konfuses Gewimmel bedrohlich wirkender Schatten. Sein Herz stockte.
»Oh, gutiger Gott ...«, murmelte er.
Livia war unterdessen fast bei der Brucke angelangt und konnte im schwachen Licht der Morgendammerung eine Gestalt erkennen, die aufrecht hinter einem Tamanskenstrauch stand und eine Laterne in der Hand hielt. Wenige Schritte entfernt, hinter einem Weidenbusch, war ein Pferd angebunden. Livia trieb ihr Pferd an und naherte sich der Gestalt, bis sie sie erkannte. »Stephanus.«
»Livia«, erwiderte der Mann, als er ihre Stimme horte.
»Wir haben den schwierigen Weg durch die Walder genommen«, erklarte sie ihm, »aber wir waren punktlich, wie du siehst. Auch sonst ist alles in Ordnung. Der Junge und sein Lehrer sind wohlauf, die Manner haben sich fabelhaft verhalten. Doch wo ist das Schiff? Es hatte doch schon gestern abend hiersein sollen, und jetzt ist es bald hell. Bei Tageslicht an Bord zu gehen, scheint mir ziemlich riskant, und auch dein Zeichen mit der Laterne - jeder hatte es sehen konnen ...«
Stephanus unterbrach sie mit einer Geste. »Das Schiff kommt nicht mehr.«
»Wie bitte?«
»Du hast leider richtig gehort: Das Schiff kommt nicht mehr.«
»Warum? Ist es angegriffen oder gar versenkt worden?«
»Nichts dergleichen. Es haben sich nur schlicht und einfach die Dinge geandert.«
»He, hor mal, was soll das? Meine Manner und ich haben unser Leben riskiert ...«
»Beruhige dich, Livia, bitte, es ist nicht meine Schuld: Zenon hat den von Basiliskos usurpierten Thron zuruckerobert, doch er braucht Frieden, um seine Macht zu festigen. Er kann sich Odoaker nicht zum Feind machen, abgesehen davon, da? sein Anwarter fur den Thron des Westreichs schon immer Julius Nepos war, das wei?t du.«
Livia kam schlagartig die todliche Gefahr zu Bewu?tsein, die diese absurde Situation fur sie alle darstellte. »Wei? Antemius von dieser Geschichte?« fragte sie immer betroffener.
»Gewi?, aber seine Hande sind gebunden.«
»Verflucht noch mal! Soll das hei?en, er verurteilt den Jungen zum Tode?«
»Nein. Und das ist der Grund, weshalb ich hier bin. Ich habe ein kleines Stuck nordlich von hier, an der Flu?mundung, ein Schiff liegen. Damit konnen wir zu meiner Villa in Rimini gelangen, wo ihr alle sicher seid. Aber ihr mu?t euch beeilen; hier ist es viel zu gefahrlich.«
Livia stieg auf ihr Pferd. »Ich rufe die anderen«, erwiderte sie und wollte lospreschen.
»Nein, warte!« schrie Stephanus plotzlich. »Sieh nur, dort oben!«
Livia spahte zu dem Hugel hinauf und gewahrte eine Schar Barbarenkrieger, die von Suden kommend das kleine Gebaude umstellten, wahrend hinter ihnen weitere Krieger aus dem Unterholz brachen. Stephanus versuchte noch einmal, sie zuruckzuhalten. »Warte, sie bringen dich um!« Aber er stolperte, sturzte, und seine Laterne zerschellte am Boden. Livia betrachtete den brennenden Olfleck, dann das Stoppelfeld mit den Strohhaufen und zogerte keinen Augenblick. Sie zog ihren Bogen aus dem Sattelhalfter, entzundete einen Pfeil und scho? ihn in hohem Bogen in einen der Strohhaufen, dann noch einen und noch einen, bis von allen Haufen dichte Rauchwolken aufstiegen.
»Du bist verruckt«, sagte Stephanus, der inzwischen wieder aufgestanden war. »Das schaffst du nie.«
»Wart's ab«, erwiderte Livia.
»Ich kann nicht langer bleiben, ich mu? zuruck«, sagte Stephanus, sichtlich beunruhigt. »Versuche deine Haut zu retten und komm zu mir nach Rimini. Ich warte auf dich!«
Livia nickte fluchtig mit dem Kopf und galoppierte auch schon durch das Flu?tal zuruck in Richtung Hugel.
Die Barbaren merkten zunachst nichts, da sie sich vollig auf die Umzingelung der alten
Ringsum herrschte eine geradezu unwirkliche Stille, die Stille, die sich uber die Natur senkt, wenn die Stimmen der Nachttiere verstummen und die Vogel es noch nicht wagen, mit ihrem Lied die Sonne zu begru?en, die Stille an der Grenze zwischen der Finsternis der Nacht und dem ersten Morgenrot. Nur das verrostete Wirtshausschild quietschte klaglich in der fruhen Meeresbrise. Wulfila gab das Zeichen, indem er die erhobene Linke nach unten ri?. Mit gezuckten Waffen drangen seine Krieger in das halbzerfallene Gebaude ein und stachen im Dammerlicht auf die Schlafenden ein. Doch bald schon erhob sich ein Chor enttauschter Fluche: Unter den Decken war nichts als Stroh - die Gaste waren fort.
