kleinen, dreizehnjahrigen Jungen bedroht, der jetzt frei, beschutzt und unauffindbar war. Wider willen mu?te er an Romulus Racheschwur neben dem Leichnam seiner Mutter, unten, in der Krypta der Basilika, denken. »Und was sollen wir jetzt deiner Ansicht nach tun?« fragte er Wulfila argerlich.

»Ich habe bereits erste Ma?nahmen ergriffen«, erwiderte Wulfila. »Unter anderem habe ich den Jungen auf Capri durch einen Doppelganger ersetzen lassen - er ist genauso alt wie er, sieht ahnlich aus, tragt dieselben Kleider und wohnt am selben Ort, hat aber ausschlie?lich Umgang mit ein paar von meinen engsten Vertrauten. Alle anderen bekommen ihn nur aus der Ferne zu sehen. Innerhalb kurzer Zeit werde ich die ganze Dienerschaft und samtliche Wachter ersetzen lassen so da? die Neuen keine Vergleichsmoglichkeit haben und glauben, sie hatten es mit dem richtigen Romulus Au-gustus zu tun.«

»Ein scharfsinniger Plan, den ich dir schwerlich zugetraut hatte. Besser so. Aber jetzt mochte ich wissen, wie du den Jungen und seine Begleiter aufzugreifen gedenkst.«

»Stell mir ein Dekret aus, das mir freie Verfugungsgewalt gibt und die Moglichkeit, ein Kopfgeld auf den Jungen auszusetzen«, erwiderte Wulfila. »Sie konnen uns nicht entkommen. Eine Karawane wie die ihre fallt fruher oder spater auf; sie konnen sich ja nicht ewig verstecken, irgendwann mussen sie sich neuen Proviant beschaffen, eine Unterkunft fur die Nacht suchen - die Jahreszeit, in der man unter freiem Himmel schlafen kann, ist vorbei.«

»Aber du wei?t ja nicht mal, in welche Richtung sie gezogen sind.«

»Ich vermute nach Norden - die Ostroute ist ihnen nun ja verwehrt, und wo konnten sie sonst hinwollen? Nein, sie werden mit allen Mitteln versuchen, Italien zu verlassen. Und Schiffe fahren jetzt, im Herbst, auch keine mehr.«

Odoaker dachte noch eine Weile schweigend nach, und Wulfila beobachtete ihn dabei, als sahe er ihn zum erstenmal: Was fur eine Veranderung seit ihrer letzten Begegnung! Odoaker hatte jetzt kurzes, gepflegtes Haar, er war frisch rasiert und trug eine langarmeli-ge Leinendalmatika, die auf dem Rucken mit gold- und silber- durchwirkten Streifen verziert war; seine Fu?e steckten in feinen Kalbslederstiefeln, die Stickereien aus roter und gelber Wolle sowie Schnursenkel aus rotem Leder schmuckten. Vor seiner Brust baumelte ein Silbermedaillon mit einem goldenen Kreuz, und silbern war auch der Gurtel aus Tausenden von winzigen Kettengliedern. Am Ringfinger der linken Hand prangte ein Ring mit kostbarer Kamee, und waren nicht die rotblonde Korper- und Kopfbehaarung sowie die Sommersprossen auf Gesicht, Nase und Handen gewesen, so hatte er sich in nichts von einem gro?en romischen Wurdentrager unterschieden.

Odoaker, der wohl merkte, wie Wulfila ihn anstarrte, beschlo?, der peinlichen Musterung ein Ende zu setzen. »Kaiser Zenon hat mich zum romischen Patrizier ernannt«, stellte er fest, »und das gibt mir das Recht, den Namen Flavius vor meinen eigenen Namen zu setzen; au?erdem hat er mich mit einer Generalvollmacht fur die Verwaltung dieses Landes und der angrenzenden Regionen ausgestattet. Ich werde dir also die Dekrete geben, die du verlangst, und angesichts der Tatsache, da? dieser Junge nun keinerlei politische Bedeutung mehr fur uns hat - zumindest was unsere Beziehungen zum Ostreich betrifft - ist es das Beste, du bringst ihn direkt um. Damit ware auch die Gefahr von Unruhen im Volk ein fur allemal gebannt. Ja, stobere ihn auf, bring mir seinen Kopf, verbrenne den Rest und zerstreu seine Asche in alle vier Winde. Der einzige Romulus Augustus oder Augustulus, wie ihn seine falschen Hoflinge spottisch nennen, wird der auf Capri sein - immerdar und fur alle. Was dich betrifft, so kehrst du erst nach Ausfuhrung meines Befehls wieder zuruck. Verfolge diesen Romulus, wenn notig, bis ans Ende der Welt, und wage nicht, ohne seinen Kopf zuruckzukommen, sonst nehme ich mir dafur deinen. Du wei?t, da? ich dazu in der Lage bin.«

Wulfila ging mit keinem Wort auf seine Drohung ein. »Mach die Dekrete fertig, ich breche so bald wie moglich auf«, sagte er, wandte sich ab und ging zur Tur, aber auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um. »Was ist eigentlich aus Antemius geworden?« sagte er.

»Warum fragst du?«

»Weil ich gerne begreifen wurde, woran ich mit diesem Stephanus bin, der hier in Ravenna auf einmal ein so wichtiger Mann zu sein scheint.«

»Stephanus hat die guten Beziehungen zwischen Ost und West wiederhergestellt«, erwiderte Odoaker. »Au?erdem hat er zur Festigung meiner Position in Ravenna beigetragen - eine komplizierte und au?erst heikle Aufgabe, die du noch nicht einmal in Gedanken nachvollziehen konntest. Was Antemius betrifft, so hat er sein verdientes Ende gefunden: Er hat Basiliskos dafur, da? er Romulus beschutzt, einen Stutzpunkt in der Lagune versprochen, au?erdem hat er mit ihm einen Mordplan gegen mich ausgeheckt. Ich habe ihn erdrosseln lassen.«

»Verstehe«, murmelte Wulfila und ging hinaus.

