bringen und wie Jagdwild hetzen wurden.
XXV
Livia hatte zunachst gehofft, die obligatorische Uberquerung des Po's biete ihr eine zweite Gelegenheit, die Gefahrten wiederzutreffen, gesetzt den Fall, da? diese die Uberfahrt auf einer der wenigen noch funktionstuchtigen Seilfahren wie der an der Trebia geschafft hatten. Die antiken Schiffsbrucken - einst sichere Wege uber den Flu? und Verbindungsglieder mit den wichtigsten Verkehrsadern wie der Via Postumia und der Via Emilia - waren im Lauf der letzten Jahrzehnte mit ihrer verheerenden Anarchie und den Unruhen nach der Ermordung Flavius Orestes zerstort, die schwimmenden Kahne von den Uferbewohnern gestohlen und als Fracht- oder Fischerboote verwendet worden.
Auf ahnliche Weise nahm alles, was einst dazu beigetragen hatte, Stadte und Volker, Berg- und Landbevolkerung, ja die entlegensten Provinzen des Reichs miteinander zu verbinden, nach und nach Schaden, wurde vernachlassigt, geplundert, aufgegeben. Offentliche Einrichtungen wie die
Armes Land! Selbst die gemeinsame Sprache, das Lateinische, das Dutzende von Volkern miteinander verbunden hatte, wurde - in seiner vornehmen Form - nur noch von Flonoratioren, Rhetoren und Geistlichen gesprochen, wahrend es auf Volksebene in Tausende von Dialekten und Untersprachen zerfiel, in denen einerseits wieder die Sprache der Urbevolkerung durchschlug - also jener Menschen, die Italien vor der romischen Eroberung bewohnt hatten - , in denen sich andererseits aber auch ganz neue, teils auf winzige Gegenden beschrankte Sprachgepflogenheiten durchsetzten, die andernorts niemand verstand; auch dies hatte zur Folge, da? die einzelnen Regionen sich immer mehr isolierten und voneinander abschotteten. Die Stadte hatten ihre romische Verwaltung zum Teil beibehalten, viele besa?en immerhin noch ein eigenes Gerichtswesen, manche eine Stadtmauer, die ihnen zumindest erlaubte, sich gegen marodierende Rotten und bewaffnete Banden zur Wehr zu setzen, die landaus, landein ihr Unwesen trieben.
Nicht einmal die ausgedienten Tempel der alten Religion blieben verschont - als Behausungen antiker Damonen verschrien, wurden sie schon seit langem einer nach dem anderen zerstort und abgerissen. Manchmal uberlebten wenigstens ihre Saulen und ihr wertvoller Marmor, indem sie beim Bau christlicher Kirchen wiederverwendet und in neue, nicht weniger prachtvolle Bauwerke eingefugt wurden, wo sie immerhin damit fortfuhren, mit ihrer Schonheit die Glaubigen zu erheben.
Eins stand jedenfalls fest: Das Trennende wurde immer mehr und das Einende immer weniger. Eine Welt fiel zusammen, zerbrach in tausend Scherben, die ziellos auf dem Flu? der Geschichte dahintrieben. Nur die Religion, der christliche Glaube mit seiner Unsterblichkeitsverhei?ung und dem Versprechen grenzenlosen Glucks im Jenseits, schien noch in der Lage, die Menschen zusammenzuhalten, aber auch dies nur an der Oberflache. Tatsachlich verbreiteten sich immer neue Irrlehren, die schlimme, oft blutige Auseinandersetzungen nach sich zogen und dafur sorgten, da? im Namen des alleinigen Gottes, der eigentlich Vater der gesamten Menschheit hatte sein sollen, mit Anathemata und Exkommunikationen nur so um sich geworfen wurde. Ein Gro?teil der Menschen lebte in bitterster Not, einer Not, die ohne den Glauben an ein besseres Leben nach dem - haufig verfruhten - Tode unertraglich gewesen ware.
Derlei Dinge gingen durch Livias Kopf, wahrend sie durch das gro?e Tal des Nordens ritt, wohl wissend, da? sie einiges riskierte, ganz allein, wie sie war, und mit einem so schonen Pferd, das sowohl als Kampfro? als auch als Fleischreserve sehr viel wert war. Sie war deshalb darauf bedacht, alle Listen und Kniffe anzuwenden, die sie bei unzahligen Fluchten, Uberfallen und Hinterhalten zu Lande und zu Wasser gelernt hatte. Nie ware sie auf die Idee gekommen, da? sie beschutzter war denn je, da? unsichtbare Augen sie Tag und Nacht bewachten und da? jeder Schritt von ihr, jede Richtungsanderung umgehend Stephanus gemeldet wurde, der in sicherer Entfernung hinter ihr herritt und jeden direkten Kontakt peinlich vermied. Wenigstens fur den Moment.