»Sucht sie!« schrie Wulfila. »Sie mussen noch in der Nahe sein. Sucht ihre Spuren, sie haben Pferde!« Seine Manner sturzten larmend nach drau?en, doch beim Anblick des lichterloh brennenden Stoppelfelds verstummten sie jah. Livia, die unten im Flu?tal ritt, war nicht mehr zu sehen, und so kam es ihnen vor, als gehe es hier nicht mit rechten Dingen zu.
»Was zum Teufel ist hier los?« polterte Wulfila fassungslos. »Das mussen sie gewesen sein, verdammt noch mal! Sucht sie, sucht sie! Sie sind hier in der Nahe!«
Seine Krieger gehorchten und zerstreuten sich, um das umliegende Gelande nach Spuren abzusuchen, bis einer von ihnen das Gesuchte fand: Menschen- und Tierspuren, die zum Wald fuhrten. »Hier entlang!« schrie er. »Sie sind hier in den Wald eingedrungen.«
Alle rannten zu ihren Pferden, um in den Wald zu preschen, aber Livia, die ahnte, was sie vorhatten, gab ihrem Pferd die Sporen, erklomm die Uferboschung und trat aus der Deckung, um die Aufmerksamkeit der Barbaren auf sich zu lenken. Ein weiterer ihrer Brandpfeile traf sein Ziel und entzundete es, ein anderer schwirrte pfeifend durch die Luft und totete einen der Feinde. Im gleichen Moment schrie sie: »Hierher, Bastarde! Los, versucht mich zu kriegen!« Und mit diesen Worten begann sie auf halber Hohe inmitten der dichten Rauchschwaden hin und her zu reiten, um immer wieder unerwartet aufzutauchen und einen ihrer todlichen Pfeile abzuschie?en.
Auf ein Zeichen Wulfilas trennten sich drei Krieger von der Gruppe und jagten auf Livia zu, wahrend sich das Feuer, vom Wind genahrt, immer weiter ausbreitete und das Stoppelfeld in ein einziges Flammenmeer verwandelte. Livia scho? einen ihrer Verfolger mit dem Bogen ab, wich dem zweiten aus und sturzte sich mit dem Schwert auf den dritten, der unter morderischem Gebrull auf sie zusturmte. Es gelang ihr, ihn mit einer Finte aus dem Gleichgewicht zu bringen und dann mit der Flanke ihres Pferdes so heftig zu rammen, da? er absturzte, direkt in die Flammen rollte und sich im Nu in eine menschliche Fackel verwandelte. Seine Schmerzens-schreie gingen bald im Brausen des alles verschlingenden Feuers unter. Livia durchquerte das Inferno in rasendem Galopp und ritt auf den Waldrand zu. Mit dem gezuckten Schwert und den fliegenden Haaren erschien sie ihren Gefahrten wie eine antike Kriegsgottin.
»Weg von hier!« schrie sie. »Man hat uns verraten! Mir nach, schnell! Sie sind jeden Augenblick hier!«
»Vorher wollen wir ihnen aber noch einen Denkzettel verpassen«, entgegnete Aurelius und gab seinen Mannern, die hinter den von Vatrenus am Vorabend entdeckten Baumstammen standen, ein Zeichen, worauf diese mit Axten und Schwertern die Seile aus Flachs durchtrennten, mit denen die Stapel befestigt waren. Dann schob Batiatus die Stamme an, bis sie den Hang hinunterzurollen begannen. Die dicken Holzer gewannen rasch an Geschwindigkeit; mit furchterlichem Getose polterten sie uber das unebene Gelande und saten Panik und Tod unter den Kriegern Wulfilas, die zum Wald emporzuklimmen versuchten; andere rollten mitten in die brennenden Strohhaufen, so da? diese wie riesige Feuerballe explodierten und die Funken nur so stoben.
»Und jetzt los!« schrie Aurelius, sa? auf und zog Romulus zu sich hoch. Dann sprengten sie Livia hinterher, die offenbar eine Idee hatte, wohin sie sie fuhren konnte. In gestrecktem Galopp schlugen sie einen vollig uberwucherten Weg ein und gelangten wenig spater erneut auf eine alte Abzweigung der Via Popilia, jetzt wenig mehr als ein Trampelpfad, der sich zwischen Brombeerstrauchern und Eichenbuschen verlor. Livia schwang sich aus dem Sattel und deutete auf eine schmale Offnung im Unterholz, die sich ein kleines Stuck hangaufwarts befand. »Absteigen, die Pferde an den Zugeln fuhren und mir nach«, befahl sie. »Der letzte verwischt die Spuren.«
Orosius erbot sich, diese Aufgabe zu ubernehmen; er schnitt ein paar Zweige ab, bundelte sie und verwischte damit, ruckwartsgehend, die Spuren von Mensch und Tier. Livia hatte unterdessen das Dickicht, das ihnen den Weg versperrte, umgangen und war vor einem kleinen Hugel stehengeblieben, der uber und uber mit Efeu und Schlingpflanzen bedeckt war.
Sie tastete die Hugelwand mit der Spitze ihres Bogens ab, bis dieser ganz in den grunen Vorhang