sterben sehen, wie viele Stadte und Dorfer niedergebrannt und dem Erdboden gleichgemacht, wie viele Frauen vergewaltigt? Und du wagst immer noch zu glauben, in dieser Welt sei Platz fur diese Art von Gefuhlen?«

»Vor nicht allzu langer Zeit warst du da noch anderer Meinung. Wenn du von deiner Stadt erzahlt hast, wenn du Romulus auf deinem Pferd an dich gedruckt und mit deinem Mantel gewarmt hast.«

»Das war eine vollig andere Situation - unsere Mission war so gut wie erfullt; der Junge ging einem Ort entgegen, an dem er mit allem Respekt und Zuvorkommen behandelt worden ware, ihr hattet euer Geld bekommen und ich auch. Einen Moment lang sah alles ganz rosig aus.«

»War das alles?«

»Nein, ich stand auch kurz davor, den Mann wiederzufinden, den ich seit Jahren suche.«

»Aber dieser Mann hat sich nicht finden lassen, stimmt's?«

»Stimmt - aus Angst, aus Feigheit ... keine Ahnung.«

»Denk, was du willst, Livia. Ich kann nicht in die Rolle eines anderen schlupfen - ich bin nicht der Held, den du suchst, und auch nicht der Schauspieler, der in der Lage ware, ihn zu mimen. Ich halte mich fur einen einigerma?en tuchtigen Krieger, weiter nichts, und davon gibt es derzeit viele. Du suchst jemanden oder etwas, das du in der Nacht deiner Flucht aus Aquileia verloren hast. Der junge Soldat, der deiner Mutter auf dem Boot seinen Platz angeboten hat, stellt die Wurzel dar, die dir abgerissen wurde, als du noch ein Kind warst. In jener Nacht ist etwas in deinem Innern verwelkt, das bis heute nicht wieder aufbluhen konnte. Als du mir begegnet bist, einem Unbekannten, einem verwundeten Legionar, der im Sumpf von Ravenna vor einer Horde Barbaren fluchtete, dachtest du plotzlich, ich sei dieser Soldat, ein Gespenst, aber dem ist nicht so. Es war lediglich die Wiederholung einer ahnlichen Situation, die eine Kette von Assoziationen bei dir ausgelost hat: der Legionar, die Barbaren, das Boot, der Sumpf ... So etwas kommt vor, Livia, wie in unseren Traumen, verstehst du? Wie in unseren Traumen.«

Er sah ihr in die Augen, sie waren tranenna?, so sehr sie auch versuchte, sich zu beherrschen. »Was hast du erwartet?« fuhr Aurelius fort. »Da? ich dir in deine Lagunenstadt folgen wurde? Da? ich dir helfen wurde, das untergegangene Aquileia wiederauferstehen zu lassen? Ja, das ware vielleicht eine Moglichkeit gewesen. Fur einen Mann in meiner Lage, fur einen, der alles verloren hat, selbst die Erinnerung, ist alles moglich und alles unmoglich. Mir ist nichts geblieben als mein Wort, mein romisches Ehrenwort - etwas total Veraltetes, ich wei?, etwas, das nur noch in den Geschichtsbuchern existiert, und doch ein Rettungsanker fur jemanden wie mich, ein Bezugspunkt, wenn du so mochtest. Und dieses Ehrenwort habe ich einem Sterbenden gegeben. Ich habe ihm versprochen, seinen Sohn zu retten, mir eingeredet, da? ich dieses Versprechen bereits mit einem einzigen Versuch einlosen wurde, auch wenn er fehlschlug -vergeblich. Meine Worte klingen mir heute noch im Ohr, ich kann mich nicht davon befreien. Deshalb bin ich dir nach Miseno gefolgt, deshalb werde ich nicht von Romulus' Seite weichen, bis er irgendwo in Sicherheit ist - in Britannien, am Ende der Welt, wo auch immer ...«

»Und ich?« fragte Livia. »Was stelle ich fur dich dar? Gar nichts?«

»Oh, doch«, erwiderte Aurelius. »Du stellst all das dar, was ich nie werde erlangen konnen, das ewig Unerreichbare.«

Livia warf ihm einen zornigen Blick zu, aus dem enttauschte und gekrankte Leidenschaft sprach, ohne jedoch etwas zu sagen. Dann ging sie, um ihren Aufbruch vorzubereiten.

Irgendwann kam Ambrosinus zu ihr, das kleine Pergament mit der Karte in Handen. »Hier«, sagte er und reichte es ihr. »Ich hoffe, du wirst keinen Gebrauch davon machen mussen, und wir sehen dich morgen abend wieder.«

»Das hoffe ich auch«, erwiderte Livia.

»Vielleicht ware dieser Abstecher gar nicht notig ...«

»Doch«, erwiderte die junge Frau, »er ist notig. Stell dir blo? vor, ein Pferd wurde lahmen oder einer von uns krank werden, oder wir mu?ten ein Schiff nehmen. Mit Geld kommen wir viel reibungsloser und schneller voran. Andere um Hilfe bitten zu mussen, wurde bedeuten, offentlich in Erscheinung zu treten und womoglich erkannt zu werden ... Nein, Ambrosinus, keine Angst, ich komme zuruck.«

»Dessen bin ich mir sicher. Aber bis zu diesem Moment werden wir alle in Sorge sein. Besonders Aurelius ...«

Livia senkte den Kopf, ohne ihm eine Antwort zu geben.