Stephanus traf erst am darauffolgenden Tag in Rimini ein; sein Schiff hatte bei widrigen und sehr gefahrlichen Nordostwinden die Adria hinaufsegeln mussen. Ab diesem Augenblick lie? Wulfila ihn tagaus, tagein beschatten, denn er hatte inzwischen einiges erkannt: erstens, da? Stephanus mindestens so versessen auf dieses sagenhafte Schwert war wie er selbst - weshalb, wu?te er nicht, es hatte aber sicher etwas mit Macht und Geld zu tun, sonst ware er nicht bereit gewesen, so viel dafur zu bezahlen - zweitens war ihm klargeworden, da? Stephanus das Netz von Spitzeln geerbt haben mu?te, das vorher Antemius unterstanden hatte; und drittens, da? er der fahigste und durchtriebenste Mann war, mit dem er es je zu tun gehabt hatte. Es hier, in Ravenna, mit ihm aufzunehmen, ware zwecklos gewesen; dies hatte bedeutet, ihn auf eigenem Boden kampfen zu lassen und aller Wahrscheinlichkeit nach zu verlieren. Da war es schon besser abzuwarten, ob er nicht irgendeinen gewagten Schritt unternahm, wie etwa den, Ravenna zu verlassen. Wenn Wulfila richtig lag, wurde das schon sehr bald geschehen; dann aber wollte er sich ihm an die Fersen heften, sicher, irgendeine bedeutende Entdeckung zu machen. Unterdessen waren schon einmal Reiter in alle Richtungen ausgeschwarmt und fragten herum, ob irgendwer eine Karawane aus sechs, sieben Personen mit einem schwarzen Giganten, einem alten Mann und einem Jungen gesehen hatte.

Aurelius und seine kleine Karawane hatten, kaum da? Wulfilas Manner verschwunden waren, die eigenen Spuren verwischt und den Weg in eine verborgene, kleine Schlucht eingeschlagen. Seither hielten sie sich stets ziemlich hoch an den Berghangen, um die umliegende Gegend besser uberblicken zu konnen. Au?erdem hatten sie sich in drei Gruppen aufgeteilt, die stets mit zirka einer Meile Entfernung voneinander marschierten. Batiatus ging zu Fu?, zur Tarnung war er mit einem langen Kapuzenmantel angetan, der ihn fast vollstandig bedeckte, au?erdem war er allein unterwegs, denn inmitten der anderen Reisegefahrten ware er mit seiner imposante Statur noch mehr aufgefallen. Romulus wanderte zusammen mit Aurelius und Livia, so da? die drei wie eine kleine Familie wirkten, die mit ihrem bescheidenen Reisegepack unterwegs war. Jeder von ihnen trug seine Waffe unter dem Mantel; nur die Schilde waren zu sperrig gewesen und deshalb auf Ambrosinus Maulesel gepackt und unter einer Decke versteckt worden. Er, Ambrosinus, war derjenige, der sich alles ausgedacht hatte, wahrend Livia die Marschroute festgelegt und dabei wieder einmal die Erfahrung eines alten Veteranen bewiesen hatte. Fast uberall lag Schnee, allerdings noch nicht so hoch, da? man nicht mehr durchgekommen ware. Auch die Temperaturen waren noch auszuhalten, und der Himmel war fast immer wolkenbedeckt.

In der ersten Nacht schlugen sie ein notdurftiges Lager auf, indem sie mit ihren Axten Tannenzweige abhackten und im Schutze eines Felsen eine Art Hutte damit bauten. Feuer entfachten sie erst wieder, als sie ganz sicher waren, den Feind nicht mehr im Rucken zu haben, und auch dann nur tief im Wald, wo die dichte Vegetation sie schutzte. Am darauffolgenden Tag war der Himmel klar und die Temperaturen strenger; die vom Meer her kommende, feuchtwarme Luft kondensierte an den ersten Anhohen des Apennin und bildete einen dichten Nebelvorhang, der sie vollends allen Blicken von unten entzog. Als sie am Abend des zweiten Marschtages den Rand der Poebene erreichten, galt es zu entscheiden, ob man abstieg und die Ebene durchquerte oder aber weiter dem Bergkamm der Apen-ninen folgte, was nach Westen gefuhrt hatte. Letzteres ware bei weitem der leichtere und moglicherweise auch der bequemere Weg gewesen, doch er beinhaltete den Kustenabschnitt zwischen Ligurien und Gallien, wo sie womoglich auf Garnisonen Odoakers stie?en, die nur auf sie warteten. Andererseits konnte nicht ausgeschlossen werden, da? Wulfila samtliche Gebirgspasse von einem Krieger bewachen lie?, einem der Dutzenden von Mannern, die Romulus und seinen Erzieher bestens kannten, weil sie die beiden wahrend einiger Wochen Gefangenschaft auf Capri erlebt hatten. Die Landkarte, die Ambrosinus in der mansio in Fano in kluger Voraussicht abgezeichnet hatte, erwies sich nun als au?erst wertvoll. Mit Einbruch der Nacht versammelte sich die kleine Reisegesellschaft ums Lagerfeuer, um die Marschroute und alles Weitere zu besprechen.

»Ich wurde davon abraten, schon jetzt in die Ebene hinabzusteigen und die Emilia-Romagna zu durchqueren«, sagte Ambrosinus. »Wir waren zu nahe an Ravenna und konnten einem von Odoakers Spitzeln in

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