Er hatte alles im Griff, so glaubte er. Wie hatte er auch ahnen konnen, da? er seinerseits verfolgt und ausspioniert wurde, und zwar von Mannern, die noch viel gefahrlicher waren als seine Soldner?
Livia ging irgendwann dazu uber, auf der leicht erhoht verlaufenden Uferboschung des Po's entlang zureiten, denn von dieser konnte man uber weite Strecken hinweg das umliegende Land uberblicken und war damit viel sicherer als auf einer Stra?e. Wahrend sie den Blick umherschweifen lie?, uberlegte sie sich, da? es fur ihre Gefahrten eigentlich viel zu gefahrlich gewesen ware, mit der Fahre uber den Flu? zu setzen, wie ihr eigenes Erlebnis mit den Barbaren im Wirtshaus Ad pontem Trebiae ja deutlich gezeigt hatte. Andererseits: Wie hatten sie mit Pferden ohne eine Fahre, also ohne Aufsehen zu erregen, uber den Flu? kommen sollen? Ob sie die Tiere verkauft und am anderen Ufer neue erworben hatten? Dazu ware es notig gewesen, da? Aurelius sich von Juba trennte ...
Ach, es hatte keinen Sinn zu grubeln, im Moment dachte sie besser an sich selbst, und endlich bot sich ihr tatsachlich eine Moglichkeit, nahezu problemlos uber den Flu? zu gelangen: Eine halbe Meile vor ihr lag im seichten Wasser ein gro?er Frachtkahn, mit dem Kies und Sand von einem Ufer ans andere transportiert wurde. Sie handelte einen gunstigen Preis fur die Uberfahrt aus und schaffte ihr Pferd ohne gro?ere Schwierigkeiten an Bord. Langsam begann sie wieder Hoffnung zu schopfen; das Schlimmste schien uberstanden; ab jetzt wurde sie mit Sicherheit um einiges schneller reiten konnen und den Pa? mindestens zwei Tage vor ihren Gefahrten erreichen, sofern nichts dazwischenkam. Sie steuerte also zielstrebig auf Pavia zu, hielt sich aber in respektvoller Entfernung zu der Stadt selbst, da sie dort eine Garnison Odoakers vermutete. Danach ritt sie zum Lago Verbano weiter, wo sie sich einer Maultierkarawane anschlie?en konnte, die mit einer Ladung Getreide und drei Wagen Heu ebenfalls auf dem Weg zum Pa? war. Das Futter war fur die Bauernhofe im Gebirge gedacht, wo Kuhe und Schafe im Stall uberwintern mu?ten. Wie ihr berichtet wurde, trauten sich die Bauern aus Angst vor Uberfallen nicht mehr in die Ebene hinunter.
Die Leute sprachen hier einen ganz anderen Akzent, und auch die Landschaft anderte sich laufend, je hoher sie kamen. Sie lie?en den blaugrunen, in ein tiefes Tal eingebetteten und von bewaldeten Hangen, saftigen Weiden, Weinbergen, ja sogar Olivenbaumen gesaumten See unter sich und stiegen auf steilen Wegen immer hoher hinauf. Zunachst kamen sie noch durch dichte Eichen- und Buchenwalder, spater wurde die Vegetation sparlicher und bestand nur noch aus durren Tannen und Larchen.
Am vierten Tag trennte Livia sich wieder von der Gruppe und folgte gema? den Angaben ihrer kleinen Landkarte allein der schneebedeckten Stra?e, die zum Pa? hinauffuhrte. Die alte Poststation am
»Wer bist du?« fragte die Alte murrisch. »Was willst du?«
Livia streifte ihre Kapuze zuruck und lachelte. »Ich hei?e Irene und war mit meinen Brudern nach Raetien unterwegs. Gestern haben wir uns in einem Schneesturm aus den Augen verloren, aber es war bereits abgemacht, da? wir in einem solchen Fall hier, auf dem Pa?, aufeinander warten. Leider ist die Poststation voller Soldaten, ich bin ein Madchen, ohne Begleitung, du verstehst schon ...«
»Tut mir leid, bei mir kannst du nicht bleiben, und zu essen habe ich auch nichts da«, erwiderte die Frau bereits etwas freundlicher.