»Woran denkst du?« fragte Livia.

»Wer sagt, da? das Schiff punktlich kommt? Es konnte Verspatung haben, sogar mehrere Tage.«

»Ist das eine Befurchtung oder ein Wunsch?«

Aurelius lauschte eine Weile stumm dem Gesang der Reiher, die in der Ferne entschwanden. Dann seufzte er. »Es ist das erste Mal in meinem Leben, da? ich so etwas wie eine Familie hatte. Und morgen ist alles wieder vorbei. Romulus zieht seiner Wege, und du ...«

»Und ich auch«, sagte Livia plotzlich mit resoluter Stimme. »Wir leben in harten Zeiten, wir mussen machtlos mit ansehen, wie unsere Welt in die Bruche geht. Jeder von uns mu? nach einem Sinn fur sein Leben suchen, nach irgend etwas, das ihm die Kraft gibt, all dies zu uberstehen.«

»Willst du deshalb in deine Lagune zuruck? Mochtest du nicht lieber ...«

»Was?«

»Mit uns kommen ... mit mir.«

»Wohin? Ich hab es dir bereits gesagt: In dieser Lagune bluht eine neue Hoffnung auf. Venetia ist meine Heimat, so seltsam es dir erscheinen mag - ein paar armliche Hutten, errichtet von einer Handvoll Verzweifelter, die aus ihren zerstorten Stadten geflohen sind.« Aurelius zuckte bei diesen Worten kaum merklich zusammen. »Ich bin sicher, da? es sich bald zu einer richtigen Stadt entwickeln wird«, fuhr Livia fort. »Aber wir brauchen Verteidigungsanlagen, wir mussen erste Schiffe bewaffnen, weitere Hauser fur Neuankommlinge bauen. Dafur will ich meinen Teil des Geldes einsetzen, das wir morgen bekommen. Schlie? dich uns mit deinen Gefahrten doch an! Doch, warum nicht? Wir brauchen Manner wie euch. In Venetia wird die Seele unserer niedergebrannten und dem Erdboden gleichgemachten Stadte wiederauferstehen: Altinum, Concor-dia ... Aquileia!«

»Warum fahrst du fort, mich mit diesem Namen zu qualen?« erwiderte Aurelius. »Warum la?t du mich nicht in Frieden?«

Livia kniete sich vor ihn nieder und sah ihn mit fiebrigen Augen an. »Weil ich dir vielleicht die Vergangenheit zuruckgeben kann, die aus deinem Gedachtnis geloscht wurde oder die du selbst, willentlich, daraus geloscht hast. Ja, das war mir klar, seit ich dich das erste Mal sah. Ich merkte es daran, wie du das hier angestarrt hast, auch wenn du es weiterhin ableugnest.« Sie griff nach dem Medaillon, das sie um den Hals trug, und hielt es ihm hin, als handle es sich um eine heilige Reliquie, die ihn von einer mysteriosen Krankheit heilen konne. Ihre Augen glanzten dabei vor Leidenschaft und Tranen. Aurelius spurte, wie ihm das Blut in den Kopf scho?; ein ubermachtiges Gefuhl, ein brennender Wunsch, den er die ganze Zeit uber vergeblich zu unterdrucken versucht hatte, ergriff Besitz von ihm. Er spurte, wie sich ihre Lippen auf die seinen legten und ihr Atem mit seinem verschmolz in einem hei?en, unerwarteten Ku?, den er so lange ersehnt und kaum noch zu erhoffen gewagt hatte. Er umschlang und ku?te sie, wie er noch keine Frau in seinem Leben geku?t hatte, inbrunstig und zartlich zugleich, und auch Livia umfing seinen Hals mit den Armen und druckte sich, ohne die Lippen von seinen Lippen zu losen, mit jeder Faser ihres Korpers an ihn, mit ihren festen Brusten, dem straffen Bauch, den sehnigen Beinen. Er legte sie auf seinen am Boden ausgebreiteten Umhang und nahm sie, einfach so, auf dem trockenen Gras mit dem Geruch der Erde, der sich mit dem Duft ihrer Haare verwob. Danach blieb er lange in ihr, um die Intimitat, die ihm das Herz erfullte und von der er gewollt hatte, da? sie ewig dauerte, so lange wie moglich hinauszuziehen. Spater hullte er sie in seinen Mantel, legte sich neben sie, druckte sie an sich und geno? die Warme ihres Korpers und den Geruch ihrer Haut.

Irgendwann verabschiedete Livia sich mit einem Ku? von ihm. »Es war schon«, sagte sie, »und es ware noch schoner, wenn es eine Zukunft gabe, aber bald trifft das Schiff ein. Mit dem neuen Tag wird alles wieder anders aussehen, noch schwieriger und noch anstrengender als bisher. Du wirst deinen Gefahrten folgen, weiter vor deinem verlorenen Gedachtnis fliehen, und ich werde in meine Lagune zuruckkehren. Was uns bleibt, ist das Andenken an diese Tage, an diesen Moment der Liebe, den wir der letzten Nacht abgerungen haben; die Erinnerung an dieses phantastische Abenteuer, an diesen lieben, unglucklichen Jungen, den wir ins Herz geschlossen haben, ohne den Mut zu besitzen, es ihm zu gestehen. Vielleicht ringst du dich eines Tages dazu durch, mir nachzukommen, und dann werde ich dich mit gro?er Freude empfangen, wenn es nicht zu spat ist; vielleicht sehen wir uns auch niemals wieder, weil die Wirren des Lebens dich irgendwohin, weit weg verschlagen. Leb wohl, Aurelius, mogen deine Gotter dich beschutzen.«

Mit diesen Worten stand sie auf und ging wieder in das alte, halbzerfallene Gebaude. Aurelius blieb allein in der dunklen Nacht zuruck und lauschte der Stimme des Windes und dem Gesang der Reiher, der die Finsternis durchdrang.

