sammelten, waren bisweilen zu sehen. Sie alle machten einen ruppigen, halbverwilderten Eindruck, hatten lange Barte und ungepflegtes Haar und trugen Schuhwerk aus Ziegenleder sowie lumpige Kleider voller Flicken, die sie nur durftig vor dem kalten Nordwind schutzten. Beim Vorbeiziehen der kleinen Karawane hielten sie inne, egal, was sie gerade taten, und starrten Aurelius und seinen Trupp stumm an. Bewaffnete Manner zu Pferde waren fur sie in jedem Fall bedeutende Leute, in der Lage, sich zu verteidigen oder anzugreifen, und schon allein deshalb furchtgebietend. Einmal sah Romulus eine Schar Jungen in seinem Alter und Madchen, die noch etwas junger waren; sie trugen gro?e Korbe auf dem Rucken, deren Last sie fast zu Boden druckte; keuchend und tief gebeugt stolperten sie dahin, ihre halbnackten Beine waren blau vor Kalte, ihre Nasen trieften, und ihre Lippen waren rissig von den eisigen Temperaturen und der schlechten Ernahrung. Einer von den Jungen fa?te sich ein Herz, stellte seinen Korb, der im Vergleich zu seiner schmachtigen Gestalt riesig wirkte, auf die Erde und kam mit ausgestreckter Hand auf Romulus zu.

»Konnen wir ihm etwas geben?« fragte Romulus, der mit Livia ritt.

»Nein«, erwiderte Livia. »Wenn wir das taten, hatten wir es talabwarts bald mit einem ganzen Schwarm zu tun, den wir nicht wieder los wurden. Auf die ein oder andere Weise wurden wir Aufmerksamkeit erregen, und das durfen wir auf keinen Fall.«

Romulus betrachtete den Jungen, seine bittend ausgestreckte Hand, den traurigen und enttauschten Ausdruck, den seine Augen annahmen, je weiter er sich entfernte. Spater blickte er zuruck und sah ihn an, wie um ihm begreiflich zu machen, da? er ihm gerne geholfen hatte, aber nicht konnte, aus Grunden, die nicht von ihm abhingen. Als er merkte, da? sie wieder in den Wald kamen, hob er die Hand und winkte. Der abgezehrte Junge erwiderte seinen Gru? mit einem wehmutigen Lacheln und winkte ihm seinerseits zu, dann nahm er seinen schweren Korb wieder auf und verschwand wankend im Gestrupp.

Livia schien in Romulus Gedanken zu lesen. »Im Leben mu? man oft Entscheidungen treffen, die einem im Grunde zuwider sind - das ist traurig, aber unvermeidlich. Wir leben in einer erbarmungslosen Welt, in der Willkur und Zufall regieren.«

Romulus antwortete nicht, und doch brachte ihm der Anblick dieses Elends zu Bewu?tsein, da? das Leben, das er bis vor wenigen Tagen auf Capri gefuhrt hatte, fur diese armen Kinder ein Segen des Himmels, der pure Luxus gewesen ware. Es gab also keine Not, die nicht noch hatte ubertroffen werden konnen.

Der kleine Bach, an dem sie entlang gezogen waren, hatte sich im Laufe der Tage in einen richtigen Flu? mit Wasserfallen und Stromschnellen verwandelt, der zwischen glattgeschliffenen Felsbrocken dahinsprudelte und am Ende in einen noch gro?eren Flu? mundete - den Metaurus, wie Ambrosinus ihnen erklarte. Die Temperaturen waren milder geworden, ein Zeichen dafur, da? das Meer immer naher ruckte und damit auch das Ziel ihrer Reise. Wie ihr Abenteuer letztendlich ausgehen wurde, konnte freilich auch jetzt noch niemand absehen. Der Wald lichtete sich immer mehr und wich zur Kuste hin zusehends Acker- und Weideland. Hin und wieder kamen sie an Dorfern vorbei, die zu meiden immer schwieriger wurde, manchmal kreuzten sie auch die Via Flaminia, und am Ende des letzten Marschtages kamen sie zu einer alten, verlassenen mansio, vor der ein ziemlich verrostetes Wirtshausschild baumelte; auch ein militarischer Markstein und der Brunnen, der die Viehtranken speiste, waren noch da. Bei den Tranken selbst handelte es sich um schone Troge aus Apenninsandstein, die ursprunglich den Pferden der Poststation gedient hatten und heute von durchziehenden Schafherden benutzt wurden, wie die vielen Abdrucke kleiner Spalthufe und die ringsum zerstreuten Kotklumpchen verrieten.

