eintauchte. »Hier entlang«, sagte sie, schob die Kletterpflanzen beiseite und legte den Zugang zu einer Art Stollen frei, der in den Sandstein des Hugels gehauen war. Die Gefahrten folgten ihr einer nach dem andern, bis Orosius die Schlingpflanzen hinter ihnen wieder so anordnete, da? der Eingang vollkommen getarnt war. Als er sich nach den andern umdrehte, sah er, da? alle sich mit gro?en Augen umsahen. Das Sonnenlicht, das gedampft durch das dichte Blattwerk drang, erhellte eine Art Hohle.

»Wir befinden uns hier in einem alten Mithraum, das seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt wird. Fruher diente es den orientalischen Seeleuten, die in Fano an Land gingen«, erklarte Livia ihnen. »Ich habe es nur ein einziges Mal als Unterschlupf benutzt - ein Wunder, da? ich es wiedergefunden habe. Gott mu? wirklich mit uns sein, er weist uns den Weg der Rettung.«

»Wenn dein Gott mit uns ist, hat er eine seltsame Art es zu zeigen«, brummte Vatrenus. »Mir ware es ehrlich gesagt lieber, er kummerte sich in Zukunft um andere.«

Livia uberhorte seine Bemerkung. »Fuhrt alle Pferde nach hinten und versucht sie ruhig zu halten. Unsere Verfolger konnen jeden Augenblick hiersein, und diesmal ist es wirklich aus, wenn sie uns entdecken.«

Sie hatte kaum ausgesprochen, als von der Stra?e her Hufgetrappel zu vernehmen war. Livia ging zum Eingang und spahte nach drau?en. Da erschein auch schon, an der Spitze seiner Manner, Wulfila - doch er jagte an der Hohle vorbei! Sie atmete erleichtert auf und wollte ihren Gefahrten bereits ein Zeichen geben, da? die Gefahr voruber sei, doch sie hatte sich zu fruh gefreut. Der laute Galopp verstummte plotzlich, und statt dessen horte man jetzt den Hufschlag langsam trottender Pferde, die zuruckkamen. Livia gebot ihren Leuten absolute Stille und blickte weiter hinaus, wahrend Aurelius Batiatus die Zugel seines Pferdes ubergab und neben sie trat.

Wulfila befand sich jetzt hochstens zwanzig Schritte vom Hohleneingang entfernt, Kopf, Schultern und Rumpf uberragten das dichte Gestrupp, unter dem sich die alte Stra?e verbarg. Er war wahrhaft furchterregend anzusehen: die scheu?liche Narbe im ru?geschwarzten Gesicht, die geroteten Augen, mit denen er umherspahte wie ein Beute witternder Wolf. Hinter ihm kamen seine Manner; in facherformiger Formation durchkammten sie den Wald ringsum und suchten den Boden nach Spuren ab. Im Inneren der Hohle hielten alle den Atem an; jeder spurte die drohende Gefahr und umklammerte sein Schwert, wie immer bereit, sich in ein Gefecht auf Leben und Tod zu sturzen, ohne lange nach dem Grund zu fragen.

Der Barbarentrupp zerstreute sich in der Umgebung auf der Suche nach weiteren, moglichen Fluchtwegen, doch als Wulfila merkte, da? dies nichts brachte, scharte er seine Leute wieder um sich und zog ab.

Livia atmete horbar auf und drehte sich nach den anderen um. »Ich habe vor Sonnenaufgang Stephanus getroffen«, berichtete sie. »Er sagte mir, da? Antemius uns verkauft hat. Ich werde deshalb das Geld, das ich euch versprochen hatte, nicht bekommen - wenigstens fur den Moment.«

Ambrosinus machte einen Schritt auf sie zu. »Aber ... ich verstehe nicht.«

»Ganz einfach«, erwiderte Livia. »Kaiser Zenon hat Basiliskos entmachtet und das Zepter des Ostreichs wieder an sich gerissen; jetzt liegt ihm an guten Beziehungen zu Odoaker. Vielleicht hat er von unserem Abkommen mit Antemius erfahren, der - solcherma?en entlarvt - keine andere Wahl hatte, als Romulus den neuen Machtverhaltnissen zu opfern.«

»Und was machen wir jetzt mit dem Jungen?« fragte Vatrenus.

»Wir konnten ihn mitnehmen«, erwiderte Aurelius. »Einen Moment ...«, hob Livia an, doch Demetrios unterbrach sie.

»Mitnehmen wohin? Odoaker wird uns gnadenlos jagen, und mu?te er seinen letzten Mann dafur aufbieten. Machen wir uns nichts vor: Da? die Barbaren abgezogen sind, hei?t gar nichts. Sie werden wiederkehren, wenn wir am wenigsten mit ihnen rechnen -und blutige Rache uben, das sollte jedem von uns klar sein.«

»So, und was schlagst du vor zu tun?« fragte Aurelius. »Mit den Barbaren einen Preis aushandeln und den Jungen selbst ausliefern?«

»He, Moment mal!« warf Batiatus dazwischen. »Konnte mir freundlicherweise jemand erklaren ...«

»Wenn ihr mich endlich ausreden lie?et ...«, versuchte Livia es noch einmal.

Romulus sah sich bekummert um, wieder einmal stand er im Mittelpunkt von Diskussion und Streit, ohne da? man ihn als Menschen im geringsten berucksichtigte; wieder einmal lag sein Schicksal in den Handen anderer. Jetzt, wo es keine Belohnung mehr einzustreichen gab, war er fur diese Leute nur noch eine unbequeme Last. Aurelius ahnte, wie ihm zumute war, er las die Betroffenheit und Demutigung in seinen Augen und versuchte einzulenken: »Hor zu, wir mochten nicht ...« Doch Ambrosinus unterbrach ihn mit einer

Stimme, die noch nie so zornig und entrustet geklungen hatte wie jetzt: »Schlu?!« rief er aus. »Jetzt horst du mir mal zu, und ihr alle! Ich kam vor vielen Jahren aus Britannien in dieses Land, um mit einer Abordnung weiterer Gesandter beim Kaiser vorzusprechen. Wir wollten ihn um Hilfe fur unserer Inselvolk bitten, das von einem grausamen Tyrannen unterdruckt und geschunden wurde; Plunderungen und Ubergriffe von barbarischer Brutalitat waren unser tagliches Brot. Unterwegs habe ich alle Gefahrten verloren; wer nicht erfror, starb an einer Krankheit oder durch die Hand eines Briganten. Ich kam ganz alleine an und wurde noch nicht einmal empfangen, weil der Kaiser eine willenlose Marionette in den Handen anderer Barbaren war - er wollte mich nicht einmal anhoren. Binnen Kurze war ich vollig mittellos. Da? ich uberlebt habe, verdanke ich einzig meinen Kenntnissen der Medizin und Alchemie. Bis ich schlie?lich Erzieher dieses Jungen wurde. In guten und in schlechten Zeiten war ich an seiner Seite, in Momenten der Freude und in Momenten der Verzweiflung, der Erniedrigung, der Gefangenschaft. Und glaubt mir: Ich kenne keinen anderen Menschen, der so mutig, edel und mitfuhlend ist wie er.« Alle lauschten beeindruckt dem leidenschaftlichen Vortrag des Ambrosinus, der Romulus an diesem Punkt eine Hand auf die Schulter legte und ihn in den Mittelpunkt des Kreises schob, bevor er die Stimme senkte und feierlich fortfuhr: »Romulus, der Augenblick ist gekommen. Ich bitte dich, das Flehen deiner Untertanen in Britannien, die seit Jahren wehrlos ihrem Schicksal ausgeliefert sind, zu erhoren; ich bitte dich, weitere Gefahren und Entbehrungen auf dich zu nehmen und ihnen zu Hilfe zu eilen - mit oder ohne Unterstutzung dieser Manner.«

Die Umstehenden starrten Ambrosinus mit offenem Mund an, dann blickten sie sich gegenseitig an, als trauten sie ihren Ohren nicht.

»Ich wei?, was ihr denkt, ich lese es in euren Gesichtern«, fuhr Ambrosinus an sie gewandt fort. »Ihr denkt, ich hatte den Verstand verloren, aber ihr irrt euch. Jetzt, wo ihr daran gehindert seid, eure Mission erfolgreich abzuschlie?en und das versprochene Losegeld einzustreichen, habt ihr nur zwei Alternativen: Ihr konnt Romulus Augustus seinen Feinden ausliefern und moglicherweise ein noch hoheres Losegeld herausschlagen als das ursprunglich vereinbarte; ihr konnt euren Kaiser verraten und euch damit eines infamen Verbrechens schuldig machen, aber ich wei?, da? ihr das nicht tun werdet. In der kurzen Zeit unseres Zusammenseins hatte ich Gelegenheit, euch kennenzulernen, und dabei habe ich entdeckt, da? Mut, Tapferkeit und Treue, die totgeglaubten Werte eines echten romischen Soldaten, fur euch nach wie vor Gultigkeit besitzen.« Ambrosinus rausperte sich kurz, bevor er fortfuhr. »Die andere Moglichkeit ware, uns die Freiheit zu geben und gehen zu lassen.« Sein Blick richtete sich auf den Knauf des Schwerts, das Aurelius umgehangt hatte. »Dieses Schwert wird unser Talisman sein und unser Fuhrer die alte Prophezeiung, die nur er und ich kennen.«

In der gro?en Hohle war Stille eingetreten. Alle waren zutiefst beeindruckt von den Worten des weisen Mannes, von der Wurde und dem Mut des kleinen Herrschers ohne Reich und ohne Heer.

»Ich komme mit dir, Ambrosinus«, sagte Romulus, »wo immer du mich auch hinfuhren willst - mit diesem Schwert oder ohne es. Gott wird uns zur Seite stehen.« Mit diesen Worten nahm er seinen Lehrer bei der Hand und schickte sich an, die Hohle zu verlassen.

Aurelius versperrte ihnen den Weg. »Und wie wollt ihr so weit in den Norden hinaufkommen, wenn ich fragen darf?«

»Zu Fu?«, erwiderte Ambrosinus lakonisch.

»Zu Fu?«, wiederholte Aurelius, wie um sicherzugehen, da? er richtig gehort hatte.

»Jawohl.«

»Und wenn ihr mal da seid«, meinte Vatrenus sarkastisch, »vorausgesetzt, ihr kommt je an, wie wollt ihr dann bitte schon diesen grausamen Tyrannen bekampfen, von dem du vorher gesprochen hast, ihr beide ganz allein, ein alter Mann und ein ...«

»Kind«, vervollstandigte Romulus seinen Satz. »Das ist es doch, was du sagen wolltest, nicht? Nun, auch Iulus, der Sohn des Ae-neas, war noch ein Kind, als er das brennende Troja verlie? und nach Italien kam. Und doch grundete er die gro?te Nation aller Zeiten. Ich besitze nichts, was ich euch geben konnte - weder Guter noch Geld, noch Land, das ich euch zur Belohnung schenken konnte. Ich kann euch nur danken fur alles, was ihr fur mich getan habt. Ich kann euch nur sagen, da? ich euch nie vergessen und immer im Herzen tragen werde, und sollte ich hundert Jahre alt werden ...« Seine Stimme zitterte vor Ergriffenheit. »Du, Aurelius, und du, Vatrenus,

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