XXI

Aus einem Weidengebusch nahe dem Flu? hallte mehrmals der Ruf eines Kauzchens herauf, dann begann ein Stuck weiter unten, bei der Brucke, ein kleines Licht hin und her zu tanzen. Livia, die sich jetzt wieder in der mansio befand, doste, neben einer breiten Mauerbresche an die Wand gelehnt, vor sich hin. Von den Kauzchenrufen geweckt, erhob sie sich lautlos und glitt durch die Wandoffnung nach drau?en. Aurelius, der seinen Nachtwachenturnus inzwischen beendet hatte, schlief in seine Decke gewickelt auf der gegenuberliegenden Seite des Raumes. Drau?en wachte jetzt Demetrios. An seinen Schild gelehnt hockte er auf der Erde und suchte vermutlich die Kustenlinie mit den Augen ab, in der Hoffnung, das Schiff zu sichten, auf das alle warteten. Livia bog um die Sudecke des Gebaudes, huschte zum ruckwartigen Gatter und band ihr Pferd los, wobei sie ihm eine Hand auf die Nustern legte, damit es sie nicht verriet. Juba, der in der Nahe angebunden war, schien sie gar nicht zu bemerken, vielleicht lie? er sich auch durch ihren vertrauten Geruch nicht in seiner Nachtruhe storen.

Livia wandte sich nach Westen und durchquerte zu Fu? die Senkung hinter dem Haus, dann bog sie nach rechts zum Flu?tal ab. Dort stieg sie auf. Im Schutz der dichten Uferbewachsung konnte sie ungesehen bis zur Brucke oder auch bis zum Meer reiten.

Unterdessen gab es jedoch jemanden im »Schlafsaal« der mansio, dem ihr Verschwinden nicht entgangen war: Ambrosinus hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan; sein Entschlu? stand fest. Er beugte sich uber Romulus und ruttelte ihn behutsam wach.

»Pscht!« zischte er ihm leise ins Ohr.

»Was gibt's?« fragte Romulus noch leiser.

»Wir verschwinden. Jetzt, sofort. Livia ist rausgegangen, vielleicht ist das Schiff angekommen.«

Romulus umarmte ihn fest, und der weise Lehrer spurte in seiner Umarmung die Dankbarkeit des Jungen fur diese unverhoffte Fluchtmoglichkeit, spurte seinen ganzen Freiheitsdrang, den Wunsch, diese uble Welt hinter sich zu lassen, die ihm nur Trauer und Leid bereitet hatte. Flusternd ermahnte er ihn: »Pa? auf, da? das Stroh nicht raschelt, wenn du aufstehst; wir mussen uns wie Schatten bewegen.« Dann schlich er ihm voraus zu der kleinen Tur, die auf den Gemusegarten hinter dem Haus hinausging. Romulus sah sich um, wartete, da? Batiatus lautes Schnarchen seinen Hohepunkt erreichte, dann machte auch er sich auf und folgte seinem Lehrer auf Zehenspitzen. Bald waren sie beide drau?en. Zu ihrer Linken scharrten die Pferde nervos mit den Hufen. Juba schwenkte mehrmals den stolzen Kopf und blies Dampfwolken aus den Nustern. Ambrosinus hielt erschrocken inne und bedeutete Romulus, sich flach an die Hauswand zu drucken.

»Geben wir ihm Zeit, sich zu beruhigen«, sagte er, »dann tauchen wir in den Wald ein, verstecken uns an einem sicheren Ort und warten, bis sich die erste Aufregung gelegt hat. Danach nehmen wir unsere Reise wieder auf, aber alleine, nur du und ich.«

»Aber wenn ich fliehe, bekommen Aurelius und seine Freunde ihre Belohnung nicht - dann haben sie sich umsonst abgemuht und ihr Leben riskiert.«

»Pscht!« flusterte Ambrosinus. »Das ist wahrhaftig nicht der richtige Moment fur Skrupel. Sie werden sich schon irgendwie zu helfen wissen.«

Aber die Pferde wurden, anstatt sich zu beruhigen, nur immer nervoser, bis Juba sich gar aufbaumte und unter lautem Wiehern mit den Vorderhufen gegen die Hauswand schlug.

»Nichts wie weg, los, komm! Dieses Vieh weckt noch alle auf«, zischte Ambrosinus und packte den Jungen am Arm. Aber in diesem Moment gruben sich ihm die Finger einer Hand in die Schulter und hielten ihn fest. »Stehenbleiben!«

»Aurelius«, sagte Ambrosinus, der die Stimme erkannt hatte. »La? uns gehen, ich flehe dich an. Wenn du diesen Jungen nur ein bi?chen gern hast, schenk ihm die Freiheit. Er hat schon genug gelitten ... La? ihn frei.« Aber Aurelius starrte, ohne seinen eisernen Griff zu lockern, in eine andere Richtung.

»Du wei?t nicht, was du sagst«, erwiderte er. »Schau mal dort ruber, zu den Baumen.«

Ambrosinus blickte angestrengt in die Richtung, in die Aurelius mit dem Finger wies, und gewahrte ein

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