Fischer mit der Languste wiederholt uber das Gesicht zu streichen, bevor sie ihn endgultig vor die Tur setzten.«
Vatrenus kratzte sich den Nacken. »Verflixt. Da ist es uns ja viel besser ergangen.«
»Bis jetzt«, sagte Aurelius.
»Richtig, bis jetzt«, raumte Vatrenus ein.
In einem Abstand von etwa hundert Fu? folgten ihnen Ambrosinus und der Knabe auf dem Rucken ihres Maulesels.
»Glaubst du wirklich, da? sie mich nach Konstantinopel bringen?« fragte Romulus.
»Ich furchte ja«, antwortete Ambrosinus. »Oder besser: Ich bin mir sicher. Livia hat es nicht abgestritten, als ich das behauptet habe -vielmehr hat sie es in gewisser Hinsicht sogar bestatigt.«
»Und ist das wirklich so furchterlich?«
Ambrosinus wu?te nicht, was er erwidern sollte.
»Sag es mir«, beharrte Romulus. »Ich habe das Recht zu erfahren, was mich erwartet.«
»Tatsache ist, da? ich das auch nicht wei?. Ich kann nur Vermutungen anstellen. Eines aber ist klar: Livia hat von jemandem den Auftrag bekommen, dich aus Capri wegzubringen. Sie ist es, die alles organisiert hat. Die Anwesenheit von Aurelius hat mich anfangs auf die falsche Fahrte gelockt, weil ich wu?te, da? er schon einmal, in Ravenna, einen Versuch unternommen hatte, dich zu befreien. Es erschien mir deshalb plausibel, da? er es noch ein zweites Mal versuchen konnte. Die Tatsache, da? er das Madchen bei sich hatte, hat mich nicht so sehr erstaunt. Sie hatte ja seine Braut sein konnen. Viele Soldaten haben so ein Madchen, das sie nach Beendigung ihres Militardienstes normalerweise auch heiraten. Aber ich habe meine Meinung revidieren mussen: Offensichtlich ist sie es, die das Heft in der Hand hat, und folglich ist sie es auch, die uber das Geld verfugt, mit dem sie am Ende ausgezahlt werden.«
»Dann stimmt es also, was du gesagt hast ... Sie haben es wegen des Geldes getan.«
»Auch in diesem Fall mu?ten wir ihnen unbedingt dankbar sein. Aurelius hat recht: Niemand riskiert sein Leben nur um des Geldes willen, aber sicher hilft das Geld etwas nach. Es ist legitim, da? ein Mann versucht, seine eigenen Lebensverhaltnisse zu verbessern, vor allem in diesen Zeiten, und sie sind ja Versprengte, Soldaten, die kein Heer und keine Heimat mehr haben.«
»Warum hast du vorhin diese Sachen gesagt? Was konnte mir passieren, wenn ich nach Konstantinopel gehe?«
»Wahrscheinlich nichts. Du wurdest im Luxus leben, vielleicht sogar in allzu gro?em Luxus. Aber du bist immer noch der Kaiser des Westens, und dies birgt in diesen Gegenden auf jeden Fall Gefahren. Jemand konnte dich einfach gegen einen anderen ausspielen, wie man es mit einer Figur in einem Brettspiel tut, verstehst du? Derlei Figuren opfert man manchmal, ohne auch nur einen Augenblick daran zu denken, da? ein spaterer Zug einen dem Sieg vielleicht naher gebracht hatte. In einem solchen Fall ginge das leider immer auf deine Kosten. Konstantinopel ist eine korrupte Hauptstadt.«
»Sie sind also auch nicht besser als die Barbaren.«
»Auf dieser Welt hat alles seinen Preis, mein Kind: Wenn ein Volk eine hohe Stufe der Zivilisation erreicht, entwickelt es zugleich auch einen gewissen Grad an Korruption. Die Barbaren sind eben deswegen nicht korrupt, weil sie Barbaren sind. Aber auch sie werden bald die prachtigen Kleider, das Geld, die raffinierten Speisen, die Parfums, die schonen Frauen, die komfortablen Hauser schatzen lernen. Alle diese Dinge sind nicht gratis zu haben, ja, um sie zu bekommen, braucht man viel Geld, so viel, wie es einem nur die Korruption verschaffen kann. Auf jeden Fall gibt es keine Zivilisation ohne ein gewisses Ma? an Barbarei und keine Barbarei, die nicht auch ein paar Keime der Zivilisation in sich tragt. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja, ich glaube schon. Aber was fur eine Welt ist dann die, in der wir leben, Ambrosinus?«
»Die bestmogliche oder die schlechtestmogliche - je nachdem, von welcher Seite man sie betrachtet. Meiner Meinung nach ist aber die Zivilisation in jedem Fall der Barbarei bei weitem vorzuziehen.«
»Und was ist, deiner Meinung nach, die Zivilisation?«
»Zivilisation bedeutet Gesetze, politische Einrichtungen, Rechtssicherheit. Sie bedeutet Berufe und Gewerbe, Stra?en und Kommunikationsmoglichkeiten, Riten und Feste. Wissenschaft, aber auch Kunst, vor allem Kunst; Literatur, Poesie wie die von Vergil, die wir so oft zusammen gelesen haben - geistige Tatigkeiten, die uns Gott sehr ahnlich machen. Ein Barbar ahnelt dagegen viel eher einem Tier. Ich wei? nicht, ob ich mich klar genug ausgedruckt habe. Einer Zivilisation anzugehoren verleiht einem einen besonderen Stolz, den Stolz, an einem gro?en gemeinsamen Unternehmen mitzuwirken, dem gro?ten, das der Mensch uberhaupt durchfuhren kann.«
»Aber die unsrige, also unsere Zivilisation, meine ich, die ist doch gerade im Begriff unterzugehen, oder?«
»Ja«, antwortete Ambrosinus. Und er schwieg lange.
XIX
»Schon, nicht wahr?«
Bei diesen Worten fuhr Aurelius zusammen. Als Romulus hinter seinem Rucken aus dem Dunkel herausgetreten war, hatte er ihn dabei uberrascht, wie er das Schwert vor dem Feuer drehte und wendete, geradezu hypnotisiert von den blaulichen Reflexen der Klinge, die wie die Augen in den Schwanzfedern eines Pfaus schillerten.
»Verzeih mir«, antwortete er und reichte es ihm hinuber. »Ich habe vergessen, es dir zuruckzugeben. Es gehort dir.«
»Es ist besser, wenn du es vorlaufig behaltst. Bestimmt machst du besseren Gebrauch davon als ich.«
Aurelius war noch immer in seine Betrachtung versunken. »Diese Waffe ist unglaublich: Bei den vielen Hieben, die dieses Schwert versetzt und empfangen hat, ist kein einziger Zacken herausgebrochen, und es hat weder einen Fleck noch einen Kratzer abbekommen. Es scheint die Waffe eines Gottes zu sein.«
»In einem gewissen Sinne ist sie das auch, denn sie hat Julius Casar gehort. Hast du die Inschrift gesehen?«
Aurelius nickte und fuhr mit dein Finger an der Reihe von Buchstaben entlang, die in der Mitte der Klinge, in einer kaum erkennbaren Rille, eingeritzt waren. »Ich habe sie gesehen und wollte meinen Augen nicht trauen. Von ihm geht eine geheimnisvolle Kraft aus, die einem unter die Haut, in die Finger, in den Arm, ja bis ins Herz hineindringt ...«
»Ambrosinus sagt, da? es von den Chalybern geschmiedet wurde, und zwar aus einem einzigen Meteorit