»Versuch, ein wenig zu schlafen«, sagte Ambrosinus und ging.

Livia erwachte vor Sonnenaufgang, machte das Pferd fertig, nahm ihre Waffen und die Decke und schwang sich in den Sattel.

»Sei vorsichtig, bitte«, horte sie Aurelius' Stimme hinter sich sagen.

»Ja, sicher, keine Sorge«, erwiderte sie.

Aurelius zog sie zu sich herunter und gab ihr einen Ku?. Livia umschlang ihn einen Moment lang innig, dann richtete sie sich wieder auf. »Pa? du auch auf dich auf«, sagte sie, gab ihrem Pferd die Sporen und sprengte davon. Zunachst ritt sie quer durch den Wald, bis sie ins Flu?tal des Ariminus kam, dort folgte sie mehrere Stunden dem Wasserlauf, gewi?, da? er sie fruher oder spater ans Ziel bringen wurde. Am Himmel turmten sich neuerlich dicke, schwarze Wolken auf, die der Wind vom Meer herantrieb, und wenig spater begann es zu regnen. Livia bedeckte sich, so gut es ging, und ritt einen einsamen Pfad entlang, auf dem ihr nur wenige, eilig voruberhuschende Menschen begegneten, meist Bauern oder Knechte auf dem Weg zur Arbeit, die wie sie vom schlechten Wetter uberrascht worden waren.

Als am spaten Nachmittag in der Ferne Rimini vor ihr auftauchte, bog sie nach Suden ab und lie? die Stadt links von sich liegen. Sie konnte die Stadtmauer sehen und ganz weit hinten den oberen Teil des halbverfallenen Amphitheaters. Stephanus' Villa erblickte sie erst nach Uberquerung der Via Flaminia, deren Basaltpflaster schwarz im Regen glanzte. Mit den beiden kleinen Turmen rechts und links vom Eingangstor und dem Wehrgang oben auf der Ringmauer, erinnerte sie an eine Festung. Bewaffnete Manner bewachten den Eingang und schritten die Mauer ab. Livia hatte Bedenken, sich am Haupttor zu prasentieren, sie wollte nicht auffallen. Also machte sie einen gro?en Bogen um das Gebaude und wartete, bis sie aus einem Dienstboteneingang bei den Stallungen einen Knecht heraustreten sah.

»Dein Herr, Stephanus, ist er zu Hause?« fragte sie den Mann, indem sie sich vor ihn stellte.

»Warum willst du das wissen?« fragte der Mann murrisch. »Geh zum Eingangstor und la? dich anmelden.«

»Wenn er daheim ist, sag ihm, da? der Freund, den er vor zwei Tagen in Fano getroffen hat, hier drau?en steht und ihn sprechen mochte.« Mit diesen Worten zog sie eine der letzten Munzen heraus, die ihr noch geblieben waren, und lie? sie dem Mann in die Hand gleiten.

Der Knecht betrachtete die Munze, dann Livia, die vor Regen troff. »Warte er«, meinte er und verschwand wieder im Inneren des Hauses. Wenig spater erschien er in aller Eile und sagte nur: »Komm rein, schnell.« Darauf band er selbst ihr Pferd an einem Ring fest, der unter einem Vordach in die Wand eingelassen war, und ging ihr voraus. Ein langer Korridor fuhrte sie tief in die Villa hinein, bis der Knecht sie irgendwann vor einer verschlossenen Tur stehen lie?. Livia klopfte behutsam an, und da wurde die Klinke auch schon heruntergedruckt, und vor ihr stand Stephanus. »Endlich!« rief er aus. »Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, dich noch einmal lebend wiederzusehen. Aber komm doch rein, trockne dich ab, du bist ja vollig durchna?t.«

Livia betrat einen gro?en Raum, in dessen Mitte ein behagliches Feuer knisterte. Wahrend sie sich davorstellte, um sich aufzuwarmen, rief Stephanus zwei Magde herein. »Kummert euch um meinen Gast«, befahl er ihnen. »Bereitet ihr ein Bad vor und gebt ihr frische Kleider, schnell.«

Livia versuchte, ihn zu bremsen. »Ich habe keine Zeit, ich dachte, es ist besser, wenn ich gleich wieder aufbreche, ich will nichts riskieren.«

»Kommt nicht in Frage. Du bist in einem erbarmlichen Zustand und brauchst dringend ein hei?es Bad. Und danach strecken wir beide uns vor einer reich gedeckten Tafel aus. Es gibt viel zu bereden, aber erst mal erzahlst du mir ausfuhrlich, was in den letzten Tagen passiert ist und wie ich dir helfen kann.«

Livia fuhlte die wohlige Warme des Feuers im Gesicht und auf den Handen, und spurte auf einmal die ganze Anstrengung der vergangenen Tage auf sich lasten. Ein hei?es Bad und ein warmes Platzchen erschienen ihr in diesem Augenblick als das Paradies auf Erden, und so nickte sie und sagte: »Gut, ich nehme ein Bad und esse etwas, aber dann mu? ich weiter.«

Stephanus lachelte. »So ist es recht. Folge den beiden Frauen, sie werden sich deiner annehmen.«

Livia wurde in einen offenen Saal gefuhrt, der mit antiken Mosaiken geschmuckt war und nach kostbaren Essenzen duftete. Aus einem gro?en Marmorbecken, das in den Fu?boden eingelassen und randvoll mit hei?em

Вы читаете Die letzte Legion
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату