Schnee! Nein, diesmal konnte es sie wirklich Kopf und Kragen kosten. Zum erstenmal in ihrem Leben wurde sie von Panik gepackt, von der Angst, mutterseelenallein irgendwo zu sterben, elend im Schlamm zugrunde zu gehen; sie sah ihren leblosen Korper bereits von den Fluten ins Tal gerissen und dort, im Strudel truber Wassermassen, gegen kantige Felsbrocken geschleudert. Nein, das durfte nicht geschehen, sie mu?te sich zusammennehmen, ihre letzten Kraftreserven anzapfen, um wenigstens so nah wie moglich an das Dorf heranzukommen, das sie am Vortag aus dem Nebel hatte ragen sehen. Livia sichtete es bei Einbruch der Dammerung, als sich der Regen endgultig in eisigen Schneeregen verwandelt hatte, der ihr messerscharf ins Gesicht schnitt. Sie lie? sich vom schwachen Lichtschimmer der Hutten leiten, die zwischen Waldrand und Viehweiden zerstreut lagen, und kam irgendwann an eine Hangebrucke aus Baumstammen und Asten, die uber die brodelnden Wassermassen des gelblich schaumenden Sturzbachs fuhrte. Ihr Pferd scheute, und Livia mu?te ihm die Augen verbinden, bevor sie es Schritt um Schritt uber die entsetzlich schwankende Brucke zerren konnte. Als sie das Dorf endlich erreichte, war es bereits dunkel; mit letzter Kraft schleppte sie sich die holprige Dorfstra?e entlang, bis sie vor Erschopfung zusammenbrach und in den Schlamm sank. Sie horte einen Hund bellen und irgendwelche Stimmen, spurte, wie sie aufgehoben und in einen Raum getragen wurde, fuhlte die Warme eines Kaminfeuers. Dann wurde es Nacht um sie.

Aurelius und die anderen Gefahrten warteten lange, bevor sie sich entschlossen, das behelfsma?ige Wetterschutzdach, das sie errichtet hatten, zu verlassen. Sie warteten den ganzen Tag und die ganze darauffolgende Nacht, aber dann mu?ten sie eine Entscheidung treffen. Livia hatte auf ihrem Ruckweg bestimmt Hindernisse aller Art angetroffen. »Wenn wir jetzt nicht aufbrechen, werden wir verhungern oder erfrieren«, sagte Ambrosinus mit einem Seitenblick auf Romulus, der in seine Decke gehullt, bla? vor Mudigkeit und Hunger, auf der Erde hockte. »Wir haben keine andere Wahl.«

»Das denke ich auch«, erwiderte Vatrenus. »Wir mussen los, solange die Beine uns noch tragen. Wir konnen nicht warten, bis wir gezwungen sind, unsere Pferde zu schlachten, um etwas zu essen zu haben. Au?erdem konnen wir nicht ausschlie?en, da? Livia in ihre Lagunenstadt zuruckgekehrt ist, nachdem sie vergeblich versucht hat, zu uns zu gelangen.«

»Wer wurde es ihr verubeln?«, meinte Ambrosinus nachdenklich. »Dies ist nicht mehr ihre Mission, ihre Reise. Sie hat eine Heimat, vielleicht sogar noch Angehorige.« Er sah Aurelius an, als lese er in seinen Gedanken. »Ich glaube, wir werden sie alle sehr vermissen. Sie ist eine gro?artige Frau, den beruhmtesten Heldinnen der Vergangenheit ebenburtig.«

»Kein Zweifel«, pflichtete Vatrenus ihm bei. »Und einer von uns wird sie noch mehr vermissen als die anderen. Warum gehst du nicht zu ihr, Aurelius? Warum suchst du sie nicht in ihrem Schlupfloch an der Lagune auf, solange noch Zeit dazu ist? Vielleicht wartet sie darauf, vielleicht mochte sie dich zu einer Entscheidung zwingen, die du andernfalls niemals fallen wurdest. Den Jungen konnen wir auch ohne dich beschutzen, und fruher oder spater treiben wir dich schon wieder auf - so viele Stadte uber dem Wasser wird es ja wohl nicht geben, mir scheint sogar, das ist die einzige. Wenn wir uns wiedertreffen, wird gro? gefeiert, und sollten wir uns nicht wiedersehen, scheint mir dies der beste Abschied - ein Abschied unter echten Freunden, die nie vergessen, was sie gemeinsam erlebt haben.«

»Hor auf mit dem Unsinn«, erwiderte Aurelius schroff. »Ich habe euch in diese Sache hineingezogen und kenne meine Pflichten. Und jetzt los! Wir haben einen langen Marsch vor uns und mussen so schnell wie moglich vorwartskommen - jeder verlorene Tag macht die Uberquerung der Alpen nur noch schwerer und gefahrlicher.« Mehr sagte er nicht, denn im Grunde war er todunglucklich und hatte alles darum gegeben, die Frau, die er liebte, auch nur einen Augenblick wiedersehen zu durfen. Romulus wurde, in Decken gewickelt, auf eins der Pferde gesetzt, die anderen gingen zu Fu?. Auf holperigen Pfaden kampften sie sich durch wilde, vollig einsame Gegenden, wahrend vom Himmel dicke Flocken fielen.

Als Livia viele Stunden spater die Augen aufschlug, fand sie sich in einer Hutte wieder, die nur schwach vom Schein einer Talgkerze und vom Feuer der Kochstelle erhellt wurde. Eine Frau und ein Mann undefinierbaren Alters beaugten sie neugierig; als sie sahen, da? sie erwacht war, schopfte die Frau aus dem Kessel, der an einer Kette uber dem Feuer hing, etwas Gemusesuppe in eine Schale und reichte sie ihr zusammen mit einem Stuck steinharten Brots. Es war nicht mehr als eine dunne Rubensuppe, aber Livia fuhlte sich allein beim Anblick der dampfenden Schussel gestarkt. Sie tauchte das Brot ein und begann gierig zu essen.

»Wer bist du?« fragte der Mann nach einer Weile. »Was treibt dich bei diesem Wetter hier herauf? In unser Dorf kommt sonst nie jemand.«

»Ich war mit meiner Familie unterwegs und habe im Unwetter den Anschlu? verloren und mich verirrt. Sie warten auf der Lichtung vor dem Pa? auf mich. Konnt ihr mich vielleicht dorthin begleiten, damit ich mich nicht noch einmal verlaufe?«

»Zum Pa??« sagte der Mann. »Den Weg gibt es nicht mehr - er ist verschuttet und vom Wasser mitgerissen worden. Au?erdem schneit es jetzt, sich nur raus.«

»Gibt es denn keine andere Moglichkeit, dort hinaufzukommen? Ich mu? unbedingt zu meinen Angehorigen sto?en - sie machen sich bestimmt gro?e Sorgen und denken womoglich, ich sei tot. Helft mir doch, ich flehe euch an.«

»Das wurden wir gerne tun«, sagte die Frau. »Wir sind gottesfurchtige Christenleute, aber es ist wirklich nicht moglich. Unsere beiden Sohne, die gestern versuchen wollten, das Vieh vom Berg zu holen, sind bis jetzt nicht zuruck - wahrscheinlich sitzen sie irgendwo fest. Auch wir sind in Sorge, aber wir konnen nur warten.«

»Dann steige ich ins Tal ab«, sagte Livia. »Irgendwo werde ich sie in den nachsten Tagen schon wieder treffen.«

»Warum wartest du nicht, bis es aufgehort hat zu schneien?« meinte der Mann. »Du kannst noch einen Tag bei uns bleiben, wenn du mochtest. Wir sind arme Leute, aber wir beherbergen dich gerne.«

»Ich danke euch«, erwiderte Livia, »aber es drangt mich wirklich, meine Lieben wiederzufinden. Moge Gott euch vergelten, was ihr fur mich getan habt. Lebt wohl und betet fur mich.« Mit diesen Worten warf sie sich den Mantel uber die Schulter und ging hinaus.

Unter gro?er Muhe kletterte sie die steilen Berghange ins Tal hinunter. Stellen, die ihr besonders gefahrlich vorkamen tastete sie zuerst selbst mit den Fu?en ab, um Sturze und Ausrutscher ihres Pferdes zu vermeiden. Als sie endlich im Tal war, stieg sie auf und ritt einen Weg entlang, der parallel zur Via Emilia verlief, aber etwas hoher lag und deshalb nicht uberschwemmt war. Wahrend das Pferd langsam vor sich hintrottete, malte sie sich aus, was ihre Gefahrten gedacht haben mochten, als sie merkten, da? sie nicht zuruckkam, was Aurelius wohl gedacht hatte. Ahnten sie, da? das Wetter sie an der Ruckkehr gehindert hatte, oder fuhlten sie sich von ihr im Stich gelassen? Und wie konnten sie ihren Weg fortsetzen, ganz ohne Geld und mit dem wenigen Proviant, der ihnen blieb?

Livia ritt drei Tage ohne Rast durch; nachts schlief sie in Heuschobern oder Hutten, die die Bauern in Sommernachten benutzten, um ihre Ernte zu bewachen. Sie war zu der Einsicht gelangt, da? die einzige Moglichkeit, ihre Gefahrten wiederzutreffen, darin bestand, da? sie ihnen zu irgendeinem Punkt vorauseilte, an dem sie ganz bestimmt voruberkommen wurden, und einen solchen Punkt glaubte sie, auf Ambrosinus Karte ausgemacht zu haben; er war mit einem kleinen Kreuz gekennzeichnet und konnte eine Brucke oder eine Fahre uber den Flu? Trebia bedeuten, jedenfalls irgendeine Art von obligatorischem Ubergang, wie ihr schien. Wahrend sie die Marschroute der anderen immer und immer wieder im Kopf uberschlagen hatte, war sie schlie?lich zu der festen Uberzeugung gekommen, da? sie Aurelius und die Seinen an dieser Stelle wiedertreffen mu?te. Sie selbst wurde sie, wenn alles gutging, noch an diesem Abend nach Einbruch der Dammerung erreichen. Die Sehnsucht nach den Gefahrten war so gro?, da? sie ihr Pferd ungewollt in Galopp verfallen lie?, und erst als sie merkte, da? es aus dem Rhythmus geriet und immer kurzer und abgehackter atmete, zugel-te sie es und setzte den Ritt im Schrittempo fort, um das Tier zu schonen. In die Dunkelheit der langen Winternacht gehullt, ritten sie nun langsam durch die nebelige Landschaft mit ihren schwarzen Baumskeletten; hin und wieder zerri? das Heulen eines streunenden Hundes die Stille. Livia hielt erst inne, als sie vor Mudigkeit beinahe vom Pferd kippte: ein schwacher Lichtschimmer - der einzige weit und breit - zog sie an wie einen Nachtfalter. Als sie sich ihm naherte, schlug ein Hund an, aber Livia achtete nicht auf sein wutendes Gebell. Sie war hungrig und am Rande der Erschopfung; die feuchte Kalte hatte ihre Glieder taub gemacht, jede Bewegung kostete sie Anstrengung und Schmerz. Der erspahte Lichtschimmer kam von einer Laterne, die an einem baufalligen Wirtshaus mit der Aufschrift Ad pontem Trebiae baumelte.

Den Angaben des rostigen Schilds entgegen gab es keine Brucke, bestenfalls eine Fahre, aber das Tosen des Flusses war auch hier laut genug, um zu begreifen, da? es weiter nordlich mit Sicherheit keine andere

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