Livia naherte sich der Herberge als erste und zu Fu?, die Zugel ihres Pferdes Romulus uberlassend. Sie wollte sicherstellen, da? keine Gefahr lauerte; dazu ging sie an den Brunnen und tat, als schopfe sie Wasser. Erst als daraufhin nichts geschah, pfiff sie und lie? die andern nachkommen. Romulus band sein Pferd fest, betrat als einer der ersten das alte Gemauer und sah sich um: Auf den verputzten Wanden hatten sich Tausende von Gasten aus mehreren Jahrhunderten verewigt, viele mit obszonen Spruchen. Eine der Seitenwande wurde von einem Fresko geschmuckt - eine Landkarte, auf der Romulus Italien mit Sizilien, Sardinien, unten die afrikanische Kuste und oben die Kuste Illyriens erkannte; Meere, Flusse, Gebirge und Seen waren in den entsprechenden Farben abgebildet. Eine dicke, rote Linie stellte den cursuspublicus dar, das Stra?ennetz, das dem Imperium als Kommunikations- und Transportsystem einst zu Ehre und Ruhm gereicht hatte; neben samtlichen Raststationen waren auch die Entfernungen in Meilen eingezeichnet. Hoch oben prangte die verwitterte Uberschrift TABVLA IMPERII ROMANI; Wasserinfiltrationen hatten die Karte fast unleserlich gemacht. Romulus Blick fiel auf den Schriftzug CIVITAS RAVENNA; in einer Miniatur war die Stadt mit ihrer Mauer und ihren Turmen dargestellt, und den Knaben wurde einen Moment lang ganz kalt ums Herz. Schnell wandte er den Blick wieder ab und begegnete dem Aurelius, worauf jeder in den Augen des anderen die schrecklichen Erinnerungen las, die das kleine Bild bei ihnen wachrief: die fehlgeschlagene Flucht aus der Stadt, die Gefangenschaft, der Tod Flavia Serenas. Ambrosinus begann nach irgendwelchen nutzlichen Dingen herumzustobern, und als er in einem wackeligen alten Schrank zwei halbbeschriebene Pergamentrollen fand, machte er sich daran, eine der auf der Wandkarte eingezeichneten Wegstrecken abzuzeichnen.

Nacheinander kamen auch die anderen herein und begannen, ihre Decken auf dem Fu?boden auszubreiten. Demetrios, der etwas unterhalb des Hauses ein Stoppelfeld mit gro?en Strohhaufen gewahr wurde, ging etwas Stroh fur die Nacht holen. An der Oberflache der Haufen war es grau und faulig, darunter aber trotz der spaten Jahreszeit noch trocken und von einem schonen Gelb, das einem beim blo?en Hinsehen schon ein Gefuhl von Warme vermittelte. Eine Hecke aus Ahorn und Brombeerstrauchern begrenzte das Feld; durch einzelne Lucken konnte man die niedrige Gestruppvegetation erkennen, die sich dahinter bis an die flache Sandkuste erstreckte. Zu ihrer Linken war die Mundung des Metaurus zu sehen, dessen Lauf sie wahrend der letzten Marschtage durchs Landesinnere gefolgt waren. Nach Westen und Norden hin war alles dicht bewaldet. Vatrenus erkundete den Wald zu Pferde, um sicherzugehen, da? er keine Gefahren barg, und entdeckte unweit der Stelle, wo der Wald im Norden an das Getreidefeld angrenzte, mehrere Stapel Eichen- und Fichtenstamme, die mit Seilen aus geflochtenem Flachs an Pfahlen befestigt waren. Es mu?te in dieser Gegend also Holzfaller geben, die vom Brennholzhandel mit den Kustenbewohnern lebten.

In der Ferne konnte man das Meer erkennen, es war leicht vom Nordwind gekrauselt, aber nicht bewegt, und die Wetterverhaltnisse lie?en hoffen, da? das Schiff ohne gro?ere Probleme durchkommen wurde. Ambrosinus wollte den Mannern, die sie unter Einsatz ihres Lebens befreit und hierhergefuhrt hatten, unbedingt noch einmal seine Dankbarkeit beweisen, und so bereitete er zur gegebenen Zeit liebevoll ein Abendessen fur alle zu. Wurzeln und Krauter, die er in der Nahe gesammelt hatte, verfeinerten es, ja, es gelang ihm sogar, ein wenig Obst aufzutreiben - wilde Apfel, die an einem fast schon kahlen Baum im ehemaligen Obstgarten der Poststation hingen. Er entfachte im alten Kamin ein Feuer, und obwohl die kaputte Decke an mehreren Stellen Ausblick auf die Sterne bot, schufen der Feuerschein und das Knistern der Flammen eine Atmosphare der Heiterkeit und Vertrautheit, von der die Trauer uber die bevorstehende Trennung wenigstens vorubergehend zuruckgedrangt wurde.

Keiner erwahnte, da? Romulus am nachsten Morgen abreisen und sie moglicherweise fur immer verlassen wurde, da? der kleine Kaiser einem dunklen Schicksal auf der anderen Seite der Welt entgegenging, in einer riesigen, unbekannten Gro?stadt mit den Ranken und Gefahren eines korrupten, blutrunstigen Hofes. Aber es war klar, da? alle daran dachten; man merkte es an den fluchtigen Seitenblicken, die sie ab und zu auf den Jungen warfen, an den mehrdeutigen Worten und Satzen, die ihnen immer wieder herausrutschten, an ihren rauhen, aber liebevollen Beruhrungen, wenn sie wie zufallig an ihm vorbeigingen.

Aurelius wahlte fur sich die erste Nachtwache, setzte sich neben den Tranken auf den Boden und spahte auf das mittlerweile bleifarbene Meer hinaus. Livia trat von hinten an ihn heran.

»Armer Junge«, sagte sie. »Er hat all diese Tage versucht, sich uns anzunahern, vor allem dir und mir, aber wir haben es nicht zugelassen.«

»Das hatte die Sache nur noch schlimmer gemacht«, erwiderte Aurelius, ohne sich umzudrehen.

Ein Schwarm Reiher flog in der Dunkelheit voruber, und ihre Schreie regneten wie die Klagelieder Vertriebener aus dem nachtschwarzen Himmel.

»Sie werden noch vor ihm am Bosporus sein«, sagte Livia.

»Mit Sicherheit.«

»Das Schiff mu?te kurz vor Sonnenaufgang eintreffen. Sie werden den Jungen an Bord nehmen und uns die vereinbarte Belohnung auszahlen. Viel Geld ... Damit konnt ihr ein neues Leben beginnen, euch Landereien kaufen, Diener leisten. Ihr habt es auch verdient.«

Aurelius erwiderte nichts.

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